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PROLOG SYRIEN, IM SOMMER 2015

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Die Stadt ar-Raqqa, 200.000 Einwohner, liegt am Ufer des Euphrat. Der Euphrat ist ein breiter, träge dahinfließender Fluss. Seit vielen tausend Jahren gibt es hier Zivilisation. Eine erste Blütezeit erlebte ar-Raqqa im späten 8. Jahrhundert als Hauptstadt des abbasidischen Reiches. Harun ar-Raschid herrschte hier. In Westeuropa kennt man ihn als märchenhaften Kalifen aus den Geschichten von „Tausendundeiner Nacht“. Den Arabern und Persern ist er eher wegen seiner grausamen Herrschaftsmethoden in Erinnerung geblieben.

Im modernen Syrien jedenfalls ist ar-Raqqa als multikulturelle, liberale Stadt bekannt. Viele Kurden leben hier, Sunniten, Alawiten, Christen. Ar-Raqqa war stets ein lebendiges Handelszentrum. Hier kreuzen sich wichtige Verkehrswege, große Staudämme erzeugen Strom, Öl liegt unter dem Wüstenboden. Die Uferpromenade am Euphrat war bekannt für ihre Bars und Discos.

2011 begann die syrische Revolution mit ein paar Jugendlichen, die Parolen gegen den Diktator Baschar al-Assad auf Hauswände sprühten. Das war anfangs sehr weit weg, in Daraa, im entgegengesetzten südwestlichen Teil des Landes. Doch der Flächenbrand des Bürgerkriegs weitete sich rasch aus. Regierung gegen Aufständische, Milizen gegen Armee, Milizen gegen andere Milizen. In ar-Raqqa fanden Regierungsgegner aus dem ganzen Land Zuflucht: einerseits die weltlich orientierten Rebellen der Freien Syrischen Armee (FSA), andererseits jene von der islamischen al-Nusra-Front. Gemeinsam rissen sie im Zentrum der Stadt eine Assad-Statue um und jubelten.

Ar-Raqqa fühlte sich 2013 als die erste befreite Stadt des Landes. Menschen, die aus anderen Landesteilen vor Kämpfen flohen, zogen nach ar-Raqqa zu, die Einwohnerzahl wuchs in dieser Zeit rapide.

Doch schon bald tauchten seltsame Fremde in der Stadt auf. Vermummte Männer mit Bärten und schwarzen Fahnen. Sie kamen über die nahegelegene Grenze aus dem Irak und nannten sich „Islamischer Staat“ (IS). Sie schleppten Fahrzeuge und Kriegsgerät heran, zeigten Präsenz auf der Straße, markierten Territorien und begannen, die anderen Rebellengruppen systematisch einzuschüchtern. Man hatte Angst vor ihnen: Viele IS-Kämpfer waren ehemalige Soldaten aus Saddam Husseins Armee, gut geschult im Umgang mit Waffen. Innerhalb von ein paar Monaten hatten sie die letzten Christen aus der Stadt vertrieben und die Regierungsgebäude unter ihre Kontrolle gebracht. Der Großteil der al-Nusra-Rebellen lief auf ihre Seite über, die FSA-Rebellen hingegen ergriffen die Flucht. 2014 erklärte der IS ar-Raqqa zur Hauptstadt ihres Kalifats.

Westeuropa war von dieser Entwicklung beinahe ebenso überrumpelt worden wie die Bewohner von ar-Raqqa. Die Strahlkraft des Islamischen Staats wirkte, via Social Media, weit in unsere Gesellschaften hinein, speziell in die Kinderzimmer mancher junger Muslime der zweiten und dritten Generation. Zu Tausenden strömten sie aus der ganzen Welt ins Kalifat, auch aus Österreich. Sie wollten schießen und morden lernen, Ungläubigen das Fürchten lehren und Allah Kinder schenken. Nach ar-Raqqa brachten sie Red Bull und Nutella mit.

Der IS hatte am Ufer des Euphrat inzwischen begonnen, seine Terrorherrschaft zu errichten. Schulen wurden geschlossen, die Buben in Trainingscamps gelockt, viele Mädchen verschleppt. Eine Radikalvariante der Scharia ersetzte die Gesetze. Es wurden rigide Preiskontrollen für Gemüse eingeführt und Tanz und Musik verboten. Den Frauen wurde nicht nur die Vollverschleierung inklusive der Augen, sondern auch die Farbe der Schuhe (Schwarz) vorgeschrieben. Eine Sittenpolizei überprüfte die Einhaltung der vielen Regeln und der Gebetszeiten. Es gab öffentliche Hinrichtungen, Enthauptungen, Kreuzigungen. Leichen wurden an Panzer gekettet und demonstrativ durch die Stadt geschleift. Leichen wurden an Verkehrsknotenpunkten viele Tage lang ausgestellt, zur Abschreckung.

Im Geheimen entstand damals „Raqqa Is Being Slaughtered Silently“ (RBSS), ein Internetblog von Oppositionellen. Auf Arabisch hat dieser Name einen poetischen Klang. Anfangs arbeiteten die Bürgerjournalisten noch von ar-Raqqa aus, machten heimlich Fotos, schrieben Texte, verbreiteten sie. Nach der ersten Exekution eines Kollegen tauchten sie unter, flohen über die türkische Grenze – und machten weiter: Sie stellten Fotos, Bilder, Videos und Nachrichten online, die sie von Vertrauensleuten aus ar-Raqqa geschickt bekamen. RBSS war für die westliche Welt jahrelang die wichtigste unabhängige Informationsquelle aus dem Kalifat.

Es muss ein Leben wie im Gefängnis gewesen sein. Einem Gefängnis, das noch dazu aus der Luft angegriffen wurde: Amerikaner und Franzosen bombardierten den IS, die syrische Regierungsarmee bombardierte verschiedene Rebellengruppen und das eigene Volk, an ihrer Seite bombten auch die Russen, die türkische Armee bombardierte Kurden. Und alle Bomben trafen natürlich auch die Zivilbevölkerung.

Wer konnte, floh in dieser Zeit in ein Nachbarland. Aber dort waren schon so viele: 1,2 Millionen im Libanon; zwei Millionen in der Türkei. Die Grenzen waren zu dieser Zeit noch offen. Für die Türkei brauchten Syrer kein Visum. Sie konnten sich legal im Land aufhalten, aber versorgt wurden sie nicht. EU-Hilfe für Flüchtlingsprogramme war zwar versprochen, kam aber nicht an. So wohnten die Flüchtlinge in überteuerten Untermieten und wurden auf dem informellen Arbeitsmarkt ausgebeutet. Sie verdingten sich als Tagelöhner in der Landwirtschaft oder als Dienstboten. Ihre Kinder durften offiziell nicht in die Schule gehen. Familien, die bei ihrer Ankunft noch halbwegs wohlhabend waren, brauchten in dieser Zeit, Tag um Tag, ihre Ersparnisse auf.

Und so ist im Sommer 2015 der Punkt erreicht, an dem viele syrische Flüchtlinge in der Türkei keine Zukunft mehr sehen. Der Krieg in ihrer Heimat, wird ihnen klar, wird so bald nicht vorbei sein. Die Kinder müssen irgendwo wieder in die Schule gehen. Das letzte Geld ist bald weg. Und so kommen hunderttausende Menschen etwa gleichzeitig zu dem Schluss: Es reicht, wir gehen nach Europa!

Zwei Varianten gibt es für syrische Familien in jenen Tagen. Es ist eine Charakterfrage, für welche man sich entscheidet, doch sie wird weitreichende Folgen haben, bis heute. Die einen schicken jemanden voraus – meistens den Familienvater oder einen erwachsenen Sohn. Er soll die gefährliche Route über die Ägäis nehmen, sich nach Deutschland durchschlagen, einen Job, eine Wohnung finden und sich anschließend darum kümmern, den Rest der Familie nachzuholen – auf sicherem, legalem Weg, möglichst im Flugzeug.

Andere Familien sagen: Egal was passiert und egal wie gefährlich die Reise wird, wir fahren gemeinsam.

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