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1 Der Herbststurm

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Die klagenden Laute der Kathedralenglocken, die zur Abendandacht läuteten, hallten über die sanft an- und abfallenden, bewaldeten Hügel. Die einzelnen Glockenschläge waren durch das Echo kaum voneinander zu unterscheiden. Als der letzte Schlag vollständig verklungen war, registrierte Daigo, daß der Wind aufgefrischt hatte. Die französischen Türen mit den breiten Säulen und Balken schimmerten dunkelbraun und ächzten unter den Windböen. Daigo beobachtete, wie sich die schweren Gobelinvorhänge zu beiden Seiten der Fenster nervös aufblähten.

Er hatte ein Glas Calvados auf einem niedrigen runden Tisch stehen und machte es sich davor bequem, konnte aber immer noch spüren, daß der Wind stetig an Stärke zunahm, und hörte ihn wieder an den Fenstern rütteln.

Er schaute durch die Fenster des Louis-XIV-Salons auf den Hof des Hotels, die Stechpalmenhecke und die dahinterliegenden, mit Kopfsteinen gepflasterten Straßen des Dorfes und die spitzen Dachgiebel der Häuser, auf Weizenfelder und Weinhügel; auf einer Seite war sogar ein Zipfel des Waldes von Fontainebleau zu erkennen, obwohl es draußen fast dunkel war.

Der Wald von Fontainebleau, südöstlich von Paris, ist für die Schönheit seines Herbstlaubs weithin bekannt. Jetzt waren die meisten Bäume jedoch kahl, und selbst die immergrünen wirkten kalt und trostlos. Kastanien und Linden waren von verblichenem Braun, Tannen, Eiben und Zedern hatten sich zu dunklen Gruppen zusammengedrängt. Die Felder an dem breiten, sanft abfallenden Hang seitlich vom Hotel bestanden nur noch aus trockenen Stoppeln. Die melancholische Szenerie war typisch für einen Winter in Westeuropa.

Im Innenhof des alten Hotels wuchsen drei oder vier Kastanienbäume, und wenn sie auch bis jetzt noch den Großteil ihrer Blätter besaßen, würden sie am nächsten Morgen sicherlich vollkommen kahlgefegt sein, wenn der Wind über Nacht nicht abflaute. Schon jetzt tanzten bei jedem Windstoß unzählige Blätter in der Luft. Auf der laubbedeckten Backsteinveranda im verlassenen Vorhof standen verwaiste weiße Tische und Stühle aus Gußeisen. Im Sommer wurde hier draußen gegessen, aber im Moment war kein Gast dort hinzubewegen.

»Wenn Sie zwei oder drei Tage früher angekommen wären, hätten Sie noch einen wunderschönen Herbst auf der Ile de France miterlebt, aber seit vorgestern ist das Wetter ziemlich eigenartig. Es ist ganz plötzlich kalt geworden, und jede Nacht pfeift ein eisiger Nordostwind. Wir kriegen wohl gerade den Wechsel der Jahreszeiten mit.« Das hatte ein junger Dozent der Pariser Universität vor kurzem auf einem Kolloquium zu Daigo gesagt; er mußte an seine Worte denken, währen der das Aufziehen des Sturms beobachtete. »So ist es immer. Innerhalb von zwei oder drei Tagen ist der Herbst vorbei, und der Winter schlägt zu.« Zum Abschluß hatte er Daigo noch darüber aufgeklärt, daß das Wetter in diesem Jahr ganz besonders unberechenbar und launisch gewesen war.

Wirklich, erst Mitte Oktober, aber in Paris war es so kalt wie in Japan im tiefsten Winter. Daigo hatte bisher nicht die geringste Lust verspürt, nach draußen zu gehen, doch an diesem Tag war ihm in seinem Pullover direkt zu warm geworden, denn es wurde im Verlauf des Tages beinah schwül. Vielleicht war diese überraschende Wärme daran schuld – am Nachmittag jedenfalls hatte er plötzlich den Entschluß gefaßt, hierher nach Barbizon zu fahren, und Paris den Rücken gekehrt. Millet, Corot, Courbet und andere naturalistische Maler des neunzehnten Jahrhunderts hatten die »Schule von Barbizon« gegründet. Sie alle waren ins kleine Dorf Barbizon am Rand des prächtigen Waldes von Fontainebleau gezogen. Daigo war vor zehn Jahren schon einmal kurz hier gewesen, als er seinen Posten an der Universität angetreten hatte, und seither begleitete ihn die Erinnerung an diese Landschaft wie ein melancholischer Schatten.

Eigentlich hatte er im selben Haus wohnen wollen wie damals, einem Bauernhaus wie sie hier überall standen, mit Mittagessen auf der Terrasse, doch er konnte es nicht mehr finden und hatte sich deshalb entschieden, in diesem alten Landsitz zu bleiben, den man zu einem Hotel umgebaut hatte.

Irgendwer hatte den Namen einmal erwähnt – Château Chantal. Es hatte dicke weiße Wände mit schweren, darin eingebetteten Holzbalken. Direkt ans Hotel grenzte ein efeuumranktes Gebäude, das als Restaurant diente, obwohl man im Grunde eher den Eindruck hatte, als wäre das Hotel dem Restaurant angeschlossen. Das altertümliche Hotel und seine Umgebung wirkten wie aus einem Schauerroman, was Daigo ganz besonders gefiel: die düstere, gedrückte Atmosphäre, die Konstruktionen aus Stein und Ziegeln, die runden Schieferdächer, die Weinkeller. Irgendwo tief in diesen Gewölben schlummerte bestimmt ein guter Burgunder. Alles an der altmodischen Atmosphäre des Hotels paßte ausgezeichnet zu der spätherbstlichen Landschaft, wie in einem Gemälde von Rousseau oder Courbet. Es erinnerte ihn stark an Courbets Schloß von Sillon, und Daigo fragte sich unwillkürlich, ob er von diesem Salon aus wohl die Turmspitzen besagten Schlosses sehen konnte. Als er seinen Hals jedoch reckte, um sich zu vergewissern, stellte er fest, daß es draußen so dunkel geworden war, daß ihm die undurchdringliche graue Finsternis jede Sicht versperrte.

Die Farbe des Himmels rührte allerdings weniger von der hereinbrechenden Dämmerung her als von den Sturmwolken, die aufgezogen waren. Normalerweise sah man zu dieser Tageszeit die Sterne am Himmel funkeln, doch heute abend blieben sie unsichtbar. Die dicken, schwarzgrauen Wolken türmten sich mit rasanter Geschwindigkeit übereinander, und plötzlich schlugen die ersten schweren Regentropfen gegen die Fenster. Der Wind gab ein langgezogenes Heulen von sich. Offenbar war das ein normaler, handfester Herbststurm.

Daigo hatte nach dem Essen eigentlich einen Spaziergang machen wollen, verwarf diesen Plan jedoch jetzt angesichts des Unwetters. Er nippte an seinem Calvados und überlegte.

Tja, da kann man nichts machen, dachte er. Außerdem scheint’s ziemlich frisch geworden zu sein.

Er streckte die Beine aus und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Der starke, aromatische Schnaps floß wohltuend durch seine Kehle und erfüllte jeden Zoll seines Körpers mit angenehmer Wärme.

Daigos Tagung war am vergangenen Tag zu Ende gegangen, und er hatte bis zum Abflug seiner Maschine nach Japan am Abend des folgenden Tages nichts mehr zu tun, deshalb wußte er nicht recht, was er mit sich anfangen sollte. Es schien ihm fast, als könne er den Fluß der Zeit verlangsamen, indem er sich in diesem alten Hotel vergrub, und dadurch die bevorstehende Rückkehr nach Hause hinauszögern. Wieder in Japan, würde er in seinen normalen Alltagstrott zurückgeworfen werden und plötzlich wieder die kleinen Verletzungen und Enttäuschungen des Berufslebens zu spüren bekommen. Der Gedanke deprimierte ihn. In seiner gegenwärtigen Umgebung schien er imstande, solch profane Dinge zu vergessen – wenigstens für den Augenblick.

Dabei gab es sogar einige wichtige Dinge, die er sich während seines Aufenthalts hier durch den Kopf gehen lassen und die betreffend er Entscheidungen fällen sollte. Vielleicht war der Calvados daran schuld, daß seine Gedanken immer wieder abschweiften.

Regen und Wind wurden immer heftiger, die Fenster klapperten mittlerweile kontinuierlich. Draußen war es jetzt stockfinster. Der Sturm lärmte mit einer gewissen Übertriebenheit, die an die Klangeffekte altmodischer Hörspiele erinnerte.

Es war plötzlich kühl im Salon. Daigo setzte sich ein wenig in seinem Sessel auf und ließ seinen vom Alkohol leicht getrübten Blick durch den Raum schweifen. An der Decke hing ein Kronleuchter mit funkelnden Kristallen, der dezentes Licht verströmte; hier drinnen war es im Gegensatz zu dem Aufruhr draußen friedlich und behaglich. Die Wände waren mit Samttapeten verkleidet, den Kamin zierte ein Mosaikmuster. Auf dem Sims thronten ein mittelalterlicher Eisenhelm, eine antike französische Puppe mit weißem Haar und starrem Blick, einige Kerzenleuchter und andere Dekorationsgegenstände; sie wirkten allesamt alt und staubig.

Der Salon war nicht sehr groß, und obwohl es recht muffig roch, glaubte Daigo den schwachen Duft eines teuren Parfums wahrzunehmen.

Wahrscheinlich war dieses Gebäude ursprünglich als Jagdschloß gebaut worden. Daigo versuchte sich vorzustellen, wie es damals gewesen sein mußte, mit einem Feuer im Kamin und dem Gemurmel von Frauen, die unter ihren dreireihigen Perlenketten beinah erstickten. Der Parfumgeruch war stärker geworden, deshalb war er wohl auf das Bild geschmückter Frauen verfallen.

Der Salon lag im ersten Stock und markierte die Grenze zwischen Hotel und Restaurant. Sowohl Hotel- als auch Restaurantgäste hatten freien Zugang. War das Restaurant voll, wartete man hier, bis ein Tisch frei wurde, und da der Salon gleich neben dem Foyer lag, gönnten sich die Gäste nach dem Essen hier oft noch ein bißchen Ruhe. Heute war jedoch zum einen nicht Wochenende, zum anderen schlechtes Wetter, und es schienen sich keine anderen Gäste im Hotel aufzuhalten. Die wenigen, die im Restaurant gegessen hatten, waren offenbar gleich wieder in ihre Wagen gestiegen und nach Hause gefahren.

Ein strahlender Blitz erhellte die Dunkelheit, gefolgt von polterndem Donner, und dann hörte Daigo klar und deutlich, wie jemand im Raum entsetzt nach Luft schnappte. Der Donner war auch ihm durch Mark und Bein gegangen, aber was ihn wirklich erschreckte, war die plötzliche Erkenntnis, daß er nicht allein im Raum war. Als er sich nun genauer umsah, fiel sein Blick auf eine Espressotasse auf einem Tisch in der Nähe des Fensters. Bisher hatte er sie nur als weiteres Stück des Krimskrams gewertet, mit dem der ganze Raum vollgestopft war.

Zwischen Daigo und dem Tisch stand ein mächtiger Ohrensessel. Auf dem Fußboden direkt davor konnte er gerade noch die Spitzen zweier hochhackiger, grauer Schuhe sehen. Offenbar saß eine Frau in diesem Sessel, und offenbar war sie allein, denn außer ihrer befand sich keine weitere Tasse auf dem Tisch, außerdem hatte er bislang keine Unterhaltungsfetzen mitbekommen.

Er reckte neugierig den Hals und erhaschte so einen kurzen Blick auf die Beine, die in den Schuhen steckten – Beine in dunklen Strümpfen. Es waren wunderschöne, lange, schlanke und herrlich feste Beine. Die Art ihrer Schönheit unterschied sie sehr von den typischen Beinen einer Japanerin, dennoch hatte Daigo plötzlich das Gefühl, es mit einer solchen zu tun zu haben. Das lag zum Teil an dem Arm auf der Sessellehne, den er ebenfalls sehen konnte. Der Ärmel ihrer Bluse war mit einem durchsichtigen roten Muster durchbrochen, was ganz dem japanischen Geschmack entsprach.

Es war bestimmt nicht besonders überraschend, in Paris noch anderen Japanern zu begegnen, doch Daigo, mittlerweile von wachsender Neugier befallen, richtete sich vollends in seinem Sessel auf. Er sah langes, kaffeebraunes Haar und einen Teil einer blassen Stirn.

Es blitzte und donnerte wieder, diesmal ganz in der Nähe. Die Frau stöhnte vernehmlich. Daigo ließ sich in seinen Sessel zurücksinken und lächelte vor sich hin. Im ersten Moment hatte ihn ihre Anwesenheit überrascht, ja sogar geärgert, aber jetzt war ihm klar, daß es sich nur um eine harmlose Frau handelte, die sich vor dem Donner fürchtete. Er bemerkte ein Taschenbuch mit japanischem Titel auf dem Einband, das vor ihr auf dem Tischchen lag.

Daigo spielte kurz mit dem Gedanken, ihr ein paar beruhigende Worte auf japanisch zu sagen, besann sich dann aber eines Besseren und erkundigte sich vorsichtig: »Vous êtes Japonaise?«

Nach kurzem Zögern erwiderte eine heisere Frauenstimme: »Oh, Sie sind wohl auch Japaner?«

»Ja, stimmt«, bestätigte Daigo mit gezwungenem Lachen. Sein Französisch war alles andere als fließend und hatte seine japanische Herkunft offenbar gleich verraten. »Nehmen Sie’s mir bitte nicht übel«, fuhr er fort, »ich hab’ gar nicht gemerkt, daß Sie hier sind, als ich reinkam. Waren Sie schon die ganze Zeit über da?«

Daigo konnte ihr Gesicht immer noch nicht sehen und spürte plötzlich den überwältigenden Drang, ihr direkt gegenüberzusitzen. Eigentlich hatte er nur ein bißchen höfliche Konversation mit ihr machen wollen, aber irgendwie brachte ihn die Gegenwart dieser Frau durcheinander; er war verwirrt.

Sie ließ seine Frage offen, doch Daigo wertete ihr Schweigen als Zustimmung.

»Haben Sie schon zu Abend gegessen?« fragte er.

»Ja.«

»Sind Sie allein unterwegs?«

Sie gab keine Antwort, aber sie leugnete es auch nicht.

»Das Restaurant hier ist für seine Escargots und sein Hühnchen berühmt. Das coq au vin ist ganz besonders gut.« In Rotwein gekochtes Huhn gehört zu den Klassikern der Burgunder-Küche, und das Restaurant Chantal war auf diese Spezialität sehr stolz.

»Mir hat der Schinken am besten geschmeckt«, sagte sie.

»Ja genau, das ist auch eine der Spezialitäten, Schinken mit grünem Schimmelrand. Und dann die ganzen Käsesorten ...«

Daigo rief sich sein Abendessen in Erinnerung. Nach dem Salat hatte man ihm eine Riesenauswahl Käse gebracht, mindestens zehn verschiedene, die so einladend aussahen, daß er noch einmal kräftig zugelangt hatte, obwohl er im Grunde längst satt gewesen war. Nachdem er sie vertilgt hatte, brachte er auch nicht mehr den kleinsten Bissen der Apfeltorte hinunter, die zum Abschluß noch als Dessert serviert wurde.

»Man soll ja Qualität und Niveau eines französischen Restaurants an der Käseplatte erkennen können.« Ihre Stimme klang zunehmend freundlicher.

Das Thema Essen schien die Atmosphäre aufgelockert zu haben. Die Frau befand sich ohne Zweifel nicht in Begleitung, und außer ihnen beiden hielt sich niemand sonst im Salon auf. Daigo war, als würde ihm eine Zentnerlast von der Brust genommen. Er beugte sich vor.

»Ich muß schon sagen, Sie haben mir einen ganz schönen Schreck eingejagt. Ich hatte keine Ahnung von Ihrer Anwesenheit, Sie waren so still.«

»Und ich hab’ gar nicht gemerkt, daß jemand reingekommen ist. Ich war völlig mit meinem Buch beschäftigt. Sie haben sich anscheinend alle Mühe gegeben, mucksmäuschenstill zu sein.« Ein neckender Unterton hatte sich in ihre Stimme geschlichen.

»Ich habe es nicht darauf angelegt, keinen Laut von mir zu geben. Ich war einfach in Gedanken versunken«, erklärte Daigo ein wenig selbstgerecht. Da sie nicht reagierte, fuhr er fort: »Ich versuchte mich zu erinnern, wo ich den Namen Château Chantal schon mal gehört habe. Können Sie mir da vielleicht helfen?«

»Vielleicht haben Sie’s bei Maupassant gelesen.«

»Ja, genau. Sie haben recht. Mademoiselle Pearl.«

»Pearl war eine Waise, die von der Familie Chantal aufgenommen und wie eins ihrer eigenen Kinder aufgezogen wurde.«

»Richtig. Jetzt fällt’s mir auch wieder ein.«

Man hatte Pearl in einer verschneiten Winternacht auf der Türschwelle der Chantals gefunden. Obwohl sie sich in deren dritten Sohn verliebte, behielt sie ihre Gefühle für sich und ließ zu, daß man eine andere Eheschließung für ihn arrangierte. Dann, eines Nachts viele Jahre später, wurden ihre wahren Gefühle durch einen gemeinsamen Freund enthüllt. Daraufhin verkündete sie: »Ich fühle mich trunken, leichtfertig, ich weiß plötzlich, was es heißt, heilig zu sein.« An diese Worte hatte er während seiner studentischen Saufgelage oft denken müssen.

Er entsann sich seiner Betrachtungen über Perlenketten vor wenigen Minuten und fragte sich, ob es sich dabei vielleicht um eine unbewußte Assoziation zwischen diesem Ort und Maupassants Geschichte gehandelt hatte. Daigo nippte an seinem Calvados und fühlte sich in Hochstimmung. Er empfand eine starke Vertrautheit mit dieser Frau, obwohl er bisher nicht einmal ihr Gesicht gesehen hatte.

»Sind Sie auch nur hierhergekommen, um sich Barbizon anzusehen?«

»Ja. Aber als ich gestern in Paris eintraf, hatte ich plötzlich Halsschmerzen, als ob eine Erkältung im Anzug wäre, und ich bin lieber im Hotel geblieben.«

»Sie wohnen also in Paris?«

»Ja.«

»Sieht ganz so aus, als ob Sie einige Schwierigkeiten haben werden, heute abend noch dahin zurückzukommen.«

»Ich bin mit dem Wagen hier. Aber bei dem Regen sollte ich wohl noch mit dem Aufbruch warten.« Sie schien nichts dagegen zu haben, die Unterhaltung mit Daigo fortzusetzen.

Daigo bewaffnete sich mit einem Glas und stand auf. Es war nur natürlich, daß er sich bei diesem Stand der Dinge dafür interessierte, wie die Dame aussah. Er wollte zu ihr hinübergehen, und als er gerade einen Schritt gemacht hatte, erscholl ein wirklich ohrenbetäubendes Donnern. Im selben Moment gingen die Lampen im Salon aus, und sie waren in undurchdringliche Finsternis gehüllt. Das Echo des Donners hallte durch den stockfinsteren Raum.

Daigo blieb einen Augenblick verwirrt stehen, setzte dann seinen Marsch über den Teppich fort. Der Stromausfall betraf offenbar die gesamte Nachbarschaft; nicht der geringste Lichtschein drang aus den Häusern. Daigo konnte nicht einmal mehr die Umrisse der Möbel erkennen.

Nach vorsichtigem Vortasten gelang es ihm schließlich, sich in einem vermeintlich schräg vor der Frau stehenden Sessel niederzulassen. Wie sich herausstellte, war er ihr jedoch beträchtlich näher als erwartet. Ihr bisher nur schwach wahrnehmbares Parfum überwältigte ihn fast. Er spürte ihren warmen Atem an seiner Wange. Sie strömte eine Aura bittersüßer Melancholie aus, die ihm merkwürdig kultiviert vorkam. Nachdem er auf einem Tisch eine Abstellmöglichkeit für sein Glas gefunden hatte, streckte er eine Hand aus, um ihr sanft über den Arm zu streichen. Der schmale Arm unter dem dünnen Blusenstoff zitterte.

»Hab’ ich einen Schreck bekommen«, murmelte er, doch in seiner Stimme lag ein Nachdruck, der ihn selbst erstaunte. »Vielleicht weil die Lichter so plötzlich ausgegangen sind ... Nein – ich hab’s schon vorhin gespürt, als ich mit Ihnen sprach, mit einer Frau, die mir vollkommen fremd ist. Unser Zusammentreffen kam mir irgendwie unheimlich vor, als ob etwas Seltsames geschehen würde.«

»In einem seiner Bücher schreibt Maupassant, er würde sich am liebsten über Wasser, Zufallsbekanntschaften und Pessimismus auslassen.«

»Pessimismus?« Das Wort rief ein ungutes Gefühl tief in Daigos Herzen wach. Er hatte in seinem Leben immer drei Ziele verfolgt. Eins davon war, seinen Namen, seine Integrität und den Frieden innerhalb der Familie zu wahren, aber zugleich steckte auch der Wunsch in ihm, etwas Heldenhaftes zu vollbringen, und schließlich verspürte er von Zeit zu Zeit einen vagen, metaphysischen Drang, der ihn auf die Suche nach dem Reinen und Grenzenlosen gehen ließ. Bisher war es ihm stets gelungen, diese drei Antriebskräfte im Gleichgewicht zu halten, doch welche davon ihn auch gerade beherrschte, es schien immer ein Hang zum Pessimismus dahinterzustecken, der offenbar ein Grundzug seines Wesens war.

»Ich würde zu gern wissen, weshalb Optimisten den Pessimismus so beharrlich als negative Eigenschaft werten.«

»Das frage ich mich auch. Vermutlich weil ein Pessimist grundsätzlich das Gefühl hat, eines schönen Tages würde alles um ihn herum zusammenbrechen, und er sich deshalb ständig von einer drohenden Katastrophe bedrängt sieht. Irgendwann einmal verliert er dann die Fähigkeit, überhaupt noch an eine positive Wendung der Dinge glauben zu können. Und wenn es erst so weit ist, ist er wie eine Maus, die nur noch Angst hat, daß die Katze sie frißt; er ist unfähig, sich zu entspannen.«

»Hmmm ...« Sie hatte Daigos eigene Empfindungen perfekt in Worte gefaßt. Womöglich befand er sich bereits in diesem Stadium des Pessimismus; besonders wenn ihn eine seiner düsteren Stimmungen überfiel, kam es ihm so vor. Er erlaubte sich niemals, auch nur davon zu träumen, eine andere Person ins Vertrauen zu ziehen und seine Gefühle mit ihr zu teilen. Er hatte nicht einen einzigen engen Freund, mit dem er seine Gedanken und Empfindungen in schlechten Zeiten teilen konnte. Natürlich, da war seine Frau, und die war wirklich ein prima Kerl, aber er betrachtete sie nicht als einen Freund. Und ausgerechnet jetzt schienen seine tiefsten Gefühle aus irgendeinem Grund an die Oberfläche zu kommen, obwohl er sie mit aller Gewalt zu unterdrücken versuchte, und er hatte das Bedürfnis, sie jemandem mitzuteilen. Vielleicht lag es an dem Zusammensein mit einer Fremden, hier, in völliger Finsternis, eine Fremde, deren Duft eine angenehm betäubende Wirkung auf ihn zu haben schien.

Die Gegenwart dieser Frau machte anscheinend einen anderen Menschen aus ihm, oder vielleicht war auch das Gegenteil der Fall – vielleicht fand sein wahres Ich jetzt zum erstenmal einen Weg, sich auszudrücken.

»Ich glaube, wenn jemand in der Lage ist, die dunklen und krankhaften Regungen seines Herzens zu identifizieren und einem anderen gegenüber in Worte zu fassen, sich alles von der Seele zu reden, dann wird aus dem Pessimisten möglicherweise ein Optimist.« Daigo fühlte sich wie berauscht, als er diese Erkenntnis vor sich hin murmelte, doch seine Stimmung war ganz anders als alles, was er bisher im Alkoholrausch erlebt hatte.

»Man wäre wahrscheinlich nicht unwesentlich erleichtert.« Der melancholische Beiklang der vollen Frauenstimme ließ Daigo den Atem anhalten. Er wußte plötzlich, daß auch sie etwas auf dem Herzen hatte, was sie niemandem erzählen konnte.

Was für ein merkwürdiges Gespräch, dachte er und lächelte angesichts seiner mangelnden Zurückhaltung. Wie konnte er dieser jungen, offenbar ziemlich gebildeten und möglicherweise schönen Frau, die allein diese trübsinnigen Spätherbstwochen in Paris verbrachte, nur solche Dinge anvertrauen?

»Verzeihen Sie meine Neugier, aber aus welchem Teil Japans kommen Sie eigentlich?« fragte er sie.

»Ich wohne in Tokio.«

»Allein?«

»Ja.«

»Sind Sie schon lange unterwegs?«

»Heute eine Woche.«

»Und wann wollen Sie nach Japan zurück?«

»Das weiß ich noch nicht genau.« Ihre ruhige Stimme hatte eine melodische, fast nachlässige Färbung.

»Sie scheinen sich ja ziemlich unsicher zu sein, was Ihre weiteren Pläne angeht. Gibt es irgendwelche Probleme?«

»O nein, alles ist bestens.« Ihr Tonfall verleitete Daigo zu dem Verdacht, daß sie sich über ihn oder vielleicht sogar über sich selbst lustig machte.

»Soso. Es ist also alles bestens?«

»Jawohl. Wenn es Sie interessiert, wie bestens alles ist, werde ich es Ihnen vielleicht verraten. Es könnte Sie amüsieren.«

»Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht ganz folgen.«

In diesem Moment klopfte es an die Tür, und ein schwacher Lichtstrahl kroch auf sie zu. Eine schrille Stimme sagte auf französisch: »Der Strom wird noch eine Weile wegbleiben.«

Daigos Französisch war zu schlecht, als daß er jedes Wort verstanden hätte, aber er begriff den Sinn. Das mußte die Besitzerin des Hotels sein, die die Runde machte, um Kerzen zu verteilen. Daigos Gefährtin ließ ihre volle, melancholische Stimme erklingen und sagte auf französisch: »Das macht nichts. Wir brauchen keine Kerze.«

Diese Bemerkung überraschte ihn zuerst, doch dann war ihm plötzlich klar, daß auch er keine Kerze wollte. Die sich zwischen ihnen ausbreitende Dunkelheit schien sie einander näher zu bringen und es irgendwie möglich zu machen, daß sie frei und unumwunden miteinander sprechen konnten.

Bevor der trübe Lichtkreis näher kommen konnte, gab Daigo der Frau einen Wink, sie wieder allein zu lassen. Sie nickte zwei- oder dreimal stumm, drehte sich um und schloß die Tür hinter sich.

Daigo wartete schweigend. Sein Gefühl sagte ihm, daß die geheimnisvolle Fremde die intime Dunkelheit bewahren wollte, um ihm etwas anzuvertrauen.

Das Schweigen hielt eine Weile an, und Daigo, überzeugt, daß sie nach Worten für etwas tief in ihr Vergrabenes suchte, beschloß, ihr auf die Sprünge zu helfen. »Sie sagten gerade, alles sei bestens.«

Sie zögerte, holte tief Luft und sagte: »Es ist schlicht und ergreifend so, daß ich eine gewisse Frau liebend gern umbringen würde.« Ihre Stimme klang vor Anspannung gepreßt, ansonsten schien sie sich jedoch vollkommen in der Hand zu haben. »Dieser Gedanke beherrscht seit zwei Jahren jeden einzelnen meiner wachen Momente. Ich hab’ es bis jetzt noch nicht getan, weil es mir an Mut und Gelegenheit fehlte, aber in nächster Zukunft wird es ganz bestimmt so weit sein.«

Ihre Enthüllung weckte Daigos Sinn für Geheimnisse und machte ihn brennend neugierig. »Warum haben Sie das Gefühl, sie umbringen zu müssen?«

»Sie darf nicht länger leben. Sie ist arrogant, und ihr Herz ist kalt wie Eis. Und nur aus dieser Arroganz und diesem Stolz heraus hat sie vor zwei Jahren einen Menschen getötet. An dem Tag habe ich mir geschworen, sie umzubringen.«

Ihre Stimme war zu einem kaum hörbaren Flüstern geschrumpft, aber Daigo spürte, wie sich die Heftigkeit ihrer Trauer und ihrer Wut auf ihn übertrug.

»Haben Sie diesen Menschen geliebt?«

Statt einer Antwort vernahm er nur ein tiefes Seufzen.

»Hat denn die Polizei nichts gegen diese Frau unternommen?«

»Die Polizei hat eine Routineuntersuchung durchgeführt, konnte jedoch keinen eindeutigen Beweis dafür finden, daß es Mord war. Aber ich weiß es genau.«

»Warum sind Sie dann nicht zur Polizei gegangen und haben gesagt, was Sie wissen?«

»Ach, ich hatte ebenfalls keine Beweise, und sie hätten nie im Leben akzeptiert, daß ich einfach wußte, wer es getan hat, verstehen Sie? Vielleicht hat mich diese Frau ja mit einem Fluch belegt, aber ich schwöre, ich finde keine Ruhe, bevor sie nicht tot ist.«

Jetzt war Daigo an der Reihe, tief Luft zu holen. »Genauso geht’s mir auch«, murmelte er und stieß den Atem wieder aus.

»Wie bitte?« fragte die Frau mit einem Anflug von Mißtrauen.

War es möglich, daß sie die ganze Geschichte nur erfunden hatte? Ausgeschlossen war es nicht, doch selbst wenn sie ihm etwas vorgespielt hatte, er mußte ihr sein eigenes tristes Geheimnis einfach erzählen.

»Mir geht’s ganz genauso. Ich bin mir während Ihrer Geschichte darüber klargeworden. Ich möchte einen bestimmten Mann umbringen; ich habe wieder und wieder davon geträumt. Ich habe aus tiefstem Herzen dafür gebetet, daß er umkommt. Ich weiß genau, daß ich mit meinem Leben nichts mehr anfangen kann, bevor er nicht tot ist.«

»Was ist das für ein Mann?« Ihre Stimme hatte plötzlich wesentlich mehr Nachdruck als beim Erzählen ihrer eigenen Geschichte.

»Er ist Professor an einer Universität. Er arbeitet dort im selben Labor wie ich.«

»Mit anderen Worten, Sie sind Universitätsprofessor?«

»Richtig, und der Betreffende ist mein Boß.«

»Ist er ein schlechter Mensch?«

»Für mich ist er die Inkarnation des Bösen. Ungeheuern wie ihm hat man die Meinung der Leute zu verdanken, Akademiker hätten keinerlei Bezug zur Realität.« Ohne es zu merken, hatte Daigo die Kiefer zusammengepreßt und zu zittern begonnen.

»Was hat er getan?« fragte sie ohne Umschweife.

»Er war, kurz gesagt, in ein Firmenkomplott verwickelt. Er machte bei einem Projekt einen furchtbaren Fehler und versuchte es zu vertuschen. Besagte Firma stellte eine bestimmte Sorte Plätzchen her, die zu der Zeit bei Kindern sehr beliebt war, bis später dann fast zwanzig dieser Kinder Krebs bekamen. Der Großteil der Eltern war arm, sie verlangten natürlich eine Entschädigung. Man kann gar nicht in Worte fassen, wie groß das Elend vieler Kinder und ihrer Eltern war, bis es überhaupt erst rauskam. Als die ganze Sache aufflog, wurde das Produkt selbstverständlich einer Prüfung unterzogen, aber die Leiter dieser Untersuchung arbeiteten Hand in Hand mit dem Unternehmen. Sie stellten einen falschen Bericht aus und machten es der Gesellschaft dadurch möglich, sich der Verantwortung zu entziehen, so daß sie keine Entschädigungen zahlen mußte.«

»Verstehe. Aber weshalb haben die Betroffenen die Analyse nicht von einer anderen Forschergruppe durchführen lassen?«

»Unsere Universität ist die einzige staatliche in diesem Teil des Landes und bei weitem die angesehenste. Sämtliche Professoren für Hygiene an den anderen Universitäten in der Region haben schrecklichen Respekt vor unseren Forscherteams. Abgesehen davon hatten die Opfer nicht die Mittel, die Laborberichte in Tokio oder Osaka anfertigen zu lassen. Man braucht eine Menge Einfluß und Beziehungen, um eine solche Untersuchung in die Wege zu leiten. Die Betroffenen hätten vielleicht etwas erreicht, wenn es ihnen gelungen wäre, die Medien auf die Geschichte anzusetzen, aber der Verantwortliche für die ganze Tragödie hat ausgezeichnete politische Verbindungen, so daß er die ganze Sache im Keim ersticken konnte. Da die Zahl der Opfer nicht allzu groß war, war es sehr schwer, die Wahrheit ans Licht zu bringen.«

Die Frau schwieg.

»Ich hatte deswegen natürlich so manche erbitterte Auseinandersetzung mit dem Professor. Ich wies ihn auf die stark karzinogene Wirkung der Inhaltsstoffe dieser Plätzchen hin. Kaum hatte ich das getan, begann er die ersten Schritte zu unternehmen, um meine Entlassung aus der Universität zu erreichen. Selbst jetzt noch versucht er, mich auf einen Posten an einer hinterwäldlerischen Universität in Alaska abzuschieben. Da es dort nur wenige qualifizierte Forscher gäbe, gab er mir zu verstehen, hätte ich die Möglichkeit, zu einer sehr hohen Position aufzusteigen, aber dieses Angebot war nur ein Deckmantel dafür, daß er mich loswerden wollte. Obwohl allgemein behauptet wird, wir befänden uns auf der Universität in einem sicheren Angestelltenverhältnis, hängen die zukünftigen Karrieren der Jung-Dozenten schwer von der Manipulation der älteren Kollegen ab; das weiß nur niemand.«

Der Sturm schien etwas abzuflauen. Man hatte den Eindruck, als hätte sich das Gewitter erst einmal damit zufriedengegeben, den Strom schachmatt zu setzen, und würde vorerst weiterziehen. Selbst das Trommeln des Regens gegen die Fensterscheiben klang schwächer, und das Kreischen des Windes zog sich in fernere Regionen zurück, was die Stille im Raum noch betonte.

»Es ist unverzeihlich, Kinder wissentlich an Krebs erkranken zu lassen. Einfach schrecklich, sich all die kleinen Kinder mit Krebs vorzustellen«, murmelte die Frau; Tränen liefen ihr übers Gesicht. »Vor fünf Jahren habe ich einem süßen kleinen Mädchen Französischunterricht gegeben, das ebenfalls Krebs hatte. Ich höre ihre Schmerzensschreie heute noch.« Sie weinte mittlerweile hemmungslos.

»Dann verstehen Sie mich sicher, wenn ich sage, ich will den Kerl umbringen. Es gibt kein abscheulicheres Verbrechen, als unschuldige kleine Kinder leiden zu lassen. In Die Brüder Karamasow ist eine Stelle, wo Iwan und Aljoscha über den Standpunkt der Kirche zu dem Problem diskutieren, und selbst der fromme Aljoscha meint, Leute, die unschuldige Kinder umbringen, sollten erschossen werden. Genauso sehe ich es auch – eine bestimmte Sorte Mensch sollte auf dieser Welt einfach nicht leben dürfen.«

»Das finde ich auch, aber es gehört eine Menge Courage dazu, sich die Entscheidung zuzutrauen, wer leben darf und wer nicht.«

Courage. Vor diesem Wort fürchtete Daigo sich womöglich am meisten.

»Versuchen wir, das alles zu vergessen.« Wie in Trance beugte er sich zu ihr vor und ergriff ihren warmen Arm. »Versuchen wir wenigstens für den Augenblick, es zu vergessen.«

Er spürte den Druck ihrer Hand, die sich auf seine legte. Er beugte sich noch weiter vor und sog ihren Duft tief in sich ein. »Sollen wir ...«, murmelte er hastig und machte Anstalten, sie zu umarmen.

Als er sie zu sich herunterziehen wollte, drehte sie sich schnell um und ließ sich mit abgewandtem Gesicht auf seinen Schoß nieder.

Er rieb sein Gesicht an ihrer Schulter. Sie bog den Hals, und in diesem Moment trafen sich ihre Lippen. Ihr Mund war zart und weich. Die Lippen immer noch auf ihren, öffnete Daigo den Reißverschluß ihres Oberteils und schob eine Hand darunter, um ihre Brüste zu streicheln. Das jugendlich straffe, feste Fleisch reagierte auf die Berührung.

Bluse und BH waren in einem Stück gearbeitet und glitten mühelos über ihre Schultern. Daigo registrierte die winzigen Löcher in ihren Ohrläppchen; sie trug offensichtlich manchmal Ohrringe. Seine Lippen erkundeten die weiche, glatte Haut ihres Nackens. Er war mittlerweile ziemlich erregt und glaubte bei ihr das gleiche zu spüren. Er war wie von Sinnen, fühlte sich fast in einen transzendentalen Zustand versetzt und mußte plötzlich wieder an einige Zeilen von Maupassant denken:

»Vielleicht gelingt es dieser flüchtigen Umarmung, ein wenig ihres erregenden Reizes in ihrer beider Venen zu träufeln und diesen Rausch zu einer kurzen göttlichen Begegnung zu machen.«

Als sich ihre Atemzüge wieder beruhigt hatten, war auch der Sturm abgeklungen, und im Salon herrschte eine nicht unangenehm melancholische Stimmung. Daigo hatte plötzlich eine Vision von sich und dieser Frau als hermaphroditische Statue.

Derweil brachte sie, immer noch auf seinen Knien, geschickt ihre Kleidung in Ordnung und kehrte schließlich auf ihren Platz zurück. Nach kurzem Schweigen sagte sie mit vor Eindringlichkeit bebender Stimme: »Erzähl mir alles über diesen Professor. Wo lebt er? Woher kommt er?«

»Er ist Professor für Gesundheitsfragen an der J-Universität in Fukuoka. Sein Name ist Akishige Yoshimi«, erwiderte Daigo kurz und bündig; er wußte genau, alles andere wäre Selbstbetrug gewesen. Dann fragte er: »Und wie heißt die Frau, die du so sehr haßt, daß du sie umbringen willst?«

»Midori Nagahara. Sie ist die älteste Tochter des Besitzers vom Smaragdblick Hotel in Hakone am See.«

»Und du? Warum erzählst du mir nicht mal was von dir?«

»Ich? Ich bin Fumiko Samejima.« Sie zog seine Hand zu sich herüber und malte mit dem Zeigefinger die Schriftzeichen für Fumiko auf seine Handfläche. »Ich wohne in Tokio, allein, bleibe meistens zu Hause und arbeite dort an Übersetzungen, ausgenommen Dienstag und Freitag nachmittags, da bin ich von mittags bis ungefähr achtzehn Uhr in meinem Büro.«

Es gab noch vieles, was Daigo gern über diese Frau in Erfahrung gebracht hätte, doch zuerst wollte er etwas über sich selbst sagen. »Ich bin Kohei Daigo. Ich wohne in Fukuoka und unterrichte dort an der vorhin genannten Universität.« Er war noch nicht fertig, aber sie legte einen Finger an seine Lippen und brachte ihn zum Schweigen.

»Das reicht, sprich bitte nicht weiter. Diese Dinge sind unwichtig. Ich glaube, ich weiß bereits mehr über dich als jeder andere. Das wichtigste ist, daß wir uns Einblick in die tiefsten Winkel unserer Seelen gewährt haben. Verglichen damit, sind alle übrigen Details deines Lebens belanglos. Vielleicht sollten wir uns jetzt trennen, solange wir unsere Gesichter noch nicht gesehen haben.«

Sie klang wie eine Mutter, die ihrem Sohn ins Gewissen redet.

»Und wie soll’s weitergehen? Wann werde ich dich –«

»Unsre heutige Begegnung war etwas sehr Seltenes und Schicksalhaftes. Irgendwas sagt mir, daß wir nie wieder das Glück haben werden, dieses Erlebnis zu wiederholen. Es wäre natürlich großartig, wenn wir uns irgendwann in Paris oder vielleicht sogar in Tokio wiedertreffen würden, aber selbst wenn das geschehen sollte, wird der magische Zauber nie wieder so stark sein.«

Daigo überraschten diese Worte so sehr, daß er nichts zu erwidern wußte. Sie fuhr fort: »Trotzdem, ich fühle mich jetzt schon, als ob du eine Hälfte von mir wärst, und ich hoffe von ganzem Herzen, daß es dir auch so geht.«

»Sicher, ich –«

»Schon gut, danke. Wir dürfen zwar nicht darüber sprechen, was heute nacht passiert ist, aber es ist schon wunderbar genug, wenn es uns hilft, mit unserem Schicksal fertig zu werden.«

Ehe Daigo auch nur an eine Antwort denken konnte, stand sie auf, strich sanft mit dem Finger über seine Wange und verließ leise den Raum. Er war angesichts dieses plötzlichen Aufbruchs derart fassungslos, daß er sich nicht rühren konnte, und ihm fiel nichts ein, womit er sie zurückrufen könnte.

Nachdem die Tür hinter ihr zugefallen war, fühlte er sich vollkommen ausgelaugt und ließ sich erst einmal wieder in seinen Sessel zurückfallen. Die eine Hälfte seines Hirns drängte ihn, ihr zu folgen und darauf zu bestehen, ihr Gesicht zu sehen, doch der Drang war nicht stark genug, seine Füße zum Laufen zu bewegen. Die Tatsache, daß auch sie sein Gesicht nicht kannte, hielt ihn gleichzeitig zurück. Eine schwache Spur ihres Parfums stieg ihm plötzlich in die Nase.

Daigo ließ sich noch einmal ihre Worte durch den Kopf gehen. Was hatte sie bloß mit Courage gemeint? Er lauschte dem fernen Rauschen des Windes und verlor sich in seinen Träumen.

Zwei Fremde in der Dunkelheit

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