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3 Die Botschaft

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Am späten Nachmittag des 2. Dezember lag ein Brief auf dem Schreibtisch in Kohei Daigos Büro. Er entdeckte ihn nach der Rückkehr aus dem Labor. Der Brief steckte in einem gewöhnlichen, langen, schmalen Umschlag, die Adresse war in sauberen Druckbuchstaben geschrieben und an Professor Daigo in der J-Universität gerichtet. Über der Adresse klebte das rote Etikett für Eilzustellungen. Der Brief war offenbar in der Poststelle der Universität gelandet, von wo ihn einer von Daigos Assistenten mitgenommen und auf seinen Schreibtisch gelegt hatte.

Bis dahin hatte der Brief noch nichts Seltsames oder Verdächtiges an sich.

Daigo ließ sich in seinen Sessel fallen und besah sich die Rückseite. Dort stand in denselben Druckbuchstaben als Absender: »Emerald Estates, Inc.« samt einer Adresse in Fukuoka-Innenstadt. Die Emerald Estates waren eine Grundstück-Investmentgesellschaft unter der Schirmherrschaft einer großen Versicherungsagentur. Die Gesellschaft war Daigo ein Begriff, weil sie ihm vor einigen Jahren bei der Beschaffung des Darlehens geholfen hatte, mit dem er sich sein Haus hatte kaufen können. Die Agentur in Fukuoka war nur eine Filiale der Hauptstelle in Tokio, verfügte jedoch über hochmoderne Büroräume in einem nagelneuen Bürogebäude in der Innenstadt, einem Sinnbild des modernen Zeitgeists.

Daigo zerbrach sich leicht beunruhigt den Kopf, weshalb sie ihm einen Eilbrief schickten. Er starrte auf den Absender und wurde von einer nicht greifbaren, fernen Erinnerung gestreift. Dann endlich schlitzte er den Umschlag auf und zog zwei Bögen gewöhnliches Briefpapier heraus. Die ordentlichen Druckbuchstaben stimmten mit denen auf dem Umschlag überein.

Verehrter Herr!

Es geht um bereits erwähntes Ferienhaus. Der Verkauf des Anwesens soll so bald wie möglich über die Bühne gehen. Wenn es Ihnen recht ist, würde ich es mir gern am Freitag, dem 3. Dezember, um 17 Uhr 30 mit Ihnen ansehen.

Da es wahrscheinlich eine einmalige Chance ist, diesen Besitz zu erwerben, hoffe ich sehr, auf Ihr Erscheinen zählen zu können.

Ihr ergebener

Hai Mizushima

Manager

Der gesamte Text stand auf dem ersten Briefbogen, der zweite war leer.

Daigo las den Brief ein zweites Mal durch und betrachtete ihn anschließend leicht amüsiert. Er konnte sich beim besten Willen an niemanden in der Agentur namens Mizushima erinnern, schon gar nicht an einen Manager. Der Mann, der ihnen vor drei Jahren beim Kauf ihres eigenen Hauses geholfen hatte, war in einen anderen Teil des Landes versetzt worden. Er hatte ihnen nach seiner Beförderung zum Filialleiter eine Karte geschickt.

Der Satz »Es geht um bereits erwähntes Ferienhaus« machte ihn besonders stutzig. Es bestand nicht der geringste Grund für die Gesellschaft anzunehmen, daß er auf der Suche nach einem Feriendomizil war. Er würde noch siebzehn Jahre brauchen, um sein Darlehen abzuzahlen, und das reichte vorerst.

Dem Inhalt zufolge wurde offensichtlich von ihm erwartet, daß er das Ferienhaus kaufte, ebenso unmißverständlich wies man auf seinen eigenen Wunsch hin, dies zu tun. Zuerst dachte Daigo, der Brief sei versehentlich falsch adressiert worden, doch damit war die Sache für ihn keineswegs erledigt. Vor allem der letzte Absatz machte ihm Kopfschmerzen.

Im großen und ganzen war es ein typischer Geschäftsbrief, der jedoch eine merkwürdig vertrauliche Botschaft zu enthalten schien. Er rief sich den Anflug von Freude in Erinnerung zurück, der ihn überkommen hatte, als der Brief noch geschlossen gewesen war; das konnte unmöglich nur daran liegen, daß er einen Eilbrief bekommen hatte. Die bisherigen Briefe der Emerald Estates an ihn hatten vollkommen anders ausgesehen: brauner Umschlag mit horizontal geschriebener Adresse, Absender in Magerdruck. Noch nie war ein weißer, mit Tinte handbeschrifteter Umschlag dabei gewesen.

Die Schrift war ihm unbekannt. Er konnte nicht einmal sagen, ob sie von einem Mann oder einer Frau stammte, nur offensichtlich von jemandem mit beträchtlicher Bildung.

Daigo wandte seine Aufmerksamkeit der Briefmarke zu. Der Brief war vor zwei Tagen zwischen achtzehn und vierundzwanzig Uhr aufgegeben worden. Wäre er irgendwo in der Stadt eingeworfen worden, hätte die Auslieferung nicht so lange gedauert. Er versuchte auf dem Poststempel den Herkunftsort zu erkennen, aber der Abdruck war schwach und nicht zu entziffern. Nur eins sah er genau, Fukuoka stand dort nicht.

Daigo saß eine Weile wie betäubt da. Wenn man ihm diesen Brief mit voller Absicht geschickt hatte, rechnete man am Freitag um siebzehn Uhr dreißig mit seinem Erscheinen in den Büroräumen der Emerald Estates. Freitag, der 3. Dezember – das war morgen!

Wenig später stopfte er den Brief in die Tasche seines Sakkos und stand auf. Er packte die Gelegenheit beim Schopf und vergewisserte sich, daß er eine Münze bei sich hatte. Normalerweise benutzte er das Telefon auf seinem Schreibtisch, aber dann konnten seine Assistenten und Studenten einen Großteil des Gesprächs mit anhören. Aus irgendeinem Grund wollte Daigo dies jedoch verhindern. Sein Gefühl riet ihm davon ab.

Die Dämmerung verdrängte das graue Zwielicht des Herbsttages, als er über den Campus zu einer Telefonzelle ging. Er suchte die Nummer der Emerald Estates heraus und wählte. Eine Empfangsdame meldete sich, und er verlangte Mizushima.

Nach kurzem Warten wurde er von einer übertrieben aufgeräumten Stimme begrüßt: »Mizushima. Tut mir leid, daß Sie warten mußten.« Die Stimme sagte Daigo nichts.

»Hier spricht Professor Daigo von der J-Universität.«

»O ja, Professor Daigo. Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, vielen Dank für den Anruf. Ich wollte mich schon mit Ihnen in Verbindung setzen, aber Sie sind mir zuvorgekommen.«

Kaum hatte Daigo seinen Namen genannt, überschlug sich Mizushimas Stimme förmlich vor Enthusiasmus. Da er ihn zu kennen schien, mußten sie sich schon einmal begegnet sein – aber hatte Mizushima sich nicht andererseits »gefreut, seine Bekanntschaft zu machen«?

»Schön, wenn Ihnen siebzehn Uhr dreißig morgen nachmittag recht ist, werde ich einen Wagen bereithalten und auf Sie warten.«

»Augenblick bitte, heißt das, wir sehen uns dann ein Ferienhaus an?«

»Ja, was denn sonst? Ich habe die Angelegenheit bereits mit Ihrer Sekretärin durchgesprochen. Sie hat mich über Ihre Vorstellungen informiert, und ich habe zwei entsprechende Objekte gefunden. Eins liegt in Dazaifu, das andere in Meinohama mit Blick aufs Meer. Beides vollkommen neue Häuser. Sie haben vielleicht ein paar Nachteile, liegen dafür aber in einer ruhigen Gegend, und man ist in weniger als einer Stunde in der Stadtmitte. Was den Preis angeht –«

»Nicht so schnell bitte. Sie sagten etwas von einer Sekretärin?«

»Ach so, dann ist sie gar nicht Ihre Sekretärin? Ich hatte den Eindruck, entschuldigen Sie. Lassen Sie mich nachdenken – ihr Name war Tsukawa. Sie rief vorgestern hier an, gab mir die Nummer Ihres Labors und alles weitere.«

Der Klang seiner Stimme ließ vermuten, daß er gerade seine Taschen oder die Schreibtischschublade nach einem Notizblock durchwühlte, der seine Worte bestätigen konnte. Daigo war sprachlos – eine Sekretärin namens Tsukawa? Daß Mizushima die Worte einer Wildfremden für bare Münze nahm und glaubte, ein Assistent an einer staatlichen Universität könne sich eine eigene Sekretärin leisten, bewies nur, wie wenig der Mann auf dem laufenden war.

Mizushima mühte sich jedoch immer noch ab, die Situation zu erklären. »Sie machte jedenfalls einen sehr vorsichtigen Eindruck, wie Sie sich vielleicht vorstellen können.«

Sein »wie Sie sich vielleicht vorstellen können« klang eine Spur süffisant. Er nahm zweifellos an, diese Dame Tsukawa sei Daigos Mätresse und das Wochenendhaus solle ihr gemeinsames Liebesnest werden.

»Ich weiß, daß Sie sehr beschäftigt sind, aber Sie haben sich die Mühe gemacht, mit mir in Verbindung zu treten, also werde ich mein Bestes geben, ein Objekt für Sie zu finden, das Ihnen wirklich gefällt. Kann ich morgen mit Ihnen rechnen?«

Daigo hätte ihn am liebsten über die Stimme jener Tsukawa ausgefragt und ob sie irgendeine Adresse oder Telefonnummer hinterlassen hatte, ließ es aber bleiben. Mizushima würde ihn bestimmt nicht ernst nehmen und mit einem banalen Witz darauf reagieren. Es blieb Daigo wohl nichts anderes übrig, als sich morgen in Mizushimas Büro einzufinden und sich das Ferienhaus mit ihm anzusehen. Er legte auf mit dem Gefühl, es mit einem großen Mysterium zu tun zu haben.

Der schwarze Mercury glitt an der Telefonzelle vorbei und über die mit goldfarbenen Gingkoblättern bedeckte Straße außer Sichtweite. Akishige Yoshimi fuhr anscheinend zu seinem Büro zurück. Er saß stocksteif auf der Rückbank und starrte mit seinem stechenden Blick hinaus, offenbar ohne Daigo bemerkt zu haben. Dieser versteckte sein Gesicht unbewußt hinter dem Telefon und beobachtete den Wagen, eine Hand an der Glastür des Häuschens. Daigo war allzeit bereit, einer Begegnung mit Yoshimi zu entfliehen. Er wußte genau, daß der Mann ihn nur wieder wegen der Stelle an der Universität in Übersee unter Druck setzen würde.

Yoshimi hatte eindeutig die Absicht, ihn in Alaska zu begraben, denn es war ziemlich unwahrscheinlich, daß Daigo je wieder nach Japan zurückkehren würde. Seine Frau Shihoko hatte die Aussicht, eventuell dort hinziehen zu müssen, vollkommen entgeistert aufgenommen. Andererseits war es mehr als möglich, daß man ihn im Falle einer Ablehnung an einen noch schlimmeren Ort verbannen würde.

Der allgemeine Aufruhr wegen des krebserregenden Minami-Produkts legte sich langsam, die Besorgnis aber blieb und sollte auch nicht so schnell wieder vergehen. Der acht Jahre alte Tatsuo war tot, und die sechsjährige Yumiko schien ausersehen, seinem Schicksal zu folgen, was die alten Schmerzen und Beschuldigungen wieder aufleben ließ. Doch die Minami-Lebensmittelgesellschaft benutzte Yoshimis Bericht als Schutzschild und lehnte jede Verantwortung ab, obwohl sie den Hinterbliebenen eine symbolische und reichlich lächerliche Abfindung hatte zukommen lassen.

Und ausgerechnet jetzt lastete der Druck einer Entscheidung für oder gegen Alaska auf ihm. Daigo fragte sich gelegentlich, ob es nicht vielleicht noch einen ganz anderen Weg gab, aber er konnte sich ohnehin nicht von dem Gefühl frei machen, alles sei vom Schicksal vorherbestimmt. Er dachte an das Unbehagen, das ihn bei jedem Zusammenstoß mit Yoshimi überfiel.

»Bis morgen dann, siebzehn Uhr dreißig«, hörte er sich murmeln, ohne den Sinn der Worte zu erfassen.

Gerüchten zufolge sollte Yoshimi am kommenden Abend an einem Hochzeitsempfang teilnehmen. Einer seiner Studenten heiratete die Tochter eines einflußreichen Bankiers, und sowohl Yoshimi als auch sein getreuer Assistent Yamada waren dazu eingeladen. Daigo hatte mit der Geschichte Gott sei Dank nichts zu tun.

Pünktlich um siebzehn Uhr dreißig am nächsten Tag fand sich Daigo in der Niederlassung der Emerald Estates in Fukuoka ein. Mizushima entpuppte sich als kleiner Endzwanziger mit angenehmeren Manieren, als seine Stimme am Telefon hatte vermuten lassen. Der weitere Verlauf des Rendezvous entwickelte sich jedoch genauso, wie Daigo vorauskalkuliert hatte.

Zuerst präsentierte Mizushima ihm zwei üppige Broschüren der beiden modernen Ferienhäuser. Eins lag im Westen der Stadt am Meer, das andere südöstlich in Dazaifu. Nachdem er ihm alles haarklein über die Umgebung der Projekte, ihre Möglichkeiten sowie eine eventuelle Darlehensaufnahme auseinandergesetzt hatte, führte Mizushima Daigo zu einem kleinen Firmenwagen. Er wies den Fahrer an, sie zunächst nach Dazaifu zu bringen.

Daigo entnahm Mizushimas Redestrom, daß seine sogenannte Privatsekretärin, Fräulein Tsukawa, am Dienstagnachmittag – vor drei Tagen also – bei den Emerald Estates angerufen, Daigos Namen und Adresse angegeben und sie über dessen Wochenendhausvorhaben unterrichtet hatte. Er sei auf der Suche nach einem ruhigen Plätzchen eine Autostunde von der Stadt entfernt, das um die fünfzehn Millionen Yen kosten dürfe, und würde es bei Gefallen auf der Stelle kaufen. Diese Aussicht hatte natürlich Mizushimas Begeisterung geweckt. In den letzten Jahren waren in Fukuoka und Umgebung Ferienhäuser wie Bambussprossen nach der Regenzeit aus dem Boden geschossen, doch dann ging die Nachfrage plötzlich zurück, und so manche Investment-Gesellschaft mußte Konkurs anmelden. Obwohl die Emerald Estates über einen beträchtlichen Kapitalrückhalt verfügten und nicht gefährdet waren, bankrott zu gehen, waren sie nichtsdestotrotz darauf aus, die Projekte so schnell wie möglich abzustoßen.

Die sanfte, tiefe Stimme der Anruferin ließ auf eine Frau Ende Zwanzig, Anfang Dreißig schließen. Sie sagte nicht, von wo aus sie anrief, nur daß Daigo Freitag um siebzehn Uhr dreißig bei den Emerald Estates vorbeischauen würde. Daigo entnahm dies alles Mizushimas Wortschwall.

»Nachdem Sie mich gestern angerufen hatten, bekam ich noch einen Anruf von Fräulein Tsukawa, so gegen sieben. Ich muß schon sagen, sie ist wirklich eine reizende Person.«

Wer immer diese Person sein mochte, Daigos Frau war sie jedenfalls nicht. Um sieben am vergangenen Abend hatte sie ihm gerade sein Abendessen gemacht und auch kein besonderes Interesse gezeigt, als er die Emerald Estates erwähnte.

Wer also war sie?

Daigo mußte immer wieder an Fumiko Samejima denken, an die zufällige Begegnung mit ihr im Salon des Château Chantal. Vielleicht war der Ausdruck Begegnung übertrieben, sie hatten sich schließlich nicht einmal in die Augen sehen können. Dafür hatten sie in jener finsteren und stürmischen Herbstnacht ein berauschendes Erlebnis geteilt, das sich nicht auf dieser Welt abgespielt zu haben schien. Daigo zwang sich manchmal förmlich, daran zu denken, nur um sich zu bestätigen, daß es wirklich geschehen war.

Aber weshalb sollte Fumiko sich die Mühe machen, einen Immobilienmakler in Fukuoka anzurufen und einen Besichtigungstermin für ihn auszumachen? Er war felsenfest davon überzeugt, daß Fumiko ihm den Eilbrief geschickt hatte oder doch zumindest jene geheimnisvolle Fremde, die sich Tsukawa nannte. Sie hatte sogar noch einmal bei Mizushima angerufen, um sicherzugehen, daß Daigo die Verabredung einhalten würde. Warum? Was hatte sie vor? Aber wie sehr er sich auch den Kopf zerbrach, er fand keine Antwort darauf.

Sollte das Ganze tatsächlich eine Art Botschaft von Fumiko sein, würde er darauf eingehen und tun, was sie verlangte. Er spürte instinktiv, daß es das richtige war.

Dazaifu und Meinohama liegen sich auf den beiden gebirgigen Landzungen gegenüber, die Fukuoka flankieren. Bis sie im Wagen saßen, war es sechs Uhr, bis sie sich durch den Stoßverkehr gequält, die Häuser besichtigt, darüber gesprochen hatten und wieder im Büro waren, war es neun.

Mizushima erwartete allem Anschein nach, daß Daigo entweder gleich oder am nächsten Tag eine Anzahlung auf eins der beiden Projekte leisten würde. Daigo versicherte ihm, beide Häuser entsprächen mehr oder weniger seinen Vorstellungen, es hätten sich nur leichte Probleme seine Finanzierungspläne betreffend ergeben, sobald er diese jedoch gelöst hätte, würde er sich für eins der beiden entscheiden und sich wieder melden. Er verabschiedete sich vor dem mittlerweile geschlossenen Bürogebäude der Emerald Estates von Mizushima und ging in die Tiefgarage, in der er seinen Wagen abgestellt hatte.

Um zehn Uhr war Daigo wieder zu Hause in Washiro. Shihoko öffnete ihm wortlos die Tür. Er hatte ihr morgens etwas von einer Verabredung am Abend mit einem vorübergehend in der Stadt weilenden Kollegen von einer Universität in Osaka erzählt. Shihoko benahm sich wie immer, was er als Zeichen wertete, daß während seiner Abwesenheit keine Frau angerufen hatte.

Daigo wurde von Verzweiflung und Frustration geplagt: Er hatte mit einer zweiten Botschaft gerechnet und sie nicht bekommen. Während der ganzen Besichtigungstour hatte er immer wieder gespannt den Atem angehalten, ständig darauf gefaßt, Fumiko aus einem leeren Zimmer heraustreten zu sehen. Als er und seine Frau jetzt schlafen gingen, fühlte er sich ganz und gar ausgelaugt und erschöpft.

Der folgende Tag war ein Samstag, und Daigo schlief aus. Er mußte keine Vorlesungen halten, und wenn er auch an manchen Samstagen ins Labor ging, um an einem Experiment zu arbeiten, blieb er doch meistens zu Hause und las oder schrieb an einem Artikel für ein wissenschaftliches Magazin.

Um neun Uhr tauchte plötzlich Shihokos Kopf in der Schlafzimmertür auf. Daigo lag noch im Bett und las in einer Zeitschrift. »Ach, du bist noch gar nicht aufgestanden?« stellte sie verblüfft fest. »Da war ein Anruf.«

»Wer war es denn?«

»Ein Fräulein Tsukawa. Sie ist für das wissenschaftliche Ressort einer Tageszeitung zuständig.«

Ein Stromstoß zuckte durch Daigos Körper. »Bestimmt eine Reporterin«, erwiderte er mit bemüht fester Stimme und stieg aus dem Bett.

»Ja, richtig. Sie will dich heute noch sprechen, weil sie irgendwelche Vereinbarungen für eine Podiumsdiskussion, an der du teilnehmen sollst, mit dir treffen will. Es soll in einer Neujahrs-Sonderausgabe darüber berichtet werden.«

»Heute noch?«

»Ja, das hat sie jedenfalls gesagt. Sie hat das Treffen auf vierzehn Uhr im Lokalarchiv der Kreisbibliothek festgesetzt.«

»Ich sollte besser selbst mit ihr sprechen.«

»Sie hat schon wieder aufgelegt. Sie sagte, es wäre nicht gut für dich, wenn du die Verabredung versäumst, deshalb wollte sie dich noch einmal daran erinnern. Ich soll dir ausrichten, sie hofft, heute alle Vereinbarungen unter Dach und Fach zu bringen, und daß das Ganze etwa zwei Stunden dauern wird.«

»Sonst hat sie nichts weiter gesagt? Einfach eingehängt?« Er konnte die Enttäuschung in seiner Stimme nicht verbergen. Shihoko runzelte befremdet die Stirn.

»Sie meinte, ich bräuchte dich nicht extra ans Telefon zu holen, das wären viel zu viele Umstände. Sie war sehr nett.«

»Sie ist Reporterin, und du bist sicher, ihr Name war Tsukawa?«

»Ich bin ganz sicher.«

»Ich habe diese Verabredung total vergessen«, sagte er schnell. Er konnte sich natürlich ebenfalls an keine bevorstehende Podiumsdiskussion erinnern, aber jetzt hatte er wenigstens die Hoffnung, Fumiko zu sehen. Er glaubte plötzlich, eine schwache Spur ihres Parfums wahrzunehmen, und sehnte sich einen Augenblick lang verzweifelt nach dieser Frau, die er im Grunde gar nicht kannte.

Die Kreisbibliothek von Fukuoka ist im Kreiskulturzentrum in der Nähe der Sentabai untergebracht. Der Himmel war seit langem zum erstenmal wieder von tiefem, klarem Blau, doch der trockene, kalte Wind verriet, daß der Winter vor der Tür stand.

Daigo stellte seinen Wagen in einer Ecke des Vorhofs ab, den eine nostalgisch anmutende Doppelreihe von Pappeln und ein Springbrunnen zierten. Er betrat das Gebäude und ging in den ersten Stock. Am Eingang zum Lesesaal empfingen ihn die lachenden Gesichter zweier junger Mädchen. Normalerweise benutzte er die universitätseigene Bibliothek, kam jedoch zwei-, dreimal im Monat her, um Berichte aus Fachbüchern oder -zeitschriften zu kopieren, und kannte die drei Büchereiangestellten daher vom Sehen.

Der Lesesaal war für einen Samstagnachmittag ungewöhnlich voll. Auf der linken Seite befand sich ein winziges Kabäuschen – das Lokalarchiv. Die Ausgabetheke am Eingang war von einem einzigen jungen Mann besetzt. Es war fünf Minuten nach zwei, als Daigo den Saal betrat. Das Bewußtsein, etwas spät dran zu sein, machte ihn nervös.

Für gewöhnlich waren außer ihm höchstens noch vier oder fünf andere Besucher anwesend, aber heute stieß er gleich auf eine ganze Horde von Leuten, offensichtlich Oberschüler. Einige weitere Personen saßen vor aufgeschlagenen Büchern an den Tischen oder durchforsteten aufmerksam die Bücherregale. Doch damit nicht genug – es war keine einzige Frau dabei.

Daigo steuerte wie üblich auf die Regale mit Büchern über Umweltschutz zu. Dieser Raum der Bibliothek enthielt komplette Sammlungen über Lokalgeschichte, Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Umweltschutz. Was Themen betraf, die mit Landespflege zusammenhingen, war die Auswahl hier wesentlich größer als in der Universität.

Ohne den Eingang aus den Augen zu lassen, versuchte Daigo nervös, sich auf ein Buch mit Vergleichsstudien über die Wasserverschmutzung im Landkreis zu konzentrieren. Schließlich gab er es auf, ging mit dem Buch zum Bibliothekar und bat ihn, ihm zehn Seiten zu kopieren.

Um fünfzehn Uhr dreißig war immer noch niemand gekommen. Während der eineinhalb Stunden, die er gewartet hatte, waren mehrere weibliche Besucherinnen erschienen, doch keine hatte auf seinen forschenden Blick reagiert. Fräulein Tsukawa hatte seiner Frau am Telefon erzählt, daß das Treffen für zwei Uhr vereinbart war und etwa zwei Stunden dauern sollte. Er nahm sich vor, bis vier zu warten. Den Rest der Zeit vertrödelte er mehr damit, durchs Fenster das Wiegen der Pappeln im Wind zu betrachten, als in seinem Buch zu lesen. Um zehn nach vier verließ er die Bücherei.

Er war enttäuscht, wütend und seltsam unruhig. Es ärgerte ihn dermaßen, Fumiko verpaßt zu haben, daß es ihm schwerfiel, ruhig zu atmen. Er wußte nichts mit sich anzufangen; wenn er schnurstracks nach Hause ging, würde er Frau und Kinder wahrscheinlich nur nervös machen.

Zu guter Letzt tat Daigo etwas für ihn recht Untypisches – er verkroch sich mutterseelenallein in der Cocktailbar im zehnten Stock eines Hotels in der Stadtmitte. Es gab eine Menge kleiner Bars und Kneipen, die näher lagen, aber die waren um diese Zeit noch nicht geöffnet.

Daigo saß am Tresen, von wo aus er den Hafen überblicken konnte, und trank etwa die Hälfte seines Scotch mit Soda in einem Zug aus. Er ging noch einmal alles durch, was seit dem Eintreffen des Eilbriefs geschehen war, und versuchte sich einen Reim auf die Ereignisse zu machen, die diese Tsukawa-Person ins Rollen gebracht hatte. Dennoch schweiften seine Gedanken von Zeit zu Zeit zu seinem Konflikt mit Yoshimi und seiner verzwickten momentanen Lage ab. Er hatte zum wiederholten Mal das Gefühl, daß er von allen Seiten bedroht war, und kam sich mehr und mehr von der Welt abgeschnitten vor. Solche Grübeleien endeten bei ihm jedesmal in Unschlüssigkeit, Unsicherheit und vollkommener Entmutigung.

Draußen ging die Sonne langsam unter; das Meer war von einem eisigen Blaugrau, auf dem weiße Schaumkronen wippten.

Als Daigo kurz vor sieben nach Hause kam, stürzte eine völlig aufgelöste Shihoko auf ihn zu. »Da bist du ja endlich! Herr Yamada vom Labor versucht schon die ganze Zeit, dich zu erreichen. Es hat anscheinend einen schrecklichen Unfall bei Professor Yoshimi gegeben.«

»Einen Unfall?«

»Er hat mir nichts Genaues gesagt, aber Yoshimi –«

In diesem Augenblick klingelte das Telefon in der Eingangshalle. Daigo nahm den Hörer ab.

»Hallo – Daigo? Hier spricht Yamada.« Yamadas hohe Stimme klang vor Aufregung nasal.

»Meine Frau sagt, bei Yoshimi ist irgendwas passiert?«

»Ja. Er ist anscheinend tot.«

»Was!?«

»Seine Frau hat mich vorhin angerufen. Sie war den Nachmittag über unterwegs und kam gegen sechs zurück. Yoshimi war im Wohnzimmer zusammengebrochen.«

»Zusammengebrochen?«

»Na ja, irgend so was. Es war offenbar kein natürlicher Tod, denn sie haben sofort die Polizei alarmiert. Ich werde jetzt zu ihm fahren.«

Plötzlich schoß Daigo durch den Kopf: Das war also die Botschaft.

Zwei Fremde in der Dunkelheit

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