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WIEN, IM SEPTEMBER 2015

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Die Erschöpfung ist den Menschen anzusehen, die täglich am Hauptbahnhof und am Westbahnhof ankommen. Österreich ist im Ausnahmezustand. Man könnte auch sagen: Es mobilisiert seine besten Kräfte und zeigt, was es kann, wenn es will. An der österreichisch-ungarischen Grenze in Nickelsdorf wird über Nacht ein Empfangszentrum aus dem Boden gestampft: mit Decken, Essen, medizinischer Notversorgung, aber ohne Registrierung.

Von dort werden die Menschen nach Wien gebracht, mit Bussen, Sonderzügen, Taxis oder Privatautos. Am Westbahnhof hat die Caritas ein Versorgungsnetzwerk aufgebaut, an dem sich hunderte Freiwillige beteiligen – sie helfen bei der Essensverteilung, betreuen Kinder in einem eigens eingerichteten Kinderraum, stehen den Menschen mit Rat und Tat bei.

Am Hauptbahnhof, an der Hinterseite, dort, wo die Straßenbahn der Linie D unter den Eisenbahngleisen durchfährt, entstehen gleichzeitig selbstorganisierte Hilfsstrukturen. „Train of Hope“ heißt das komplexe, schillernde, basisdemokratische, unübersichtliche Wunderwerk aus privater Initiative. Es gibt eine Krankenstation, in der Ärztinnen und Ärzte erste Hilfe leisten. Es gibt Leute, die Kleider und Schuhe sammeln, sortieren und verteilen. Andere kümmern sich um Lebensmittelspenden und verwalten ein immer komplexer werdendes Lager, in dem von Bananen bis Haarshampoo fast alles angeboten wird. Andere nehmen Vermisstenmeldungen auf. Privatpersonen und Vereine bringen täglich Töpfe mit warmem Essen vorbei – am beliebtesten sind die Eintöpfe des Sikh-Kulturvereins.

Eine ganz besondere Rolle in dieser Zeit spielen österreichische junge Leute mit arabischer, persischer oder türkischer Muttersprache. Sie werden dringend zum Übersetzen gebraucht und erleben – häufig zum ersten Mal in ihrer Schul- oder Berufskarriere –, wie wichtig ihre Sprachkenntnisse sein können.

Die ankommenden Flüchtlinge allerdings sind völlig erschöpft. Viele von ihnen haben auf der strapaziösen Reise traumatische Dinge erlebt – sie waren in Seenot, wurden von Reisegefährten getrennt, sind in Panik, weil sie nicht wissen, wo ihre Angehörigen sind; oder sie haben, speziell in Ungarn, körperliche Gewalt oder Demütigungen erfahren. Die meisten haben keinen Groschen Geld mehr in der Tasche. Viele sind am Ende ihrer Kräfte, haben wunde Füße – und wollen doch, ihr Ziel Deutschland so knapp vor Augen, weiter.

In unserer Freiberufler-Bürogemeinschaft entsteht in dieser Zeit ein improvisiertes Übergangsquartier: Kleingruppen in unterschiedlichsten Konstellationen kommen für eine Nacht, ehe sie am nächsten Tag frühmorgens weiterziehen. Ein, zwei Dutzend Familien lernen wir auf diese Weise kennen – flüchtig, aber intensiv, so als richte ein Scheinwerfer sein Licht ein paar Stunden lang auf zufällig ausgewählte Biografien aus der ganzen Welt.

Da war die afghanische Familie, die mit ihren zwei Kindern auf dem Weg nach Schweden zu ihrem dritten, herzkranken Kind war, das dort in einem Spital im Sterben lag. Da war das syrische Pärchen, sie im neunten Monat schwanger, das sich an unserem Küchentisch darüber stritt, in welches Land sie weiterfahren sollten – er wollte nach Deutschland, sie zu ihrem Bruder nach Frankreich –, und in der Früh getrennte Wege ging. Da waren die drei somalischen Frauen, die, einen kleinen Buben bei sich, mit stoischer, beharrlicher Ruhe den größten Teil des Weges aus Afrika zu Fuß zurückgelegt hatten – in Plastikschlapfen, ein halbes Jahr lang, Schritt für Schritt.

Jedes Mal gab es: ein warmes Abendessen (ohne Schweinefleisch), eine Dusche, eine Nacht in einem richtigen Bett, ein Frühstück. Man schrieb ihre Vornamen auf, machte mit dem Handy Fotos, wünschte alles Gute. Man gab ihnen einen Rucksack mit, eine Jause, frische Socken, ein Lego-Auto für die Kinder, ein Überraschungsei. Zurück ließen sie kaputte Sandalen, Facebook-Adressen mit blumigen Profilen und das vage Versprechen, sich zu melden, wenn sie irgendwo in Deutschland angekommen seien. Bloß nicht innehalten, so knapp vor dem Ziel, sagten diese Rastlosen; immer weiter, immer weiter, morgen sind wir endlich dort.

Ich war viele Jahre lang Auslandsreporterin, gewöhnt, immer parat zu stehen, wenn irgendwo auf der Welt etwas passierte, und hinzufahren. Diesmal bleibe ich zu Hause. Die Welt kommt jetzt zu mir.

Bin ich zu ungeduldig?

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