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Kapitel 6

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Nachdem ich ebenfalls das ›Café Wien‹ verlassen hatte, machte ich einen kleinen Abstecher zum Strand. Plötzlich verspürte ich den unwiderstehlichen Drang, ans Meer zu gehen, um den Kopf frei zu bekommen. Das tat ich immer, wenn meine Seele Freiraum brauchte. Und das war jetzt dringend der Fall. Die Vorstellung, dass Jan Britta mit einer anderen Frau betrog, verursachte mir ein beklemmendes Gefühl. Fast so, als wäre ich selbst betroffen. Ich konnte nur zu gut nachvollziehen, wie Britta sich fühlen musste. Nachdenklich ging ich die Strandstraße weiter in Richtung Meer. Überall in den Auslagen der Geschäfte wurde man an das nahende Osterfest erinnert. Bunte Eier, Hühner und Hasenfiguren in den unterschiedlichsten Größen, Farben und Ausführungen zogen die Aufmerksamkeit auf sich. Ich ging hinter dem Freizeitbad, der ›Sylter Welle‹, rechts die Strandpromenade ein Stück entlang, nachdem ich das Kontrollhäuschen für die Gästekarten passiert hatte. Der nette Mann darin kannte mich mittlerweile schon, begrüßte mich und winkte mich freundlich durch, ohne dass ich meinen Ausweis zeigen musste. Viele Spaziergänger waren unterwegs, sowohl auf der Seepromenade als auch unten am Strand. Die blau-weiß gestreiften Strandkörbe warteten zu Hunderten darauf, von den Urlaubern in Beschlag genommen zu werden. Sobald sie den Strand zierten, war dies ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Saison eingeläutet war. Eine große Silbermöwe thronte majestätisch auf einem der Körbe, als würde sie sich einen Überblick über ihr Reich verschaffen wollen. Der Himmel war mittlerweile ganz aufgerissen, und nur wenige weiße Wolkenfetzen wurden vom Wind über den Himmel getrieben. Das Wasser leuchtete in einem Farbspektrum von Dunkelgrün über Türkis bis hin zu Blau. Einige Surfer glitten elegant auf ihren Brettern durch das Wasser, um die perfekte Welle zu erwischen. Ihre schwarzen Neoprenanzüge glänzten in der Sonne. Ich lief die Promenade entlang, bis der asphaltierte Weg zu Ende war. Der Wind spielte in meinen Haaren und riss einzelne Strähnen aus meinem Pferdeschwanz. Pepper musste überall eifrig schnuppern. Nach einer Weile drehte ich um und trat den Rückweg unten an der Wasserkante an. Die Wellen krachten auf den Strand, die schäumende Gischt versprühte einen feinen Wassernebel, den ich auf meinem Gesicht spürte. Ich atmete tief ein, und meine Lippen schmeckten salzig. Pepper, der ohne Leine lief, wagte sich immer wieder ein Stückchen weiter ins Wasser und freute sich seines Lebens. Es war die reinste Freude, ihm zuzusehen. Sein schwarzes Fell war ganz nass und voll von Sand. Er hatte eine Braunalge gefunden, biss hinein und schlug sie sich begeistert um die Ohren. Dann weckte ein angespülter Holzstock sein Interesse, und die Braunalge geriet schnell in Vergessenheit. Auf der Höhe der Musikmuschel leinte ich Pepper an, und wir verließen den Strand über eine der kleinen Holztreppen, die es an jedem Strandabschnitt gab. Die Übergänge waren jeweils mit einem anderen Tiersymbol gekennzeichnet, beispielsweise einem Frosch. So konnten sich auch kleine Kinder gut merken, wohin sie mussten, wenn sie den Strand einmal verlassen sollten. Ich klopfte den Sand von meinen Schuhen und lief über die gut besuchte Friedrichsstraße zurück zu meinem Wagen, den ich in der Nähe in einer Seitenstraße geparkt hatte. Auf dem Heimweg machte ich schnell einen Abstecher zum Supermarkt, um etwas Essbares einzukaufen, da wir kaum frisches Obst und Gemüse zu Hause hatten.

Als ich gerade in unsere Einfahrt einbog, sah ich Ava aus unserer Gartenpforte kommen. Ava Carstensen lebte mit ihrem Mann Carsten ebenfalls in Morsum, keine fünf Minuten von uns entfernt. Ich hatte sie beide im Zuge meiner Erbschaft kennen und schätzen gelernt. Als der alte Besitzer noch lebte, hatten sie sich um das Haus und den Garten gekümmert. Sie waren beide herzensgute Menschen und lebten ihr gesamtes Leben hier auf der Insel. Sie hatten sie niemals verlassen, was in der heutigen Zeit kaum vorstellbar war. Nick und ich mochten das alte Ehepaar sehr gerne und liebten ihre Geschichten rund um die Insel Sylt und Morsum im Besonderen. Gelegentlich halfen sie uns, indem sie auf Pepper aufpassten, wenn wir verhindert waren, oder halfen bei kleineren Reparaturen im Haus. Im Gegenzug unterstützten wir sie, wenn sie Hilfe benötigten, oder nahmen sie mit dem Auto mit in die Stadt, da sie kein eigenes besaßen. Es war ein Geben und Nehmen.

Ava winkte mir zu, als sie meinen Wagen erkannte, und ich hielt auf dem Parkplatz vor dem Haus. Ich stellte den Motor ab und stieg aus, um sie zu begrüßen.

»Moin, Ava, schön dich zu sehen! Ich hoffe, es geht euch gut. Was macht Carsten?«

»Moin, Anna! Danke, wir können nicht klagen. Carsten hat es mit dem Rücken zu tun, aber wir sind halt alte Leute. Da kommt das häufiger vor«, antwortete sie und winkte in ihrer stets bescheidenen Art ab.

»Ich glaube, Rückenschmerzen sind heutzutage keine Frage des Alters mehr«, erwiderte ich. »Was führt dich zu uns? Kann ich dir behilflich sein?«

»Nein, ich bin nur kurz vorbeigekommen, um euch einen Kuchen zu bringen, den ich frisch gebacken habe. Er steht vor der Haustür. Ich dachte mir, dass ihr nicht zu Hause seid, weil keines der Autos auf dem Parkplatz stand. Außerdem hat Pepper nicht angeschlagen, als ich geklingelt habe. Carsten hatte mir geraten, ich solle lieber vorher anrufen, aber ein kleiner Spaziergang bei dem schönen Wetter schadet in keinem Fall, und den Kuchen klaut ja niemand hier draußen.«

Sie lächelte mich freundlich an, und ihre hellwachen Augen blitzten in ihrem faltigen Gesicht.

»Stimmt. Ich war in Kampen auf einer Baustelle und habe Pepper mitgenommen. Aber herzlichen Dank! Ein Kuchen von dir ist immer eine leckere Angelegenheit. Da freue ich mich jetzt schon drauf. Möchtest du nicht mit ins Haus kommen? Ich mache uns schnell einen Tee.«

»Nein, danke, das ist sehr lieb von dir, Anna, aber ich muss los. Ich möchte Carsten nicht so lange alleine lassen. Du weißt ja, wenn Männer krank sind!« Sie lachte schelmisch. »Lasst euch den Kuchen schmecken.«

»Ganz bestimmt. Danke noch mal, Ava! Viele Grüße und gute Besserung an Carsten!«, erwiderte ich zum Abschied.

»Das werde ich ausrichten und Grüße auch an Nick«, sagte sie und machte sich auf den Weg nach Hause.

Jetzt befreite ich Pepper aus dem Auto, der uns die ganze Zeit über durch die Heckscheibe beobachtet hatte, und schloss zunächst die Haustür auf. Dann hob ich den Kuchen vorsichtig von den Steinplatten vor der Tür auf, bevor Pepper seine Nase neugierig unter die Alufolie stecken konnte, und trug ihn in die Küche, wo ich ihn auf dem großen Esstisch abstellte. Ich schielte kurz unter die Folie. Der Kuchen sah nicht nur sehr lecker aus, er roch auch äußerst verführerisch. Anschließend entlud ich mein Auto und verstaute die gekauften Lebensmittel in der Küche und dem angrenzenden Vorratsraum. Während ich damit beschäftigt war, musste ich an Britta denken. Vielleicht sah die Welt morgen schon ganz anders aus und Brittas Befürchtungen hatten sich in Luft aufgelöst. Sicherlich war alles nur ein großes Missverständnis, und es gab eine ganz einfache Erklärung für Jans Verhalten. Ich wünschte es ihr.

Am späten Nachmittag kam Nick nach Hause. In der Zwischenzeit hatte ich erste Ideen zu meinem Gartenprojekt aufgeschrieben und mit den Skizzen begonnen. Ich saß gerade oben in meinem Arbeitszimmer, als ich die Haustür hörte. Pepper, der unter meinem Schreibtisch auf einer Decke lag und geschlafen hatte, hob den Kopf und stürmte augenblicklich die Treppe nach unten. Seine Krallen gaben auf den Holzstufen ein klackendes Geräusch von sich. Unten in der Diele hörte ich Nicks Stimme, als er den Hund begrüßte. Scheinbar hatte Pepper so fest geschlafen, dass er das Auto nicht hatte kommen hören.

»Ich bin hier oben, Nick!«, rief ich laut.

Gleich darauf hörte ich Nicks Schritte auf der Treppe. Er kam ins Zimmer, umarmte mich von hinten und küsste mich zärtlich auf die Wange.

»Hallo, Sweety, bist du fleißig?«, fragte er und blickte über meine Schulter hinweg auf meinen Skizzenblock.

»Ja, ich war heute Vormittag in Kampen und habe mir alles vor Ort angesehen. Hier, das sind die ersten Ideen! So in etwa stelle ich mir das vor, wenn es fertig ist. Hier eine Sitzecke, eingerahmt von einer Hecke aus Hortensien. Da drüben könnte man einen Kugelamber pflanzen, der hat im Herbst so wunderschön gefärbtes Laub. Erinnert an Indian Summer. Wie gefällt es dir?«

Ich deutete stolz auf den Entwurf, den ich gezeichnet hatte.

»Ja, das wird bestimmt schön, bei den vielen Ideen, die du hast. Du wirst dich vor Aufträgen wahrscheinlich gar nicht mehr retten können, wenn sich erst mal herumgesprochen hat, wie talentiert du bist«, flüsterte Nick mir ins Ohr, schob mit der Hand mein langes Haar zur Seite und begann, meinen Hals zu küssen.

»Nick, ich muss doch arbeiten«, wehrte ich mich halbherzig, denn ein wohliger Schauer durchlief meinen Körper.

»Schade«, seufzte er daraufhin und richtete sich auf. »Dann gehe ich mich umziehen.«

»Mach das. Anschließend können wir eine Kleinigkeit essen. Ava war vorhin da und hat einen frisch gebackenen Kuchen vorbeigebracht.«

»Klingt verlockend«, bemerkte Nick auf dem Weg ins Schlafzimmer.

»Ich soll dir schöne Grüße bestellen!«, rief ich ihm hinterher.

Er antwortete etwas, aber ich verstand es nicht. Ich legte Stift und Lineal beiseite und ging die Treppe nach unten. In der Küche stellte ich erst den Wasserkocher an und schaltete dann die Kaffeemaschine ein. Mit einem großen Messer schnitt ich den Kuchen an, nachdem ich die Alufolie entfernt und ihn auf eine runde Kuchenplatte gestellt hatte. Beim Schneiden bröselten kleine Stückchen der Schokoglasur ab. Ich tupfte sie behutsam mit dem Zeigefinger auf und steckte sie in den Mund. Einfach köstlich. Für Schokolade tat ich fast alles.

Nachdem Nick und ich von dem leckeren Kuchen gegessen hatten und eine Runde mit dem Hund gegangen waren, machten wir es uns anschließend auf dem Sofa gemütlich. Draußen war es bereits dunkel, es hatte sich bezogen und Nieselregen eingesetzt. Nick zappte durch das Fernsehprogramm und blieb schließlich bei einer Dokumentation über Windkraftanlagen vor der Nordseeküste hängen. Unter anderem wurde dort über den Windpark vor Sylt berichtet. Bei klarer Sicht konnte man die Windräder vom Westerländer Strand aus sehen. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu und blätterte nebenbei in einer Zeitschrift.

»Spuck’s schon aus. Was ist los? Irgendetwas beschäftigt dich doch«, sagte Nick plötzlich, stellte den Ton des Fernsehers auf lautlos und betrachtete mich aufmerksam.

»Wie kommst du darauf?«, fragte ich überrascht und sah von meiner Zeitschrift auf.

»Mittlerweile kenne ich dich ganz gut und habe das Gefühl, dass irgendetwas in deinem hübschen Kopf herumschwirrt. Du machst einen nachdenklichen Eindruck – oder sollte ich mich etwa täuschen?«

Ich zögerte kurz und überlegte, ob ich Nick von Brittas Verdacht erzählen sollte und entschied mich schließlich dafür.

»Du hast recht. Da gibt es wirklich etwas, was mich momentan beschäftigt.«

»Und das wäre? Hast du Bedenken, dass du das mit dem Grundstück nicht schaffst?«

»Nein, das ist es nicht. Es geht um Britta und Jan. Ich habe mich heute Vormittag mit Britta in Westerland getroffen, nachdem ich auf der Baustelle war«, berichtete ich. »Sie gefällt mir gar nicht im Moment.«

Nick legte die Stirn in Falten.

»Ist sie krank? Oder Jan? Gibt es Probleme mit den Kindern?«

»Nein, nichts von alledem.« Ich schüttelte verneinend den Kopf. »Sie hegt den Verdacht, dass Jan ein Verhältnis mit einer anderen Frau hat.«

Nick stutzte. »Eine Affäre? Jan?« Er sah mich skeptisch an. »Hat Britta denn konkrete Hinweise? Gibt es Beweise für ihre Vermutung?«

»Jetzt klingst du aber sehr nach einem Polizeibeamten.«

Ich konnte mir trotz des Ernstes der Lage für einen kurzen Augenblick ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Nein, sie findet in letzter Zeit Jans Verhalten äußerst merkwürdig. Wenn sie ihn darauf anspricht, spielt er die ganze Sache herunter. Sie würde sich das alles nur einbilden. Es sei alles in bester Ordnung.«

»Das ist es wahrscheinlich auch. Ehrlich, Anna, bei Jan kann ich mir das wirklich nicht vorstellen, dass er seine Frau betrügen sollte. Nein, niemals.«

Nick lehnte sich zurück, streckte seine langen Beine aus und legte einen Arm um mich. Ich kuschelte mich an ihn. Dann begann er, meinen Nacken zu kraulen. Ich seufzte.

»Na, ich wünsche mir, dass du recht behältst. Ich kann es mir auch nicht vorstellen. Das habe ich Britta gesagt. Dafür ist er viel zu bodenständig und konservativ. Eher sogar ein bisschen träge. Und schon gar kein Womanizer!«

»Aha. Ist das so?«, fragte Nick mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Ja, findest du nicht? Also, für mich wäre er sowieso kein Mann.«

»Soso. Na, da kann ich ja beruhigt sein«, verkündete Nick mit einem amüsierten Grinsen im Gesicht.

Ich zwickte ihn spielerisch in die Seite. Dann lehnte ich meinen Kopf fest gegen seine Brust und konnte seinen gleichmäßigen Herzschlag hören.

»Das klärt sich alles. Ganz bestimmt«, fügte Nick hinzu, schloss seine Arme um mich und küsste mich aufs Haar.

Syltleuchten

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