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2 Zeit der Entscheidung

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»Bist du zum Essen wieder da?« erkundigte sich Daigos Frau, während sie ihm in den Mantel half. Es handelte sich dabei weniger um eine Frage als um ein Ritual, das unweigerlich jeden Morgen stattfand, wenn er zur Arbeit aufbrach. Unterrichtete man wie er an einer öffentlichen Universität, und ging man abgesehen davon keinen anderen Interessen oder Zerstreuungen nach, verlief das Leben in sehr regelmäßigen Bahnen. Mit Ausnahme vereinzelter Forschungsreisen bestand sein Alltag im morgendlichen Aufbruch zur Universität und der Heimkehr am frühen Abend.

»Ja, wahrscheinlich bin ich gegen sechs zurück.«

»Soll ich gedünstete Austern machen? Die Austern sind im Moment ausgezeichnet.« Shihoko wußte, was ihr Mann mochte, und blickte ihn erwartungsvoll an. Wenn sie lächelte, zeigten sich die ersten Krähenfüße um ihre Augenpartie, und ihm fiel auf, daß die Haut ihres sommersprossigen, runden Gesichts ein wenig trocken und rauh war.

Allmählich sah man ihr die sechsunddreißig Jahre an, aber für Daigo hatte sich Shihoko seit ihrer Heirat vor zehn Jahren nicht verändert. Sie war die Tochter eines Professors an der staatlichen Universität, an der Daigo seinen Titel gemacht hatte. Nach dem Examen hatte er zuerst als Forschungsassistent besagten Professors gearbeitet und war schließlich zum Assistenz-Professor avanciert. Als er gerade zweiunddreißig Jahre alt gewesen war, war an der Universität Fukuoka eine Stelle in den Gesundheitswissenschaften frei geworden – und er hatte sie bekommen. Shihokos Vater, der gut mit dem damaligen Präsidenten der J-Universität befreundet war, hatte sich sehr für ihn eingesetzt. Zusätzlich war ihm zugute gekommen, daß seine Artikel über die Häufigkeit von Krebserkrankungen in der Region Anklang gefunden hatten. Aus dieser Situation heraus hatte er mit dem Gedanken gespielt, die sechsundzwanzigjährige Tochter seines Professors zu heiraten, und nach einer schlichten Werbung war die Eheschließung schon bald unter Dach und Fach gewesen.

Daigos und Shihokos Eheleben verlief ruhig und ereignislos. Shihoko waren materielle Dinge nicht besonders wichtig, sie war eine fröhliche Frau mit viel Familiensinn und Daigo eine große Stütze. Sie hatten zwei Töchter, eine in der ersten, eine in der dritten Klasse, beides anscheinend ganz normale, einfache Mädchen, die nach ihrer Mutter schlugen.

Daigo sagte sich immer wieder, daß er sich glücklich schätzen konnte, eine solche Frau zu haben. Sie war nicht anspruchsvoll und schaffte es sogar, seine schlimmsten Fehler und Angewohnheiten zu übersehen. Shihokos Stabilität erschien ihm in der momentanen Situation wie ein Segen. Nichts an ihrem Verhalten deutete darauf hin, daß sie eine Veränderung an ihrem Ehemann seit dessen Rückkehr von der Pariser Tagung bemerkt hatte.

Daigo nahm das Austern-Angebot dankend an und verließ das Haus. In dem winzigen Garten zwischen Haustür und Gartentor standen Chrysanthemen und spät blühende Rosen in verschwenderischer Pracht. Ihr Haus war eins unter vielen Reihenhäusern in einer küstennahen Siedlung im Nordosten Fukuokas. Vor drei Jahren war es Daigo gelungen, eine Hypothekenanleihe zu bekommen, so daß sie aus ihrer vorherigen, regierungseigenen Wohnung hierher hatten übersiedeln können. Die Siedlung war terrassenförmig angelegt und in Felder und Golfplätze eingebettet. Obwohl sie am äußeren Stadtrand lag, war die J-Universität von hier aus bequem zu erreichen.

Es war kurz nach neun, und der Straßenverkehr flaute langsam ab, als Daigo seinen Toyota über die Bundesstraße steuerte. Der Morgenhimmel war völlig verhangen, für einen Tag Anfang November recht ungewöhnlich. Laut Fernsehwetterbericht war es die erste Kälteperiode des Jahres. Es war sogar so kalt, daß er Schwierigkeiten gehabt hatte, den Wagen in Gang zu bringen.

Während der Fahrt kehrten seine Gedanken wie üblich immer zum selben Thema zurück: jene Nacht, jene stürmische Nacht in Barbizon, und Fumiko Samejima, die einfach in ihren Wagen gestiegen und nach Paris zurückgefahren war. Etwa fünfzehn Minuten nach ihrem Verschwinden war Daigo in die Vorhalle des Restaurants gegangen und hatte einen Blick aus der Eingangstür riskiert, doch der Parkplatz war mittlerweile ein vom Regen überflutetes Schwimmbecken, und keine Wagen waren mehr in Sicht gewesen. Nach ungefähr weiteren fünfzehn Minuten waren die Lichter im Haus wieder aufgeflammt.

Vielleicht hatte sie ihn angelogen, was ihr Hotel in Paris anging, vielleicht wohnte sie direkt vor seiner Nase – im Château Chantal. Als er jedoch an der Rezeption nachfragte, wußte man von keinem Gast dieses Namens. Nicht eine einzige Japanerin hatte sich für die Nacht angemeldet. Wer in einem Pariser Hotel übernachten will, muß seinen Paß vorzeigen, deshalb hatte sie auch keinen falschen Namen angeben können.

Früh am nächsten Morgen hatte Daigo einen Spaziergang durch Barbizon gemacht. Obwohl der Sturm vorbei war, waren die Straßen mit abgefallenen Blättern übersät. Der Morgendunst löste sich gerade langsam auf, das ganze Dorf schien wie ausgestorben. Er hatte ja nicht einmal die leiseste Ahnung, wie sie aussah! Trotzdem war er sicher, daß er Fumiko sofort instinktiv wiedererkennen würde.

»Vielleicht sollten wir uns jetzt trennen, bevor wir unsere Gesichter gesehen haben.« Womöglich hatte sie mit diesen Worten recht gehabt, dennoch wünschte er in einem Winkel seines Herzens, sich ihr Gesicht und ihren Körper einmal ganz genau anschauen zu können. Er wollte sie unbedingt wiedersehen.

Damals in Frankreich hatte er sich eine Chance ausgerechnet, sie aufzuspüren, wenn er sämtliche Pariser Hotels unter die Lupe nahm, da er aber seinen Rückflug nach Japan für denselben Abend gebucht hatte, blieb ihm dazu keine Zeit mehr. Außerdem konnte er nicht einmal sicher sein, daß Fumiko Samejima ihr richtiger Name war. In den folgenden Wochen nahm seine Unsicherheit stetig zu.

Nach seiner Rückkehr nach Japan bemühte er sich gar nicht erst, den Zwischenfall zu vergessen. Er rief ihn manchmal sogar als eine Art poetische Episode seines Lebens in Erinnerung zurück, eine Begegnung von der Sorte, wie sie in den Gedichtbänden beschrieben wurde, die er ab und zu ganz gern las. Jedesmal wenn er daran dachte, war die Erinnerung klarer und stärker. Dennoch war er nicht in der Lage, eine Entscheidung hinsichtlich seines weiteren Verhaltens zu treffen.

Als er seinen Wagen an diesem Morgen durch den spärlichen Verkehr lenkte, befand er, daß er Fumiko betreffend nichts weiter tun konnte. Und was die andere Geschichte anging – wenn er einfach seinen Mund hielt und jedem Streit mit seinem Kollegen, Professor Yoshimi, aus dem Weg ging, wenn er so tat, als ob er keine einzige seiner Greueltaten mitbekommen würde, dann konnte er wahrscheinlich nie wieder aus seinem momentanen Dilemma kommen. Wenn er nur noch weitere sieben oder acht Jahre durchhalten könnte, dann hätte er das Pensionierungsalter erreicht und gute Aussichten auf einen ungestörten Ruhestand mit Beraterfunktion. Viele seiner Kollegen hatte Yoshimis arrogante und überhebliche Art vor den Kopf gestoßen, und Daigo hatte eigentlich mit ihrer Unterstützung im Kampf gegen die nachlässige Nahrungsmittelgesellschaft gerechnet, doch anscheinend hatte Yoshimi allen Bemühungen, seine Verbrechen ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen, einen Riegel vorgeschoben.

Im Moment bleibt mir nichts anderes übrig, als mich in Geduld zu üben und vorsichtig zu sein, dachte Daigo. Er stellte sich die lächelnden Gesichter seiner Frau und Töchter vor, wie sie ihn abends über die gedünsteten Austern hinweg anschauen würden, und es gab ihm ein Gefühl der Wärme und Ausgeglichenheit.

Die Universität lag jetzt in seinem Blickfeld. Bis zu seinem ersten Kurs hatte er noch eine halbe Stunde Zeit; er nahm sich spontan vor, an der Universitätsklinik anzuhalten. In deren Kinderstation waren letzten Sommer rasch nacheinander drei Kinder mit Leberkrebs eingeliefert worden. Sie stammten alle aus der Umgebung einer Kleinstadt im Verwaltungsbereich von Fukuoka, aus den Familien von Bauern oder kleinen Büroangestellten. In der Zeit von März bis August dieses Jahres war zusätzlich bei fast zwanzig anderen Kindern der Region entweder ebenfalls Leberkrebs oder eine andere noch nicht sehr bekannte Krankheit diagnostiziert worden. Bei mindestens acht von ihnen war die Diagnose Leberkrebs eindeutig. Seit September hatte die Zahl der frischen Erkrankungen nachgelassen, aber es wurden dennoch immer neue Fälle eingeliefert.

Die betroffenen Kinder waren zwischen vier und zehn Jahre alt; sie lagen zum Großteil in der Universitätsklinik oder im städtischen Krankenhaus der Kleinstadt. Vier der kleinen Patienten waren bisher gestorben. Ein paar Kinder waren operiert worden, da sie aber sowohl unter den Nebenwirkungen der Krebstherapie als auch unter Leberschäden zu leiden hatten, mußten sie wahrscheinlich sehr lange im Krankenhaus bleiben, nur um sich eventuell nie wieder zu erholen. Drei der schlimmsten Fälle wurden im medizinischen Zentrum der J-Universität behandelt, und Daigo besuchte die Kleinen seit August hin und wieder. Die zuständigen Ärzte hatten als Auslöser der Epidemie bereits eine Kekssorte mit dem Namen Popico in Verdacht. Jedes der erkrankten Kinder hatte diese Kekse gegessen, die aus Erdnüssen und Kartoffelmehl bestanden. Die Herstellerfirma hatte ihren Hauptsitz in Fukuoka, die Fabrikanlagen befanden sich aber in der Kleinstadt S. Die Kekse waren soweit wie möglich aus dem Verkehr gezogen worden, was die Ausbreitung der Krankheit zum Glück hemmte.

Gesundheitsamt und zuständige Hygienestelle hatten eine Analyse der Kekse in den Labors der universitätsinternen Gesundheitsabteilung angeordnet. Professor Yoshimi war der Verantwortliche für die Untersuchungsergebnisse gewesen. Anfangs hatte er sich die jungen Patienten noch mit Daigo zusammen angesehen, sich jedoch schon bald nicht mehr dafür interessiert. Daigos Füße hingegen trugen ihn auf dem Weg zu seinem Labor von Zeit zu Zeit wie von selbst zur Kinderstation.

Es war noch vor zehn. Den Korridor des Kindertrakts blockierten Wagen mit Frühstückstabletts, Krankenschwestern schwirrten emsig herum. An diesem Morgen lag eine gedrückte Atmosphäre wie ein Sargtuch über der normalen Krankenhausmorgenroutine. Der Eindruck intensivierte sich noch, als Daigo zu den Zimmern der Krebsopfer kam. Normalerweise standen die Familienangehörigen der Kleinen im Gang und unterhielten sich miteinander, doch heute war weit und breit niemand zu sehen. Schließlich tauchte eine Krankenschwester mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern auf.

»Stimmt was nicht?« fragte Daigo und tippte ihr auf die Schulter.

»Ach, Professor Daigo, Tatsuo ist letzte Nacht gestorben.« Mehr brachte die junge Schwester nicht heraus, dann lief sie hastig davon, krampfhaft bemüht, ihre Gefühle im Zaum zu halten.

Daigo spürte einen tiefen, dumpfen Schmerz in der Brust.

Tatsuo war der Sohn eines Mietwagenverleihers aus S. Er war in der zweiten Klasse. Der Junge hatte sich für Naturwissenschaften begeistert und war am glücklichsten gewesen, wenn er sich in seine Bücher über die hiesige Flora vertiefen konnte. Bei jedem Besuch hatte er Daigo gebeten, ihn die Namen neuer Pflanzen und Bäume abzufragen, die er gerade gepaukt hatte. Nur einmal nicht, es war noch nicht lange her, da hatte er seine Pflanzen vergessen, statt dessen aus dem Fenster neben seinem Bett in die Nacht geblickt und Fragen über die Sterne gestellt. Tatsuos tapfere kleine Seele hatte sich offenbar darauf vorbereitet, die Erde zu verlassen und in den Himmel zurückzukehren.

Als erstes registrierte Daigo Tatsuos leeres Bett, nachdem er den Raum betreten hatte. Jemand hatte eine weißgelbe Tulpe auf die frischgestärkten Laken gelegt. In dem anderen Bett warf die kleine Yumiko ihren Kopf wild von einer Seite auf die andere und weinte dabei stoßweise. Zwischen den Schluchzern schien sie zu sagen: »Es tut weh, es tut so weh!« Das sechs Jahre alte Gesicht war um einiges ausgemergelter als bei seinem letzten Besuch vor wenigen Wochen. Es wirkte nicht viel größer als eine zusammengeballte Faust. Die schwarzen Schatten des Todes hatten sich bereits für jeden unübersehbar auf die blasse Haut gelegt. Yumikos Mutter massierte mit zügigen Bewegungen ihren Bauch, um ihr die Schmerzen zu erleichtern. Ihr Vater arbeitete bei einer Busgesellschaft in S., ihre Mutter hatte das Mädchen zu ihrem Teilzeitjob in einem Geschäft in der Nachbarschaft mitgenommen. So hatte die vierköpfige Familie, den älteren Bruder eingeschlossen, es gerade eben geschafft, sich über Wasser zu halten.

Seit Beginn von Yumikos Krankheit arbeitete die Mutter nicht mehr, um bei ihr sein zu können. Bei Krankenhausaufenthalten der Kinder mußten die Eltern für dreißig Prozent der Klinikkosten aufkommen; hinzu kamen die Kosten für spezielle Medikamente und Behandlungen, die nicht von der Versicherung übernommen wurden, so daß ihnen monatlich eine Krankenhausrechnung von 250 000 bis 300 000 Yen ins Haus flatterte, alles zu einer Zeit, in der sie nicht einmal die stolze Summe von 200 000 aufbringen konnten. Da die Familie schon vorher Probleme hatte, über die Runden zu kommen, wohin sollte sie das Ganze jetzt erst führen?

Diese vertrackte Finanzlage beschränkte sich nicht nur auf Yumikos Familie. Der Großteil der stationär untergebrachten Kinder stammte aus der unteren Mittelschicht oder der Unterschicht. Die jungen Eltern der Kleinen hatten ihre Spitzenverdienstjahre noch nicht erreicht und hatten fast alle zu kämpfen. Das Elend der betroffenen Familien war unbeschreiblich.

Yumikos verzweifelte Mutter hatte Daigo mittlerweile bemerkt und hob den Kopf. Als sie seine feuchten Augen sah, konnte sie die eigenen Tränen nicht länger zurückhalten.

»So geht das jetzt schon die ganze Nacht, Professor. Obwohl sie furchtbare Schmerzen hat, hat sie ganz genau mitgekriegt, was mit Tatsuo passiert ist. Sie hat geschrien und gebettelt, daß Tatsuo nicht gehen und sie hier nicht allein lassen soll. Ich glaube, sie weiß ganz genau, daß sie auch sterben wird.« Die Mutter bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und weinte hemmungslos, doch kurze Zeit später nahm sie die Arme abrupt herunter und sagte mit gepreßter Stimme: »Die wahre Ursache für diese mörderische Krankheit sind diese Popico-Kekse von Minami, nicht wahr? Da war irgendein Gift drin, stimmt’s? Bitte sagen Sie mir die Wahrheit!«

Die Frau war wahrscheinlich noch nicht einmal dreißig, aber sie sah inzwischen aus wie fünfzig. In dem bohrenden Blick, der sich auf Daigo richtete, blitzte ein Funken von Wahnsinn auf. Sie ballte eine Faust und fuhr fort: »Ich hab’ mir fest vorgenommen, keine Abfindung von der Firma anzunehmen. Ich will nur, daß der Verantwortliche für Yumikos und Tatsuos Qualen gefunden wird und seine gerechte Strafe bekommt. Es ist alles so furchtbar! Selbst wenn wir die Tatsachen kennen, bringt uns das Tatsuo auch nicht zurück. Trotzdem, ich will wissen, wer dafür verantwortlich ist. Es ist die Minami-Lebensmittelgesellschaft, nicht wahr?«

Die Frau vermutete zweifelsohne richtig. Daigo brachte nur ein unverständliches Gestammel heraus.

Er hatte den krebserregenden Stoff selbst entdeckt. Es handelte sich um ein Bakterium, genannt A-Toxin, das sich in der öligen Stärke von Erdnüssen, Kartoffeln, Reis und Gerste bildet. Die Grundzutat der Kekse war aus Südostasien importierte Kartoffelstärke, die wahrscheinlich schon recht alt gewesen war und Schimmel angesetzt hatte. Es mußte auf jeden Fall von Anfang an bekannt gewesen sein, daß sie nicht mehr frisch war, dennoch hatte man sie weiterhin benutzt. Da die Anzahl der Krebserkrankungen relativ gering war, hatte sich die Schimmelbildung vermutlich nur auf eine kleinere Menge der Bestandteile beschränkt.

Ausgerechnet ihn hatte Yoshimi auserkoren, die Popico-Tests zu übernehmen. Als er und seine beiden Assistenten ihre Analyse zu neunzig Prozent durchgeführt hatten, jedenfalls noch bevor ein offizieller Bericht geschrieben war, hatte Daigo die Ergebnisse mit Yoshimi diskutiert, woraufhin ihn dieser umgehend jeder weiteren Befugnis in der Angelegenheit enthoben hatte. Er sagte etwas von Ungereimtheiten in Daigos Ausführungen, die er nicht verstünde, deshalb wollte er die Analyse persönlich durchführen, um mit einem schlüssigeren Resultat aufwarten zu können. Logischerweise unterschied sich zwei Wochen später, Anfang November, Yoshimis offizieller Bericht an die zuständige Gesundheitsbehörde beträchtlich von dem, was Daigos Analyse ergeben hatte.

Laut Yoshimis Bericht konnten die verwendeten Kartoffeln möglicherweise tatsächlich alt gewesen sein, von Schimmel war allerdings nicht die geringste Spur zu finden gewesen. Seinem logischen Schluß daraus zufolge standen die Krebsfälle in keinem direkten Zusammenhang mit den Popico-Keksen – es handelte sich vielmehr um rein Zusammenwirken mehrerer Faktoren. Um diese »zusammenwirkenden Faktoren« näher zu identifizieren, schrieb er, sei es erforderlich, jeden Fall individuell zu beobachten. Aus diesem Grund würde es noch eine Weile dauern, bis man zu einem eindeutigen Schluß kommen könnte.

Indem er diesen Bericht verfaßte, half Yoshimi der Minami-Lebensmittelgesellschaft, sich jeder Verantwortung zu entziehen, so viel war Daigo noch vor Bekanntgabe des offiziellen Reports klar. Er wußte über Yoshimis Geldgier Bescheid und zweifelte keine Sekunde daran, daß er einen hübschen Batzen Schmiergeld erhalten hatte.

Andererseits konnte auch keine noch so große Abfindung von seiten der Gesellschaft die Toten zum Leben erwecken oder die Kranken wieder gesund machen. Yoshimi hatte Leben und Wohlergehen der jungen Patienten und ihrer Familien seiner eigenen Gier zuliebe verkauft.

Daigo legte natürlich lautstark Protest ein, doch Yoshimi ignorierte ihn einfach. Daraufhin suchte Daigo bei seinen Assistenten Unterstützung, aber auch die hatte Yoshimi bereits auf seine Seite gezogen. Sie machten lediglich finstere Gesichter und verweigerten jeglichen Kommentar. Sowohl sie als auch Yoshimi waren Absolventen der J-Universität, Daigo dagegen ein Außenseiter, und da der Präsident, der ihn hier eingeschleust hatte, mittlerweile im Ruhestand war, fühlte er sich vollkommen allein bei seinem Kreuzzug gegen die Verlogenheit.

Daigo beschwor Yoshimi seit jener Zeit bei jeder sich bietenden Gelegenheit, seine Einstellung zu ändern und einen richtigen Bericht zu verfassen. Yoshimis Reaktion darauf war eindeutig – er warf Daigo Fallstricke vor die Füße. Aus heiterem Himmel wollte eine Universität in Alaska Daigo plötzlich unbedingt für ihre Fakultät rekrutieren. Daigo gab sich alle Mühe, dem an sich verlockenden Angebot zu widerstehen, das wirklich nicht uninteressant war, denn schließlich war er in Fukuoka lediglich Assistent des Professors. Trotzdem – hier ging es ums Prinzip, und egal wie günstig das Angebot der alaskischen Universität auch sein mochte, er war entschlossen, an Ort und Stelle zu bleiben und die Angelegenheit durchzustehen, obwohl Yoshimi ihm jede Menge solcher Köder hinwarf, um in loszuwerden.

»Sie kennen die Wahrheit, Professor, geben Sie’s doch zu!« beharrte Yumikos Mutter. »Warum bringen Sie sie nicht an die Öffentlichkeit, damit jeder Bescheid weiß? Was ist denn bloß los? Haben Sie Angst vor Ihrem Kollegen, Professor Yoshimi? Ist es das?«

Er hatte nicht direkt Angst, aber unter den gegebenen ungünstigen Umständen würde er wahrscheinlich durch Yoshimis politischen Einfluß an die Wand gequetscht werden, wenn er mit seiner Meinung vor die Öffentlichkeit ging. Es mußte einen anderen Weg geben. Er suchte nach einer Möglichkeit, die Oberhand über diesen Mann zu gewinnen. Mit solchen Gedanken im Kopf machte er sich von der armen Frau los und flüchtete abrupt aus dem Krankenhaus.

Er erreichte die Vorhalle gerade rechtzeitig, um einen langen, schwarzen Mercury vor dem Gebäude anhalten zu sehen. Wie er sofort feststellte, handelte es sich um Yoshimis Wagen.

Ja, das war unverkennbar Yoshimi, in Hochstimmung durch seinen flotten neuen Wagen, den gutgebauten Körper in einen dezenten, grauen Anzug gehüllt. Akishige Yoshimi war dieses Jahr zweiundfünfzig geworden. Er hatte klar geschnittene Gesichtszüge und graumeliertes Haar. Auf den ersten Blick wirkte er wie ein Bilderbuchgelehrter, doch wenn man seinen stechenden Blick und seine wulstigen Lippen aus der Nähe sah, spiegelte sich darin eindeutig die Gier und Grausamkeit seiner ganzen Person wider.

Einen Moment lang trafen sich ihre Blicke, und Daigo spürte den Haß und die Verachtung des anderen. Yoshimi war vollkommen klar, daß Daigo wieder einmal in die Klinik gerannt war, um die jungen Krebsopfer zu besuchen. Er selbst war ohne Frage aus einem ganz und gar anderen Grund hier.

Daigo nickte ihm so kurz wie eben möglich zu und schickte sich an, an ihm vorbeizugehen, als Yoshimi plötzlich ein grausames Lächeln sehen ließ und auf ihn zukam. »Ach, Daigo, ich muß noch mal mit Ihnen über diesen Job in Alaska reden. Gestern rief der Dekan bei mir an und bekniete mich wieder, ihm unbedingt einen vielversprechenden jungen Mann zu schicken. Alaska mag vielleicht etwas abgelegen sein, aber wie Sie wissen, ist man dort vor kurzem auf Öl gestoßen, und die Städte sollen wirklich aufblühen! Das Budget der Universitäten blüht genauso, so daß sie so viel Geld für Forschungszwecke ausgeben können, wie sie nur wollen. Das ist Ihre Chance!«

Daigo machte sich nicht die Mühe zu antworten.

»Ich soll ihm bis Jahresende jemanden empfehlen, also lassen Sie’s sich durch den Kopf gehen, und wenn Sie die Stelle wollen, sagen Sie mir nur Bescheid. Ich höre von Ihnen.« Ein weiteres Grinsen entblößte seine weißen Zähne, dann machte er auf dem Absatz kehrt und eilte davon. Noch bevor er sich ganz umgedreht hatte, war jede Spur eines Lächelns aus seinem Gesicht verschwunden.

Tief in Daigos Herzen rumorten Angst und ein Gefühl der Ausweglosigkeit; er wußte, daß er gegen seinen Willen manipuliert wurde.

Zwei Fremde in der Dunkelheit

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