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Kapitel 2

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»Volker, das Telefon klingelt!«, rief Maria Bergmann aus der Küche in den Flur. »Gehst du bitte ran? Ich kann gerade nicht weg. Volker? Hast du mich gehört?«

»Ja, ich gehe ja schon«, antwortete ihr Mann knurrig. »Du brauchst nicht so zu schreien, ich bin schließlich nicht schwerhörig.«

Er setzte die Brille ab, erhob sich von seinem Stuhl und ging zum Telefon, das neben dem Wohnzimmerfenster auf der Anrichte stand. Seine Frau wusch sich schnell die Hände, die vom Apfelschälen ganz klebrig waren. Am Nachmittag sollten Freunde zu Besuch kommen, und sie wollte ihren berühmten Apfelstrudel backen. Sie bereitete ihn nach einem alten Familienrezept zu, das sie von ihrer Großmutter hatte. Während sie die Äpfel viertelte, das Kerngehäuse sorgfältig entfernte, sie schälte und anschließend in dünne Spalten schnitt, wanderten ihre Gedanken zu ihrer Tochter Anna. Sie wohnte seit Kurzem auf der nordfriesischen Insel Sylt, dem nördlichsten Fleckchen von Deutschland. Seit ihrem Umzug waren zwar erst einige Monate vergangen, aber Maria Bergmann vermisste ihre Tochter bereits jetzt sehr. Anna hatte den größten Teil ihres bisherigen Lebens in Hannover verbracht. Nicht weit von ihren Eltern entfernt, hatte sie vor knapp zwei Jahren eine kleine Eigentumswohnung erworben. Eigentlich war sie gerade dabei gewesen, die Wohnung zu verschönern, da kam alles anders, und sie zog nach Sylt. Auch wenn Maria Anna nicht ständig sah, so wusste sie doch, dass sie ganz in ihrer Nähe war. Sie hätte sie jederzeit sehen können. Und heute hätte sie ihr schnell einen frischen Apfelstrudel vorbeigebracht. Anna aß ihn so gerne, am liebsten warm aus dem Ofen mit einem Klecks frischer Schlagsahne. Sie seufzte bei dem Gedanken an ihre Tochter. Natürlich war Anna mit fast 30 Jahren längst erwachsen und lebte ihr eigenes Leben, in das sie sich als Mutter nicht einmischen wollte. Aber dennoch fiel es Maria Bergmann schwerer, ihr einziges Kind loszulassen, als sie es sich manchmal eingestehen wollte. Die gewohnte Nähe fehlte ihr. Zwischen ihnen lagen nun mehr als 300 Kilometer.

»Bergmann«, hörte sie ihren Mann Volker sagen, als er das Gespräch annahm und somit das Klingeln verstummte.

Am Telefon sprach er immer lauter als gewöhnlich. Seine Mutter war mit der Zeit zunehmend schwerhöriger geworden, da hatte er es sich angewöhnt, beim Telefonieren lauter zu sprechen, damit er nicht immer alles zweimal sagen musste. Marias Schwiegermutter war zwar mittlerweile verstorben, aber Volker hatte das laute Sprechen beibehalten. Daher konnte Maria ihn selbst in der Küche noch gut verstehen. Sie verteilte die Apfelspalten in der Mitte des vorbereiteten, hauchdünn ausgerollten Teiges, streute Rosinen, eine Mischung aus Zimt und Zucker und zuletzt die gehobelten Mandeln darüber. Anschließend verschloss sie alles mit den überstehenden Teigrändern, bis die gesamte Füllung vom Teig bedeckt wurde. Als Nächstes bepinselte sie den Strudel mit flüssiger Butter, damit er später von außen goldbraun und schön knusprig wurde. Dann schob sie das Blech mit dem Apfelstrudel in den vorgeheizten Backofen und stellte die Uhr am Ofen auf die entsprechende Backzeit ein. Jetzt spülte sie sich erneut die Finger unter fließendem Wasser ab. Sie ging neugierig ins Wohnzimmer und wischte sich auf dem Weg dorthin die nassen Finger an ihrer Schürze trocken. Fragend sah sie ihren Mann an, während er telefonierte. Aber er war so auf das Telefonat konzentriert, dass er ihr keine Beachtung schenkte. Sie lehnte sich gegen den Sessel und wartete geduldig ab. Dabei zupfte sie mit den Fingern einige kleine Fussel von der Lehne. Gestern hatte sie einen Pullover aus Angorawolle getragen, und der hatte ganz offensichtlich seine Spuren auf dem Möbelstück hinterlassen. Das konnte man im Tageslicht deutlich erkennen, denn gestern Abend war es ihr nicht aufgefallen.

»Das war die Praxis von unserem Hausarzt«, erklärte ihr Mann Volker und stellte das Telefon auf die Basisstation, ehe Maria fragen konnte.

»Und? Was haben sie gesagt? Es ist doch nichts Schlimmes, oder Volker? Das Telefonat hat so lange gedauert.«

»Nein, ich musste zwischendurch kurz warten. Sie haben mir mitgeteilt, dass meine Blutwerte absolut in Ordnung sind. Und so ein anderer bestimmter Wert auch, die Sprechstundenhilfe hat es mir alles genau vorgelesen, aber ich habe vergessen, was es war. Jedenfalls kannst du ganz beruhigt sein, Maria, es ist alles im grünen Bereich, kein Grund zur Besorgnis. Ich wäre ausgesprochen fit für mein Alter, meinte sie. Was immer sie mir damit sagen wollte.« Er runzelte im Nachhinein die Stirn.

Seine Frau hörte ihm aufmerksam zu.

»Na, Gott sei Dank. Brauchst du keine Medikamente mehr nehmen?«, wollte sie wissen.

»Meine Tabletten muss ich trotzdem weiternehmen, das hat damit nichts zu tun. Das neue Rezept ist fertig, und ich kann es jederzeit abholen. Ich werde mich gleich auf den Weg machen. Sonst ist es später im Feierabendverkehr überall so voll. Außerdem kriegen wir nachher Besuch, da kann ich nicht weg. Brauchst du etwas aus der Apotheke oder sonst irgendetwas von unterwegs?«

»Nein, aber du kannst auf dem Rückweg bei der Post halten und die da einwerfen.«

Sie deutete auf zwei Briefe, die mit einer Briefmarke versehen auf der Kommode im Flur lagen.

»Kann ich machen. Du brauchst sonst wirklich nichts?«

»Nicht, dass ich wüsste. Im Moment fällt mir jedenfalls nichts weiter ein«, erwiderte seine Frau und dachte angestrengt nach. Dabei runzelte sie die Stirn. »Für heute Nachmittag habe ich eigentlich alles, und morgen muss ich sowieso einkaufen.«

»Gut, dann bin ich bald zurück. Wenn dir etwas einfallen sollte, kannst du mich auf meinem Handy erreichen. Vielleicht fahre ich auf dem Weg zum Tanken. Kommt darauf an, wie günstig das Benzin ist. Abends ist es meistens billiger.«

Mit diesen Worten zog er seine Jacke an, griff nach den Briefen auf der Kommode und dem Autoschlüssel daneben und verließ das Haus. Gerade als die Haustür hinter ihm ins Schloss gefallen war, klingelte erneut das Telefon. Maria Bergmann war gerade im Begriff, in die Küche zu gehen. Sie machte kehrt und ging zielstrebig ins Wohnzimmer, wo sie nach dem Telefonhörer griff. Wer kann das sein, überlegte sie auf dem Weg dorthin. Vielleicht war es ihre Tochter Anna.

»Bergmann!«, flötete sie daher fröhlich ins Telefon.

Sie war erleichtert darüber, dass Volkers Blutuntersuchung ohne Befund war. Ein mulmiges Gefühl hatte sie im Vorfeld doch gehabt, weil man nie wusste, was bei diesen Untersuchungen herauskam. Dabei war sie kein ängstlicher oder pessimistischer Mensch, der stets mit dem Schlimmsten rechnete. Umso mehr freute sie sich über das gute Ergebnis. Da hatte sich die Umstellung auf cholesterinarme Ernährung gelohnt. Sie hatte eigens dafür ein spezielles Kochbuch angeschafft und streng nach den darin vorgeschriebenen Angaben gekocht. Nicht selten dem Protest von Volker zum Trotz, der das Ganze für völlig überzogen hielt. Er wäre bislang auch ohne diesen Schnickschnack über 60 Jahre alt geworden, hatte er stolz verkündet. Aber letztendlich konnte sie ihn davon überzeugen, dass es besser für ihn sei, denn er hatte ja die schlechten Blutwerte gehabt.

»Hallo, Maria, hier ist Marcus. Ich hoffe, ich störe dich nicht bei etwas Wichtigem«, meldete sich eine Männerstimme am anderen Ende der Leitung.

»Marcus!«, antwortete Maria Bergmann nach einer kurzen Pause. Vor Schreck wäre ihr beinahe das Mobilteil des Telefons aus der Hand gefallen. Sie konnte ihre Überraschung über diesen unerwarteten Anruf kaum verbergen. »Mit dir habe ich ehrlich gesagt überhaupt nicht gerechnet.«

»Das kann ich mir gut vorstellen.« Er lachte künstlich. »Es ist lange her, dass wir uns gesprochen haben.«

»Über zwei Jahre, in der Tat. Was verschafft mir die Ehre? Anna ist jedenfalls nicht da, falls du mit ihr sprechen wolltest.« Maria hatte sich gefasst und zügelte bewusst ihre Freundlichkeit auf ein geringes Maß.

»Das weiß ich. Ich habe gehört, dass sie nicht mehr in Hannover wohnt. Neulich habe ich eine ehemalige Kollegin von ihr in der Stadt getroffen. Wir haben uns kurz unterhalten, und da erwähnte sie, dass Anna ihr ihre Wohnung vermietet hat.«

»Richtig, Anna wohnt nicht mehr in Hannover. Außerdem glaube ich nicht, dass sie mit dir sprechen würde, selbst wenn sie noch hier wäre«, sagte Maria mit fester Stimme, während sie vor dem großen Fenster im Wohnzimmer auf und ab ging wie ein Tier in einem Käfig.

Sie blickte dabei in den Garten, der langsam aus seinem Winterschlaf erwachte. Es war Ende März. Der Winter mit seinem vielen Schnee hatte längst das Feld geräumt, und der Frühling hielt mit aller Macht Einzug. Die Tage wurden spürbar länger, und nachts war es nicht mehr so bitterkalt. Hier und dort waren die ersten zaghaften Triebe der Tulpen zu erkennen, die sich in sattem Grün aus dem Boden gen Himmel reckten. Die Krokusse waren dagegen fast verblüht. Ihre bunten Blütenblätter hingen bereits schlapp herunter. Ihr Anblick war erbärmlich und traurig zugleich. Nur spätere Sorten erstrahlten noch in ihrer ganzen Pracht und erfreuten das Auge des Betrachters mit ihren kräftig leuchtenden Farben. Die Büsche und Bäume hatten teilweise dicke Knospen, die nur darauf warteten, von den ersten wärmenden Sonnenstrahlen wachgeküsst zu werden. Rundherum erwachte alles zu neuem Leben. Eine Amsel war gerade dabei, mit ihrem gelben Schnabel in dem Beet an der Terrasse herumzustochern. Der Vogel hatte Glück, dass Volker nicht zu Hause war. Er hätte das Tier sicherlich verscheucht, da es den ganzen Rindenmulch aus dem Beet auf die Steine der Terrasse schleuderte und er anschließend alles zurück ins Beet fegen musste. Darüber konnte er sich jedes Mal furchtbar aufregen.

»Ja, es tut mir schrecklich leid, wie damals alles gelaufen ist«, fuhr Marcus fort und riss Maria aus ihren Gedanken. »Anna ist so eine wunderbare Frau. Ich war wirklich ein Idiot. Das ist mir erst viel zu spät bewusst geworden. Wenn ich die Zeit doch nur zurückdrehen könnte! Ich würde heute so vieles anders machen, das kannst du mir glauben.«

»Marcus«, unterbrach Maria ihn energisch, »was willst du? Warum rufst du an? Doch bestimmt nicht, weil dir langweilig ist und du mit deiner ehemaligen Fast-Schwiegermutter über die Vergangenheit plaudern willst oder über verpasste Chancen, die du sowieso nicht mehr beeinflussen kannst.«

»Ach, ich habe neulich ein paar Sachen aufgeräumt, und da ist mir eine Schachtel mit Briefen, Fotos und diversen Kleinigkeiten in die Hände gefallen. Sie gehört Anna. Ich wollte sie nicht wegwerfen und dachte, sie würde die Sachen bestimmt gerne zurück haben. Solche Erinnerungsstücke waren ihr in der Vergangenheit immer sehr wichtig gewesen«, sagte Marcus mit leicht wehmütigem Ton in der Stimme.

»Du kannst die Sachen gerne bei Gelegenheit bei uns vorbeibringen. Unsere Adresse kennst du, die hat sich nicht geändert. Ich gebe Anna die Sachen, wenn wir sie das nächste Mal sehen.«

»Prinzipiell wäre das kein Problem, aber ich bräuchte darüber hinaus dringend eine Unterschrift von Anna.« Maria Bergmann kräuselte skeptisch die Stirn. »Es geht um eine Versicherung, die wir damals zusammen abgeschlossen haben«, fuhr Marcus fort. »Eigentlich keine große Sache, aber es gibt eine Frist, die in Kürze abläuft. Die habe ich verschlafen, um ehrlich zu sein, und deshalb drängt die Zeit.« Er lachte verlegen. »Deshalb würde ich Anna gerne alles so schnell wie möglich auf dem Postweg zukommen lassen. Könntest du mir ihre neue Adresse geben? Danach werde ich sie nicht länger belästigen, versprochen. Und euch auch nicht.«

Maria Bergmann zögerte einen Moment lang und überlegte, ehe sie antwortete. Wenn es wirklich nur um diese eine Unterschrift ging, würde Anna sicherlich nichts einzuwenden haben, wenn sie Marcus die neue Anschrift gab. Sie wollte nicht, dass ihre Tochter Ärger bekam, nur weil sie ihretwegen diese Unterschrift nicht fristgerecht leisten konnte. Sie wusste zwar nicht, wie wichtig diese Versicherung war, aber Volker war bei solchen Dingen sehr korrekt. Und danach gehörten die alten Geschichten endgültig der Vergangenheit an, das hatte Marcus ihr eben versprochen.

»In Ordnung. Aber das ist wirklich das letzte Mal, dass ich dir einen Gefallen tue. Ich möchte nicht, dass Anna Ärger bekommt. Also, hast du etwas zu schreiben?«

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