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EUROPA, IM SOMMER 2015

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Wer sehen will, ahnt schon seit einigen Monaten, dass sich etwas anbahnt. Man sitzt im Railjet von Budapest nach Wien – mit Leuten aus Pakistan, die wahrscheinlich nicht kommen, um sich Schönbrunn anzuschauen. Auch an der Brenner-Grenze sind schon im Frühjahr viele Reisende unterwegs nach Deutschland, die anders ausschauen als die üblichen Touristen: viele junge Männer, einzeln oder in kleinen Gruppen, die meisten tragen nur eine Tasche mit ein paar Habseligkeiten bei sich. Aber man fragt nicht viel an den europäischen Grenzen. Es gilt ja das „Schengen“-Prinzip: keine Kontrollen.

Theoretisch gilt auch das „Dublin“-Prinzip: Demnach ist jenes EU-Land, das ein Flüchtling zuerst betritt, automatisch für das Asylverfahren zuständig. Aber Dublin ist in dieser Zeit de facto bereits abgeschafft. Dass die Flüchtlingsversorgung in Griechenland spätestens seit der Finanzkrise am Boden liegt, weiß man im Rest Europas schon länger. Wegen der unzumutbaren Zustände in den dortigen Lagern werden aus Österreich keine Rückführungen nach Griechenland mehr angeordnet. Doch nach außen hin wird das nicht laut gesagt. Man tut, als gälte Dublin noch und als wäre alles wie immer.

Schon im ersten Halbjahr 2015 haben tausende Flüchtlinge Griechenland verlassen und sich zu Fuß nach Norden auf den Weg gemacht, sie reisen durch Mazedonien, durch Serbien und weiter Richtung Ungarn. Und es kommen nach Griechenland stetig neue nach: An der türkischen Küste, gleich neben den Touristenstränden an der Ägäis, sind Sammelpunkte entstanden, wo Schlepper ganz offen ihre Dienste anbieten, Schwimmwesten und Schlauchboote bereitstellen und für die Überfahrt auf eine der griechischen Inseln Geld kassieren. In Kos, Lesbos, Samos gehen täglich einige hundert Menschen an Land. Staatliche Fähren bringen sie dann aufs griechische Festland.

Noch aber hat die westeuropäische Öffentlichkeit das Thema nicht so richtig auf dem Radar. Man spricht in diesem Sommer über die griechische Staatsschuldenkrise und die Frauen-Fußball-Europameisterschaft. Die Länder auf der Balkanroute versuchen, die Flüchtlinge so unauffällig wie möglich über die nächste Grenze weiterzureichen; sie beschleunigen ihre Durchreise, indem sie Busse und Züge bereitstellen. Nur Ungarn will dem anschwellenden Strom etwas entgegensetzen und kündigt an, an seiner EU-Außengrenze einen Grenzzaun hochzuziehen.

Das Buch „Flucht“ der Presse-Redakteure Christian Ultsch, Thomas Prior und Rainer Nowak zeichnet gut nach, wie aus diesen verschiedenen gleichzeitigen Dynamiken – Wegschauen, Beschleunigung, Abschottungsversuche – ein Sog entsteht, der immer mehr Menschen mitreißt. Flüchtlinge, die schon allzu lang in Lagern oder notdürftigen Unterkünften ausgeharrt haben, spüren: „Jetzt oder nie!“ Alle rundherum setzen sich in Bewegung. Wenn wir zu lange warten, fürchten sie, könnten wir übrig bleiben. Und irgendwann ist es zu spät.

Bin ich zu ungeduldig?

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