Читать книгу Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen - Sibylle Reith - Страница 3

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Einleitung

Diese Einleitung ist gleichzeitig die Zusammenfassung der wesentlichen Inhalte dieses Buches.

Als ich vor vielen Jahren begann, mich mit meiner eigenen multisystemischen Erkrankung auseinanderzusetzen, ahnte ich nicht, dass mich dieses Thema so packen würde, dass ich, nachdem ich meinen Beruf als Lehrerin aufgegeben hatte, mehrere Jahre mit wissenschaftlicher Recherche verbringen würde. Ich ahnte auch nicht, welche Komplexität mich erwartete und auch nicht, in welches Spannungsfeld ich mich begeben würde.

Ein dreipoliges Spannungsfeld

Auslöser meiner Recherchen war die Erkenntnis, dass die medizinische Irrfahrt, die ich erlitt, nicht nur mir widerfuhr, sondern dass ich Teil einer viel tausendköpfigen „Community der multisystemisch Erkrankten“ war – die Mitglieder dieser unfreiwilligen Gemeinschaft verschwanden jedoch – und verschwinden noch heute – aus der Gesellschaft.

Die unzureichende Versorgung, die ich erlebte, war nicht nur mein persönliches, sondern war – und ist – ein strukturelles Problem.

Ich wollte verstehen, begab mich auf die Suche und fand mich in einem dreipoligen Spannungsfeld aus Motivation, Faszination und Abscheu wieder.

Motivation

Während ich selbst mich langsam, über Jahre, regenerieren konnte (heute, mit 60 Jahren geht es mir wesentlich besser als im Alter von 40 Jahren) erlebte ich Menschen, die aufgrund ihrer multisystemischen Erkrankungen schwer krank, behindert, bettlägerig und/oder pflegebedürftig waren. Die Gemeinsamkeit zwischen uns allen war, dass die organischen Regulations-Systeme chaotisiert zu sein schienen, der ganze Organismus lief nicht rund – ohne dass ein Organ als Übeltäter ausfindig gemacht werden konnte. Die übliche Standard-Diagnostik konnte keine Auskunft geben. Die diagnostischen Werte schienen nicht die relevanten zu sein. Unsere Art von Erkrankung fand sich nicht in den Krankheits-Registern. An welche Fachdisziplin sollten wir uns wenden? Keine passte.

Faszination

Einige wenige engagierte Behandler kümmern sich – trotz widriger Rahmenbedingungen (!) – dankenswerter Weise um Patienten mit den scheinbar „medizinisch unerklärlichen“ Symptomen. In ihren Publikationen zeigen sie, dass mit Hilfe spezifischer Laboruntersuchungen Befunde ans Licht kommen, die mit den üblichen Standard-Untersuchungen und der Routine-Labordiagnostik nicht gefunden werden.

„Medizinisch nicht erklärbar“ wurde damit zu „Nicht auffindbar mit der üblichen Diagnostik“.Vielfach entpuppt sich, was allzu oft und nur scheinbar folgerichtig, als „medizinisch unerklärliche“, bzw. psychische Erkrankung etikettiert wird, anhand objektivierbarer Befunde als (schwerwiegende) behandlungsbedürftige (und zumindest segmental behandelbare!) immunologische und metabolische – also primär organische – Entgleisung.

Doch was wird da untersucht? Zuerst stieß ich auf die Mitochondrien-Medizin und in der Folge auf hochspannende, multidisziplinäre Wissenschaftsfelder. Wie bei einem Puzzle ergab sich daraus das Grundmuster eines komplexen, multisystemischen Krankheitsverständnisses.

Abscheu

Die Medizingeschichte der multisystemischen Komplex-Erkrankungen entpuppte sich als ein Jahrzehnte währender, historisch einmaliger medizinwissenschaftlicher Streit, der eine ganze Gruppe von Erkrankungen betrifft und der in der öffentlichen Debatte dennoch nur marginal wahrgenommen wurde und wird. Es ist eine Geschichte der Kontroversen, Dissense, Petitionen, Offenen Briefe, Auseinandersetzungen um medizinische Leitlinien (mit Konsequenzen für Diagnostik und Therapie) und Anfragen an den Bundestag.

Diskurse sind wichtige kommunikative Instrumente der Auseinandersetzung. Aber wenn wissenschaftliche Erkenntnisse ignoriert werden, wenn Patienten aufgrund der Komplexität ihrer Erkrankung ins Abseits verschoben werden, wenn selbst die medizinische Grundversorgung nicht gewährleistet ist, wenn von Seiten der Behörden keine Unterstützung zu erwarten ist, wenn diese Kontroversen also unbeschreibliches Leid und soziale Not insbesondere für schwer Betroffene mit ohnehin geringer Lebensqualität nach sich ziehen – dann entsteht Abscheu.Die Abscheu bringt uns nicht weiter. Das Thema erfordert die Aufklärung aller Beteiligten: Der Patienten, der Behandler und der Entscheider im Gesundheits- und Sozialwesen.

„Multisystemische Erkrankungen“

Behandler berichten über eine stetig wachsende Anzahl von Patienten mit immer komplexeren Beschwerdemustern in sehr heterogenen Patientengruppen, die sich nur schwer klassifizieren lassen. Auch die Verläufe und die Schweregrade unterscheiden sich, oft sind die Beschwerden massiv und lebensverändernd.

Kann es sein, dass wir heute massenhaft auftretende gesundheitliche Beschwerdebilder erleben, für die es bislang keinen geläufigen Begriff gibt?

Die Art und Stärke reicht von unklaren Symptomen wie Grippegefühl oder Benommenheit bis hin zu schweren und schwersten Einschränkungen der Lebensqualität mit Arbeitsplatzverlust, Behinderungen und Pflegebedarf. Bei diesen Erkrankungsausprägungen läuft das Räderwerk der ineinandergreifenden Regulations-Systeme nicht rund, die zahlreichen Beschwerden lassen sich jedoch kaum lokalisieren, bleiben ohne Erklärung und werden deshalb verharmlost. Manche Patienten erleben, dass sie offen oder versteckt das Etikett „Hypochonder“ erhalten oder dass hinter vorgehaltener Hand gar von „Krankheitsgewinn“ die Rede ist. Die Beschwerden, z. B. Schmerzen, sind jedoch durchaus real und in den meisten Fällen alles andere als kleine Malaisen.

Solche komplexen Erkrankungen werden von mehreren Autoren als „Erworbene multisystemische Erkrankungen“ bezeichnet. Sie gehören zu den umstrittensten und anspruchsvollsten Krankheitsbildern.

Das sogenannte Post-COVID-Syndrom/PCS, (auch „Long-COVID“), das sich parallel zu meiner Arbeit am Manuskript als mögliche Langzeitfolge nach einer SARS-CoV-2-Infektion entwickelte, ist das Paradebeispiel einer multisystemischen Erkrankung mit allen typischen Merkmalen – wie aus dem Lehrbuch: Wenn es denn dieses Lehrbuch gäbe... PCS-Patienten erleben nun exemplarisch alle Hemmnisse, Hürden und den Versorgungsnotstand multisystemisch Erkrankter.

Ziel dieses Buches ist, Erworbene Multisystem-Erkrankungen besser verstehbar zu machen und so als Wegbereiter und Wegweiser hin zu einer besseren Versorgung zu dienen.Das Thema Multisystem-Erkrankungen hat Bezug zu sehr vielen medizinischen Fachbereichen. Zu jedem dieser Themen gibt es eine Fülle an Informationen – verstreut im Internet, in Fachzeitschriften, in Büchern, Fernsehsendungen und in Hörmedien. Das vorliegende Buch versucht, diese unüberschaubare Informationsflut sinnvoll zu strukturieren.

Charakteristik multisystemischer Erkrankungen

Als Kurz-Charakteristik für multisystemische Erkrankungen können zwei gemeinsame Merkmale genannt werden:

 Die Patienten klagen über unspezifische und zahlreiche körperliche und seelische Symptome. Die üblichen Untersuchungen ergeben keinen Befund.

 Die Beschwerden gelten als „medizinisch unerklärlich“.

Metabolomik und Systembiologie

Heute stellt sich die Frage, ob die derzeit üblichen Standard-Untersuchungen ausreichen, um die biologischen Prozesse in ihrer lebendigen Dynamik zu verstehen. Gelten Erkrankungen auch noch als unerklärlich, wenn z. B. neue Technologien eingesetzt werden, die innerhalb kürzester Zeit mehr als 60 verschiedene biochemische Stoffwechselwege messen können? Analog zur Untersuchung des Genoms (Erbgut, die DNA), der Genomik, kann die Untersuchung des Metaboloms, die Metabolomik, charakteristische Stoffwechsel-Eigenschaften einer Zelle bzw. eines Gewebes oder Organismus identifizieren und quantifizieren. Der „-omik“-Ansatz, (der noch weitere -omiks umfasst) liegt der Systembiologie zugrunde. Das Ziel ist, das dynamische Netzwerk ausgehend von der Zellebene biochemisch zu verstehen.

Das US-amerikanische Naviaux Lab, das zu dem Mitochondrial and Metabolic Disease Center an der University of California San Diego School of Medicine/UCSD gehört und von Prof. Robert K. Naviaux geleitet wird, gehört zu den Vorreitern der Metabolik-Forschung:

„Unserer Ansicht nach liegen Chemie und Metabolismus allen Aspekten der menschlichen Biologie zugrunde. Unsere Studien zeigen, dass die Metabolomik als neue Linse genutzt werden kann, um unerwartete biologische Zusammenhänge aufzudecken, die vorher unsichtbar waren.“ [Ü.d.A.] E/1 Naviaux

Experimente und Studien, die auf dem Verständnis der Metabolomik (und weiterer „-omiks“) basieren, zeigen einerseits, wie Veränderungen im Stoffwechsel zu Veränderungen im Verhalten und in der Funktionsfähigkeit führen und andererseits, wie innovative Behandlungsansätze regulierend auf die gefundenen Stoffwechsel-Entgleisungen einwirken können.

Wir werden sehen, dass chronische „medizinisch unerklärliche“ Beschwerden und Verhaltensweisen weit besser – wenn auch noch nicht vollständig – verstanden werden können, wenn regulatorische Prozesse auf molekularer Ebene untersucht werden.

Im vorliegenden Buch werden drei übergreifende Hypothesen zur Entstehung chronischer/multisystemischer Erkrankungen vorgestellt:

 Martin L. Pall: Der Nitrosative Stress-Zyklus

 Robert K. Naviaux: Die Reaktion auf Zellgefahren (Englisch: Cell danger response CDR)

 Die Mastzell-Forschung, die in Deutschland und international von mehreren Wissenschaftlern erforscht wird.

Diese Hypothesen erklären die Stoffwechsel-Entgleisungen, die zu chronischen Erkrankungen führen, aus unterschiedlichen, sich ergänzenden Perspektiven.

Gemeinsam ist den drei Hypothesen, dass übermäßiger Stress (zu viele/zu starke biologische, chemische, psychosoziale Stressreize) am Beginn der chronischen Erkrankungen stehen.

Daher wird die breite Palette von unterschiedlichen Reiz-, bzw. Stressfaktoren, denen wir heute alltäglich ausgesetzt sind, in TEIL 2 ausführlich behandelt. Zahlreiche Faktoren, z. B. Luftschadstoffe oder Schwermetalle, schädigen unseren Organismus, ohne dass wir deren Einfluss direkt sinnlich wahrnehmen könnten. Das führt zu einem allzu sorglosen Umgang.

Prof. Martin L. Pall: Der Nitrosative Stress-Zyklus

Der renommierte US-amerikanische Wissenschaftler Prof. Martin L. Pall, emeritierter Professor für Biochemie und Grundlagenwissenschaften der Medizin an der Washington State University, spricht von einem neuen – einem zehnten Paradigma für die Krankheitsentität multisystemischer (Komplex-)Erkrankungen. Er beschreibt in seinem 2007 erschienenen Buch Explaining ‘Unexplained Illnesses’: Disease Paradigm for Chronic Fatigue Syndrome, Multiple Chemical Sensitivity, Fibromyalgia, Post-Traumatic Stress Disorder, and Gulf War Syndrome and Others mehrere Ausprägungen multisystemischer Erkrankungen. Es erschien bisher nur in englischer Sprache. Auf Deutsch lautet der Titel: Die Erklärung „ungeklärter Krankheiten“. Ein Krankheitsparadigma für Chronisches Müdigkeitssyndrom, Multiple Chemikalien-Sensibilität, Fibromyalgie, Posttraumatische Belastungsstörung, das Golfkriegssyndrom und weitere. E/2 Pall

Prof. Pall beschreibt u.a. folgende weit verbreitete, aber selten korrekt diagnostizierte multisystemische Ausprägungen:

Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Erschöpfungs-Syndrom/ME/CFS

mit den Merkmalen: Vitalitätsverlust und ausgeprägter Regenerationsbedarf, selbst nach scheinbar wenig anstrengenden Tätigkeiten.

Multiple Chemikalien Sensitivität/MCS

Individuell heterogene Hypersensitivität gegenüber flüchtigen und flüssigen Chemikalien, Duftstoffen, Abgasen, Lösemitteln oder Zigarettenrauch.

Fibromyalgie-Syndrom/FMS

Leitsymptome sind: Schmerzen, Schlafstörungen und Erschöpfungsneigung.

Post-Traumatische Belastungs-Störung/PTBS, bzw. „Komplexe PTBS“

Unter (K)PTBS wird eine verzögerte Reaktion auf eine oder mehrere außergewöhnliche Bedrohungen verstanden. Leitsymptome sind: Nachhallerinnerungen, Übererregungssymptome und Vermeidungsverhalten.

PTBS gilt in der etablierten, an den Hochschulen vermittelten Medizin als psychische Erkrankung. Aus Sicht der Systemischen Epimedizin, die weiter unten vorgestellt wird, ist auch PTBS eine „Ganzkörper“-Erkrankung. PTBS unterscheidet sich in der Entstehung (fachsprachlich Ätiologie), nicht jedoch in der gemeinsamen Endstrecke in Bezug auf biochemische Merkmale von ME/CFS, MCS und FMS.

Der „Nitrosative Stress-Zyklus“

Prof. Pall erläutert detailliert, dass diese multisystemischen Erkrankungen, die bislang in unterschiedlichem Ausmaß durch übliche diagnostische Raster fallen, ursächlich durch den komplexen „Nitrosativen Stress-Zyklus“ (auch „Biochemischer Teufelskreis“) erklärbar sind – und behandelt werden können!

Erworbene multisystemische Komplex-Erkrankungen/EmKE

Folgende drei Krankheits-Ausprägungen:

 Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Erschöpfungs-Syndrom/ME/CFS

 Multiple Chemikalien Sensitivität/MCS und das

 Fibromyalgie-Syndrom/FMS

werden im vorliegenden Buch unter der Bezeichnung „Erworbene multisystemische Komplex-Erkrankungen/EmKE“ zusammengefasst. Diese Auswahl ist exemplarisch zu verstehen, wir werden sehen, dass es mehrere verwandte Erworbene multisystemische Komplex-Erkrankungen gibt.

Die Bezeichnung „Erworbene Multisystem-Erkrankungen“ (ohne „Komplex“) wird als allgemeiner, beschreibender Begriff für im Laufe des Lebens erworbene „Ganzkörper“-Erkrankungen verwendet. Viele Zivilisations-Erkrankungen lassen sich als Erworbene Multisystem-Erkrankungen beschreiben.

Die drei EmKE (und verwandte Erkrankungen) sind an Komplexität kaum zu überbieten, die Beschwerden gelten in unterschiedlichem Ausmaß als „medizinisch nicht erklärbar“ und jede dieser Erkrankungen kämpft um ihre Anerkennung.


Abb. E/1 Erworbene multisystemische Komplex-Erkrankungen/EmKE

Cell-Danger-Response (CDR)/Die Antwort auf Zellgefahren

Prof. Robert K. Naviaux ist Gründer und Co-Direktor des zuvor schon erwähnten Mitochondrial and Metabolic Disease Center/Deutsch: Zentrum für Mitochondriale und Metabolische Erkrankungen an der US-amerikanischen University of California San Diego School of Medicine/UCSD.

Prof. Naviaux und sein Team konnten zeigen, dass die zelluläre Antwort auf umweltbedingte Stressoren trotz unterschiedlichster Auslöser homogen ist.

Diese uniforme Antwort ist die „Cell danger response“, bei der die Mitochondrien – das sind energieproduzierende Organellen in unseren Körperzellen – in festgelegter Reihenfolge drei unterschiedliche Phasen durchlaufen. Die Wucht heutiger Stressoren blockiert diese Abläufe in verschiedenen Stadien, das führt zu der „Unfähigkeit“ auf Zell-, Gewebe- oder Organebene auszuheilen. Diese unvollständig ablaufenden Heilungsprozesse führen, so Prof. Naviaux, zur Entstehung unserer heutigen chronischen Erkrankungen.

„Die Zellgefahrenabwehrreaktion (CDR) ist die evolutionär konservierte Stoffwechselantwort, die Zellen und Wirte vor Schaden schützt. Sie wird durch das Zusammentreffen mit chemischen, physikalischen oder biologischen Bedrohungen ausgelöst, die die zelluläre Kapazität zur Homöostase übersteigen.“ [Ü.d.A.] E/3 Naviaux

Der Zustand der Mitochondrien entscheidet darüber, ob und wie Heilungsprozesse geschehen. Gestresste Mitochondrien, die dauerhaft im Verteidigungs-Modus verbleiben, führen zu chronischen Erkrankungen.Diese Erkenntnisse zur Cell Danger Response sind bahnbrechend und haben das Potenzial, die Sichtweise auf sämtliche chronische Erkrankungen zu revolutionieren.

Die EmKE-typischen „Fehl“steuerungen können als adaptive, bzw. kompensatorische, sinnvolle Notfallstrategie der Mitochondrien auf zu viele und/oder zu starke Einflussfaktoren verstanden werden. Derzeit erforscht Prof. Naviaux mit Hilfe systembiologischer Verfahren Therapie-Optionen, um Fehlsteuerungen und Blockierungen der CDR wieder in physiologische Prozesse zu überführen. Erste Erfolge wurden publiziert.

Mastzellforschung

Die dritte der im vorliegenden Buch vorgestellten Hypothesen für die Entstehung chronischer Erkrankungen liefert die Mastzellforschung. Es gibt frappante Überlappungen zwischen multisystemischen Komplex-Erkrankungen und der sogenannten „Mastzell-Aktivierungs-Erkrankung“. Mastzellen sind weiße Blutkörperchen (Leukozyten). Die Erkenntnis, dass Mastzellen durch ihr nahezu unüberschaubares Wirkspektrum als zentrale Schaltstellen des Immunsystems fungieren, ist noch jung, die Mastzellforschung ist erst in den letzten Jahren zu einem wichtigen interdisziplinären und internationalen Forschungsthema geworden.

Die Corona-Pandemie

Die Fertigstellung dieses Buches steht im Zeichen der durch das Coronavirus SARS-CoV-2 verursachten COVID-19-Pandemie. Im Februar 2020 erhielt die neue Corona-Erkrankung ihren englischen Namen „Coronavirus Disease 2019“/COVID-19. Seit Beginn der Pandemie sind weltweit über eine halbe Million Studien zu COVID-19 veröffentlicht worden.

80 % der Infizierten zeigten moderate oder gar keine Symptome. Doch schon im Laufe des Jahres 2020 entpuppte sich die akute Form der Lungenkrankheit als Multiorgan-Erkrankung. Es kam u.a. zu Entzündungen in den Blutgefäßen, zu neurologischen Erkrankungen wie Enzephalopathien, zu Nierenfunktionsstörungen und zu Magen-Darm-Erkrankungen.

Das Robert-Koch-Institut zählt seit Beginn der Pandemie über 3,7 Millionen nachgewiesene Infektionen mit Sars-CoV-2 in Deutschland. (Stand Juni 2021). Die tatsächliche Gesamtzahl der Infektionen dürfte höher liegen. Weltweit registrierte die WHO bislang mehr als 175 Millionen bestätigte Covid-Fälle.

Das Post-COVID-19-Syndrom

Patienten, die COVID-19-bedingt auf der Intensivstation behandelt wurden, erholen sich nur langsam, leiden unter Langzeitfolgen, einige versterben. Erstaunlicherweise leiden jedoch auch Menschen unter Spätfolgen, die gar keine oder nur moderate akute Symptome hatten, sportlich und jung oder mittleren Alters (zwischen 35 und 49) sind und keine Vorerkrankungen hatten. Während höheres Alter und Vorerkrankungen nachvollziehbare Risiken für den schwereren Verlauf der akuten Infektion darstellen, sind die Vulnerabilitäts-Merkmale für diese unerwarteten, langanhaltenden Manifestationen unklar.

Experten schätzen, dass der Anteil von Patienten mit Langzeitbeschwerden ca. 13 % aller COVID-19-Patienten ausmacht, das entspricht derzeit [Juni 2021] in Deutschland ca. 480.000 und weltweit mehr als 16 Millionen Menschen. Der Frauenanteil überwiegt, auch Kinder sind betroffen.

Im Januar 2021 vermerkte die Weltgesundheitsorganisation/WHO den „Post-COVID-19-Zustand“ (auch, vor allem im englischsprachigen Raum: „Long-Covid-Syndrom“) als neuartige Erkrankung mit dem (Zusatz-)Diagnosecode U09.9 und empfahl, dass alle Patientinnen und Patienten Zugang zu einer Nachsorge haben sollten.

Mit dem Post-COVID-19-Syndrom entsteht vor unseren Augen gerade ein Paradebeispiel einer neuartigen, erworbenen, multisystemischen Komplex-Erkrankung.

Diese Langzeit-Subgruppe ist heterogen. Die üblichen Standard-Untersuchungen zeigen keine Befunde. Post-COVID-19-Patienten berichten über langanhaltende, multisystemische Beschwerden. In Studien werden bis zu 200 Symptome benannt. Darauf ist unsere nach Fachdisziplinen ausgelegte Gesundheitsversorgung nicht ausgelegt. Post-COVID-19-Patienten erleben nun die gleichen Hürden und Hindernisse wie ME/CFS-Patienten: Verharmlosung der Symptome, fehlende Anerkennung, Stigmatisierung (trotz erwiesen COVID-19-Infektion), keine Anlauf- und Beratungsstellen, fehlende Therapieangebote, soziale Isolation und sozialrechtliche Minderversorgung. Behandler sind hilflos, es gibt kein Behandlungskonzept. Die Notfallversorgung ist nicht gewährleistet.

Für ME/CFS-Patienten könnte die Corona-Pandemie zum Game-Changer werden: Geschätzt 2 % aller positiv Getesteten entwickelt ME/CFS. Das entspricht derzeit mindestens 74.000 Betroffenen in Deutschland.In allen führenden Medien wird nun nicht nur über die Corona-Pandemie, sondern auch über die weitverbreitete, aber ignorierte Erkrankung ME/CFS berichtet. Und das Versorgungsdesaster, das nun auch Post-COVID-19-Patienten erleiden, kommt ans Licht.

Oved Amitay, Geschäftsführer der gemeinnützigen US-amerikanischen Interessenvertretung Solve M.E. beschreibt die Situation:

„Schon jetzt sind etwa 2,5 Millionen Amerikaner an ME/CFS erkrankt und COVID-19 ist auf dem besten Weg, diese Zahl zu verdoppeln. Die Finanzierung von Bildung, Forschung und Behandlung rund um Long COVID und damit verbundene postvirale Krankheiten wie ME/CFS ist keine Option, sondern nicht verhandelbar. Die Gesundheit unserer Nation hängt davon ab.“ [Ü.d.A.] E/4 Solve M.E.

Der Handlungsbedarf ist nun nicht mehr zu leugnen. Zu den geschätzt 74.000 Post-Covid-19-ME/CFS Patienten kommen Patienten, die ähnliche (schwerwiegende) Beschwerden haben, aber die ME/CFS-Kriterien nicht vollständig erfüllen. Und je länger die Pandemie andauert, desto mehr Betroffene sind zu erwarten. Die Corona-Pandemie erhöht deutlich die Gesamtzahl der multisystemisch erkrankten Patienten. Das tatsächliche medizinische und wirtschaftliche Ausmaß, z.B. welche Kosten auf die Sozialversicherungs-Systeme zukommen, ist unklar.

Der US-Kongressabgeordnete (und Chefankläger im Amtsenthebungsverfahren gegen Ex-US-Präsident Donald Trump im Februar 2021) Jamie Raskin hat sich erfolgreich für eine millionenschwere Forschungs-Förderung zu postviralen Erkrankungen eingesetzt und erklärte in einer Pressemitteilung in Bezug auf Versäumnisse in der ME/CFS-Forschung:

„Wir stehen vor einer monumental gefährlichen Krise der öffentlichen Gesundheit und müssen alle notwendigen Schritte unternehmen, nicht nur um die Ausbreitung von COVID-19 einzudämmen, sondern auch, um dauerhafte Auswirkungen zu verhindern und zu kontrollieren“ [...] „Wir können nicht zulassen, dass die Zahl der ME/CFS-Fälle aufgrund mangelnder Forschung und mangelnden Verständnisses steigt. Während wir das Coronavirus bekämpfen, wird diese bedeutsame Gesetzgebung uns helfen, auf die verborgene ME/CFS-Gesundheitskrise zu reagieren.“ [Ü.d.A.] E/5 Raskin

In den USA wurden im Dezember 2020 Forschungsgelder in Höhe von 1,15 Milliarden Dollar für die Covid-Langzeitforschung bewilligt, die bis 2024 zur Verfügung stehen.

Das Bundesministerium für Forschung und Bildung lancierte im Mai 2021 die Förderrichtlinie Richtlinie zur Förderung von Forschungsvorhaben zu Spätsymptomen von COVID-19 (Long-Covid). Damit stehen fünf Millionen Euro stehen für interdisziplinäre Forschungsvorhaben zu Spätsymptomen von COVID-19 zur Verfügung. Patienten-Organisationen und Wissenschaftler kritisieren, dass diese Förderung bei weitem nicht ausreicht.

Die Doppelte Krise

Die offensichtliche Corona-Pandemie und die Folge-Pandemie der schwer zu klassifizierenden postviralen Langzeitwirkungen stellen eine doppelte Krise dar. Die Folge-Pandemie der Langzeit-Erkrankungen offenbart, was schon lange existent war, aber ignoriert wurde.

Cluster-Ausbrüche von ME/CFS sind weder neuartig noch historisch selten. Sie wurden häufig beschrieben und wenig untersucht.

Unklar ist unter anderem, ob der Auslöser der ME/CFS-Cluster immer viral war oder auch anderer Natur. Offensichtlich ist jedoch, dass der jeweilige Auslöser bei jedem der historischen Cluster-Ausbrüche auf eine weitverbreitete immunologische, genetische und/oder metabolische Disposition traf, die vulnerabel machte. Was bedeutet das für zukünftige Pandemien?

Es ist an der Zeit, komplexe multisystemische Erkrankungen im Gesundheits-System zu integrieren, statt sie, wie bisher, als Krankheiten zweiter Klasse ins Abseits zu verschieben.Die Pandemie bietet die einmalige Gelegenheit, innovativ und umfassend eine systemmedizinische Neuorientierung zu wagen. Das Risiko, dass Deutschland in Bezug auf multisystemische (Komplex-)Erkrankungen aus kurzfristigen politischen, wirtschaftlichen und/oder standesrechtlichen Erwägungen in alten Strukturen und Denkweisen verharrt, ist jedoch gegeben.

Statistisch inexistent

Erworbene Multisystemische (Komplex-)Erkrankungen gehören nicht zu den sogenannten Seltenen Erkrankungen, sondern betreffen schon jetzt jeweils allein in Deutschland mehrere Hunderttausend Patienten. Insbesondere ME/CFS und MCS werden selten korrekt diagnostiziert und finden keinen Eingang in offizielle behördliche Statistiken. Ein ME/CFS-Register sucht man derzeit in Deutschland noch vergebens, obwohl die Erkrankung seit 1961 von der Weltgesundheits-Organisation/WHO mit Diagnose-Kode gelistet ist. Erst Ende 2020 wurden, unter dem Eindruck der Pandemie, Gelder bereitgestellt, um ein ME/CFS-Register sowie eine Biobank an der Charité Berlin und der TU München aufzubauen. Es gibt zurzeit weder ein Register zu Long-Covid noch zu Covid-bedingtem ME/CFS, das ergab die Antwort der Bundesregierung im April 2021 auf eine Kleine Anfrage der Grünen.

Dieses Vorgehen folgt dem seit Jahrzehnten bekannten Muster im Umgang mit den EmKE: Wer erkrankt und wie viele bleibt ebenso unbeantwortet wie weitergehende epidemiologische Fragestellungen.

Die Diagnosekodes insbesondere für ME/CFS und für MCS werden in Deutschland weder von Haus- noch von Fachärzten auch nur annähernd angemessen vergeben, Kranken- und Rentenkassen können keine Auskunft geben. In behördlichen Erhebungen, z. B. des Statistischen Bundesamtes, des RKI oder des Bundesgesundheitsamtes sucht man diese Erkrankungen vergebens. Sozioökonomische und geschlechtsspezifische Faktoren, Prävalenz und Versorgungslage sind unbekannt, ebenso die Suizidraten. Auch Aussagen der Bundesregierung tragen nicht zur Aufklärung bei. Genauso unklar sind die direkten und indirekten Krankheitskosten. FMS und PTBS sind zumindest als Diagnosebegriffe bekannt, belastbare Daten fehlen dennoch auch hier in vielerlei Hinsicht.

Damit sind multisystemische (Komplex-)Erkrankungen – in unterschiedlichem Ausmaß – scheinbar inexistent.Für multisystemische (Komplex-)Erkrankungen besteht durch die Daten-Lücke eine Wahrnehmungs-Lücke und folglich eine Versorgungslücke.

Es gibt keine Zertifizierung der Bundesärztekammer für EmKE-Experten, weil es in der etablierten Medizin, wie sie in den Hochschulen vermittelt wird, weder diese Krankheits-Kategorie noch übergreifende Konzepte gibt. Die Lehrbücher schweigen, Medizinstudenten werden, wenn überhaupt nur rudimentär aufgeklärt. Wer betroffen ist, muss sich auch im Jahr 2021 verlässliche Informationen mühsam zusammensuchen.

Angesichts der derzeit täglichen Berichterstattung zur Mortalität mit oder durch COVID-19 ergibt sich für multisystemische Erkrankungen die bittere Schlussfolgerung: Keine Mortalität – keine Berichterstattung.

Biomedizinische Forschung

Um über Erworbene multisystemische Erkrankungen aufzuklären, müssen komplexe Zusammenhänge nachprüfbar (z. B. durch Verweise auf Studien) geschildert werden. Das ist nicht immer leserfreundlich – aber notwendig. Nur Fakten können überzeugen.

Nur eine medizinische und soziale Versorgung, die auf aktuellen systemwissenschaftlichen Erkenntnissen beruht, kann den heutigen multisystemischen Erkrankungen gerecht werden.

Das vorliegende Buch basiert auf wissenschaftlichen, biochemischen Grundlagen, die in aktuellen Studien in renommierten internationalen Fachzeitschriften veröffentlicht wurden.

Anders als bei Beiträgen von Wissenschaftlern, die eigene Forschungsergebnisse präsentieren und einordnen, ist dieses Buch ein bürgerwissenschaftliches Projekt, das vorhandenes, erforschtes Wissen sammelt und sowohl interdisziplinär wie auch transdisziplinär übergreifend miteinander in Beziehung setzt. Wissenschaftliche Quellen spielen also eine bedeutende Rolle, sie werden daher ausführlicher belegt und/oder zitiert als sonst üblich.

Die meisten zitierten Studien unterlagen einem sogenannten Peer-Review-Verfahren, d.h. sie wurden vor der Veröffentlichung von Experten des gleichen Fachgebietes gegengeprüft. PubMed® ist eine englischsprachige medizinische Meta-Datenbank, die biomedizinische Artikel der National Library of Medicine, NLM (auf Deutsch: Nationale Medizinische Bibliothek der Vereinigten Staaten) veröffentlicht. Anhand der Quellenangaben im Anhang können die meisten Studien kostenfrei eingesehen und ggf. heruntergeladen werden.

Die anfänglich eigene Betroffenheit, der Kontakt zu vielen schwer Erkrankten und zu mehreren Selbsthilfegruppen sowie die auf diesem Wege erlebte konkrete Not fließen als subjektive Erfahrungen der Realität in die Darstellung ein. Diese erlebte Realität spiegelt sich in den vorgelegten wissenschaftlichen internationalen Beiträgen – nicht jedoch in den deutschen behördlichen Statistiken und schon gar nicht in der medizinischen und sozialen Versorgung. Bei Behörden und Versorgungsdienstleistern sprechen wir über Leerstellen auf Basis vollkommen unzureichender, bzw. veralteter Informations- und Wissensgrundlagen. Berichte aus den Selbsthilfegruppen und Fallbeispiele zeigen jedoch, dass es diagnoseübergreifend mehrere effektive therapeutische Grundpfeiler gibt. Viele Patienten berichten, dass die (selbst organisierte und bezahlte) personalisierte Versorgung zu moderater bis massiver Verbesserung der Lebensqualität führte.

Dieses Buch ist ein Plädoyer für die Wahrnehmung, Anerkennung und Verbesserung einer bislang ignorierten, aber sehr umfassenden gesundheitlichen Notlage.

Wissenschaftstheoretisches Grundverständnis

Multisystem-Erkrankungen zu thematisieren, bedeutet, nicht nur medizinische, sondern auch gesundheitspolitische, sozialrechtliche, wirtschaftliche und ethische Missstände – ggf. auch wertend – zu schildern und (teilweise) Lösungen vorzuschlagen. Mein Buch ist ein Bericht über den Status quo, es richtet sich an wissenschaftliche, politische und gesellschaftliche Entscheider. Hunderttausende multisystemisch schwer Erkrankte sind auf den Einsatz und das Engagement dieser Akteure angewiesen.

Die notwendigen Veränderungen erfordern immense Anstrengungen. Es geht um die Schaffung eines Problembewusstseins und um die Entwicklung eines rationalen wissenschaftstheoretischen Grundverständnisses für diese Erkrankungen. Auf dieser Basis können strukturierte Rahmenbedingungen entstehen, die der Komplexität angemessen sind.

Die etablierte Medizin

Band 1 ME/CFS erkennen und verstehen erschien 2018 und widmete sich dem „Chronischen Erschöpfungs-Syndrom“ ME/CFS. Nach der Publikation des Bandes kam es zu zahlreichen persönlichen Gesprächen. Betroffene bestätigten wiederholt das in dem Buch beschriebene nahezu komplette Versagen in Diagnostik und Therapie sowie in der Sozialversorgung. Das führt zu Chronifizierungen, zu persönlichem und familiärem Leid und zu entwürdigenden, oft jahrelangen gerichtlichen Auseinandersetzungen um Versorgungsleistungen.

Es gibt, wie wir sehen werden, weltweit Millionen Betroffene, jahrelange Odysseen, „doctor-hopping“, Fehlbehandlungen und (teilweise vermeidbare) Chronifizierungen. Diese Krankheits-Kategorie wird dennoch bislang weitgehend ignoriert. Die etablierte Medizin (die in den Hochschulen vermittelt wird) scheint zu kapitulieren angesichts der Komplexität multisystemischer Erkrankungen und steht ihnen konzeptlos gegenüber.Keine Eingangstür in das etablierte Gesundheitssystem ist die richtige für multisystemisch Erkrankte.

Die übliche Standard-Diagnostik beruht auf Paradigmen, denen historisch die Infektions-Erkrankungen zugrunde liegen und sie leistet Hervorragendes bei akuten Krankheitsfällen. Sie klärt folglich die Fragen, für die diese Konzepte ausgelegt sind. Die Wirkweisen bei Erworbenen Multisystem-Erkrankungen sind jedoch aufgrund veränderter Lebens- und Umweltbedingungen vielfältiger, als es uns geradlinige Ursache-Wirkungs-Denkmodelle glauben machen wollen.

Für eine angemessene Versorgung ist eine eingehende Analyse der Komplexität selbst und deren Auswirkung auf die klinische Praxis unumgänglich.

Es gibt derzeit keine umfassende Evaluierung der Bedürfnisse von Patienten mit komplexen/multisystemischen, bzw. -organischen Erkrankungen. Hier ist ein erweiterter diagnostischer Ansatz notwendig, der den Einsatz präziser Spitzentechnologie und geschulte, interdisziplinär arbeitende Behandler erfordert.

Systemisch – nicht linear

Erworbene multisystemische Komplex-Erkrankungen sind system- und organübergreifende „Ganzkörper“-Erkrankungen. Bislang wird die Medizin organzentriert verstanden, der Patient wird nach Herz, Nieren oder Gehirn von spezialisierten Behandlern diagnostiziert und behandelt. Der Kieler System-Mediziner Prof. Stefan Schreiber formuliert treffend:

„Die Spezialisierung der Medizin entspricht nicht der biologischen Wirklichkeit.“ E/6 Schreiber

Allerorten stößt man auf komplexe Kreisläufe, Wechselwirkungen, multiple Funktions- und Rückkopplungsschleifen, ja, sogar auf regelrechte Teufelskreise. Diese Kausalbeziehungen sind hochgradig verzweigt und komplex.

Die Systembiologin Prof. Ursula Klingmüller beschrieb schon im Jahr 2015:

„Noch vor zehn, 15 Jahren dachten sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das Wie der Lebensprozesse überwiegend linear: Ein Gen veranlasst die Produktion eines Proteins, und das Protein tut etwas in einer bestimmten Weise. Diese Geradlinigkeit findet sich noch heute in fast allen Lehrbüchern, aber sie reicht nicht aus, um die tatsächlichen Lebensereignisse in einer Zelle zu beschreiben, die einem brodelnden Suppentopf mit Zigtausenden von Ingredienzen gleicht, die in vielfältiger Weise miteinander wechselwirken.“ E/7 Klingmüller

Unser Bahnverkehr ist ein vergleichbar komplexes System. Wir haben alle schon erfahren, was es bedeutet, wenn es z. B. auf einer Strecke zu Sturmschäden kommt. Der Intercity bleibt stehen, die Anschlüsse sind nicht mehr zu halten. Auch der Folgeverkehr kommt zum Erliegen. Fällt gleichzeitig an einer anderen Stelle ein Stellwerk aus, ist das Chaos komplett, weil das Gesamtsystem nur funktionieren kann, wenn die einzelnen Linien funktionieren.

Unterschiedlichste Stressoren können in diesem Sinne vergleichbare „Sturmschäden“ in unserem Gesamt-Organismus verursachen. Diese Entgleisungen bleiben bei den üblichen Routine-Untersuchungen nahezu vollständig verborgen.

Systemmedizin

Im Februar 2015 veröffentlichte das Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen der Zusammenarbeit zur Förderung transnationaler Forschungsprojekte in der Systemmedizin eine Bekanntmachung, die der Etablierung der Systemmedizin in Europa dient und eine klare Sprache spricht:

„Der systemmedizinische Ansatz, der Krankheitsprozesse als komplexes Zusammenspiel verschiedener biologischer Netzwerke auf verschiedenen Ebenen untersucht (Zell-, Gewebe-, Organ- und Organismusebene), unterscheidet sich grundlegend von der gängigen Praxis der klassischen und Symptom-orientierten Medizin. Diese greift häufig erst dann, wenn eine Erkrankung bereits ausgebrochen ist. In der Vergangenheit haben Ärztinnen und Ärzte stets klinische Beobachtungen, empirisches Wissen und Informationen aus medizinischen Tests zusammengeführt, um Krankheiten zu diagnostizieren und Patienten erfolgreich zu behandeln. Dieses Konzept hat sich im Prinzip bewährt. Das Problem besteht aktuell darin, dass der ärztlichen Fähigkeit zur Sichtung, Auswertung und Annotation von Wissen durch den starken Anstieg verfügbarer relevanter Informationen, die Größe und Komplexität moderner „-omics“-Technologie-Datensätze und der Fülle klinischer Informationen zunehmend Grenzen gesetzt sind. Das etablierte System der Wissensakquise verfügt über kein weiteres Ausbaupotenzial.“ E/8 BMBF

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung/BMBF förderte die Systemmedizin seit Ende 2012 mit 200 Millionen Euro. Prof. Johanna Wanka, die damalige Bundesministerin für Bildung und Forschung beschrieb 2015 die Zielsetzung des neuen Medizinverständnisses:

„Die Systemmedizin will die Erkenntnisse und Methoden der Systembiologie auf die Medizin übertragen und für Patientinnen und Patienten nutzbar machen. Das Ziel der Systemmedizin ist es, auf der Grundlage des neuen, interdisziplinär erarbeiteten Wissens neue Präventionsstrategien, Diagnostika und Therapeutika zu entwickeln. Denn ob ein Mensch gesund oder krank ist, hängt von vielen Faktoren ab, seien es genetische Unterschiede, die Veränderung von Molekülen oder Umwelteinflüsse. Die Frage ist, wie all diese Faktoren und Systeme ineinandergreifen und wie sie zu beeinflussen sind.“ E/9 BMBF 2015

Prof. Stefan Schreiber äußerte sich zu der Bedeutung der Systemmedizin:

„Persönlich bin ich überzeugt davon, dass wir derzeit mitten in einem Prozess stecken, der vieles umstürzen wird, was für unumstößlich gehalten wurde. Das ist ein radikaler Paradigmenwechsel. Und nur das kann echte Innovationen hervorbringen. Das Revolutionäre, dass in dem neuen Konzept der Systemmedizin steckt und die Chancen, die mit ihm einhergehen, haben noch nicht alle Teilnehmer im Feld verstanden – aber es werden immer mehr.“ E/10 Schreiber

Derzeit wird die systemmedizinische Herangehensweise fast ausschließlich in der Krebsforschung angewandt und führt dort zu individualisierten Therapien.

Wir werden sehen, dass Erworbene multisystemische (Komplex-)Erkrankungen nur mit Hilfe einer systemmedizinischen, transdisziplinären Herangehensweise verstanden werden können.

Veränderte Umweltfaktoren

Mittlerweile befassen wir uns zwangsläufig mit mehreren Krisen, die nicht länger ignoriert werden können. Die scheinbare Robustheit unserer Lebensgrundlagen hat uns blind gemacht für die Folgen unseres unstillbaren Hungers nach Konsum und Annehmlichkeiten. Das Artensterben, die abnehmende Biodiversität, Wald- und Ackerdürren, die Erderwärmung und der Raubbau an der Natur werden bislang nicht in ihrer vollen Dramatik wahrgenommen:

„Menschliches Handeln gestaltet den ganzen Planeten um. Es dringt bis in die letzten Ecken vor. Schon jetzt sind die Eingriffe des Menschen pro Jahr größer und umfassender als die aller anderen Naturkräfte zusammen. Der Mensch ist die größte Naturkraft. Gleichzeitig schreibt er sich durch sein Tun in die geologische Zeit ein. Die Eingriffe verändern den Planeten nicht für Generationen, sondern für hunderttausende von Jahren. Menschheitsgeschichte wird Erdgeschichte. An die Stelle der Historiker treten Geologen.“ E/11 Scherer

So der Philosoph und Autor Bernd Scherer. 2015 erschien in Co-Autorenschaft mit Jürgen Renn, Direktor am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in München, das Buch Das Anthropozän: Zum Stand der Dinge. Der Begriff „Anthropozän“ – das Zeitalter des Menschen – wird mittlerweile von einer Gruppe renommierter Wissenschaftler für das gegenwärtige Erdzeitalter vertreten. Gemeint ist damit, dass der Mensch als dominierender Faktor durch menschengeschaffene Technologien und Infrastrukturen unsere Lebensbedingungen und die globalen Umgebungsfaktoren nachhaltig verändert hat.

Weit überwiegend sind heutige industriell anfallende oder produzierte Partikel, Strahlen, Gase und Substanzen – von Feinstaub über elektromagnetische Strahlung bis zu erdölbasierten Produkten und (Klima-)Gasen – nachweislich oder vermutlich gesundheitsschädigend.

Veränderte Krankheiten

Kann es sein, dass diese veränderten Umweltfaktoren schleichend unsere grundlegenden Lebensfunktionen und damit unsere (Über-)Lebenstüchtigkeit verändern? Kann es sein, dass wir diese Veränderungen nicht begreifen, weil sie immer nur graduell unsere Gesundheit verändern? Weil sie komplex ablaufen, Ursachen und Wirkungen kaum fassbar sind? Haben wir es bei unserer Gesundheit mit ebenso komplexen Wirkungen zu tun wie bei der Erderhitzung?

Prof. Naviaux macht darauf aufmerksam, dass die Antwort auf Zellgefahren vorindustriell in der Regel vollständig durchlaufen wurde und mit der Gesundung endete, während dieser Heilungsprozess heute blockiert wird und zu der Vielzahl chronischer Erkrankungen führt. Laut Prof. Naviaux erfordern heutige Erkrankungen ein völlig anderes Konzept, er spricht von einem „zweiten Buch der Medizin“.

Vorindustrielle Erkrankungen gleichen den heutigen so wenig wie Äpfel den Birnen, erklärte Naviaux bildlich in einem Vortrag.

Die Grundthese des Buches, das Sie gerade lesen, ist, dass die Fülle moderner Stressoren als „multistressorische“ Gesamtlast“ (Umweltallergene, Schadstoffe, Zusatzstoffe in Nahrungsmitteln, psychosoziale Belastung, ständige Erreichbarkeit u.a.) an Quantität und Qualität ein Ausmaß erreicht haben, das durch die synergistische Dauer-Reizung unser Immunsystem überfordert und zu einer allmählichen oder plötzlichen gesundheitlichen Kapitulation führt.

Erworbene multisystemische Komplex-Erkrankungen können als die medizinische Signatur des Anthropozän verstanden werden. Die maximale biologische, psychische und chemische Belastbarkeit wird ständig überschritten, der Organismus durch die multistressorische, bzw. multifaktorielle Gesamtlast überfordert, chronisch geschwächt und somit vulnerabel.

Die Krise des Immunsystems

Jetzt ist es an der Zeit, endlich die Dramatik der immunologischen Krise wahrzunehmen, die allmählich, aber absehbar unser (Über-)Leben gefährdet. Nicht nur unsere Lebensräume sind bedroht und unser wirtschaftliches Überleben – die Art, wie wir leben richtet sich gegen das Leben selbst.

Die Krise unseres Immunsystems führt zu einem massiven Verlust an Vitalität in der industrialisierten Bevölkerung. Sie ist ebenso real wie andere Krisen und erfordert beherztes und kooperatives Handeln von vielen.Erworbene Multisystemische Erkrankungen beruhen auf Fehlsteuerungen, die im Laufe des Lebens entstehen. Epigenetische Studien zeigen, dass mit deren Zunahme absehbar auch zukünftige Generationen geschwächt geboren werden.

Systemische Epimedizin

Die aktuelle internationale Forschung zeigt den systemischen Netzwerkcharakter moderner Erkrankungen und stellt das konventionelle Paradigma, dass auf einen definierten Reiz (Ursache) eine definierte Reaktion (Wirkung) erfolgt, in Frage. Dieses Paradigma ist zweifellos die Grundlage unserer erfolgreichen akutmedizinischen Versorgung (Patient ist gestürzt – Knochen ist gebrochen: OP und/oder Gipsverband); es versagt jedoch bei komplexen systemischen, chronischen Erkrankungen.

Der Netzwerkcharakter der Erworbenen Multisystem-Erkrankungen wird unter dem Konzept „Systemische Epimedizin“ zusammengefasst. Diese Bezeichnung wird neu eingeführt und verweist auf die komplexen systemischen Wechselbeziehungen zwischen Umwelt und Genen, die sich in den Stoffwechselprozessen und -produkten widerspiegelt und durch Mitochondrien gesteuert wird. Der Begriff lehnt sich an die in Kapitel 28 beschriebene Wissenschaftsdisziplin der Epigenetik an. Die Systemische Epimedizin basiert auf einem systemmedizinischen Krankheitsverständnis, wie es z. B. in großangelegten Förderprojekten wie e:med vom Bundesministerium für Bildung und Forschung vorangetrieben wird.
Der Begriff „Systemische Epimedizin“ wird als gemeinsamer Begriff vorgeschlagen, um auf mehrere Wissenschaftsdisziplinen und Forschungsansätze zu verweisen, die von Relevanz für das Verständnis multisystemische Komplex-Erkrankungen sind. Es geht um einen Ideenpool, der sehr unterschiedliche Ansätze miteinander in Beziehung setzt.

Die Systemische Epimedizin ist eine Netzwerkwissenschaft

Sie umfasst folgende Wissenschaftsdisziplinen:

 Die Mitochondrien-Medizin

 Genetik und Epigenetik

 Die Psycho-Neuro-Endokrino-Immunologie

Die Systemische Epimedizin ist keine neue Wissenschaftsdisziplin. Vielmehr wird unter diesem Leitbegriff Wissen transdisziplinär und in Bezug auf komplexe Krankheitsbilder vernetzt. Dazu gehören die genannten Schlüsseldisziplinen, alle drei bezeugen den immensen Einfluss heutiger Umweltfaktoren auf unsere Gesundheit.

Die molekulare PathogeneseDie „molekulare Pathogenese“ untersucht die pathologischen Veränderungen, die als Reaktion auf Umwelteinflüsse auf molekularer Ebene unter Beteiligung spezifischer Gene, Proteine und Signalwege entstehen.

Integrierte Bestandteile innerhalb dieser übergreifenden Schlüsseldisziplinen sind:

 Die Exposom-Forschung inklusive „Early life Exposom-Stress“. Die Exposom-Forschung wurde 2015 eingeführt. Das Exposom stellt die Gesamtheit der (Umwelt-)Faktoren dar, denen wir lebenslang ausgesetzt sind, und die in bislang unterschätzter Weise zur Gesundheit oder zum Krankwerden beitragen. Das Exposom als Gesamtheit der Umwelteinflüsse ist das Gegenstück zum Genom (Gesamtheit unseres Erbgutes).

 Die Stress- und Entzündungsforschung, inklusive early life stress/„developmental origins of health and disease“ (auf Deutsch: Frühe Programmierung von Krankheit und Gesundheit).

 Die Evolutionsmedizin: Unser heutiger Organismus ist das dynamische Zwischenergebnis einer fortdauernden Evolution.

 Die Gendermedizin/Geschlechtsspezifische Forschung.

 Die Personalisierte Medizin (auch Präzisionsmedizin)

 Die Klinische Umweltmedizin, inkl. Umwelt-Zahnmedizin.

 Die Forschungen zum sogenannten Nitrosativen Stresszyklus von Prof. Martin L. Pall.

 Die Forschungen zu der sogenannten Antwort auf Zellgefahren (Englisch: Cell Danger Response) von Prof. Robert Naviaux.

 Die Mastzellforschung. Mastzellen (auch Mastozyten) gehören zu den weißen Blutkörperchen (Leukozyten). Sie sind Teil der körpereigenen Immunabwehr.


Abb. E/2 Systemische Epimedizin

Die Mehrzahl dieser (Forschungs-)Disziplinen war bis vor wenigen Jahren entweder noch völlig unbekannt oder zumindest nicht weit verbreitet. In jeder dieser jungen Disziplinen explodiert die Anzahl der Veröffentlichungen, die von bedeutender Relevanz für das Verständnis der EmKE sind.

Die Mehrzahl dieser (Forschungs-)Disziplinen war bis vor wenigen Jahren entweder noch völlig unbekannt oder zumindest nicht weit verbreitet. In jeder dieser jungen Disziplinen explodiert die Anzahl der Veröffentlichungen, die von bedeutender Relevanz für das Verständnis der EmKE sind.

Individualisierte Diagnostik und Therapie

Für Patienten ist wichtig zu wissen, dass es aus Sicht der Systemischen Epimedizin für komplexe Erkrankungen keinen einheitlichen diagnostischen und therapeutischen Pfad geben kann. Die diagnostischen, wie auch die therapeutischen Optionen sind, selbst bei Patienten, die unter dem gleichen Diagnose-Begriff klassifiziert sind, so individuell wie unser Fingerabdruck. Zunehmend werden Patienten nach diagnoseübergreifenden medizinischen Merkmalen in Subgruppen eingeteilt und behandelt – das ist der Ansatz der sogenannten Personalisierten Medizin. Dieser Ansatz wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert:

„Die Systemmedizin gilt als Schlüssel zu einer modernen [personalisierten] Medizin, die sich an der molekularen Signatur von Erkrankungen orientiert, statt an der Einteilung nach Krankheitsbildern oder spezifischen Organen festzuhalten.“ [Ergänzung durch die Autorin] E/12 Sys-med

Unsichtbare Frauen

Unsichtbare Frauen: Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert lautet der Titel des Buches von Caroline Criado-Perez, das 2020 den NDR Kultur Sachbuchpreis erhielt. Mit dem Begriff „gender data gap“ – in Anlehnung an den Begriff „gender pay gap“, also die Minderbezahlung von Frauen bei gleicher Qualifikation – weist die Autorin auf die Geschlechterlücke in der Datenerhebung hin. Sie beschreibt die darauf beruhende Diskriminierung und unsichtbare Verzerrung, die sich stark auf das alltägliche Leben von Frauen auswirkt.

Bei den EmKE – und auch bei den weiteren in diesem Buch beschriebenen verwandten Erkrankungen – überwiegt, mit durchschnittlich 75–80%, bei weitem der Frauenanteil. Weder in der Forschung noch in der Klinik wird dieser Sachverhalt ausreichend berücksichtigt.


Abb. E/3 Bei mulltisystemischen/„Ganzkörper“-Erkrankungen ist die „Frauenquote“ übererfüllt!

Die berichtete Fehl- und Mangelversorgung multisystemischer Erkrankungen basiert unter anderem darauf, dass unklare Symptome in einer männerdominierten Medizin gerne als „weibliche Unpässlichkeiten“ bagatellisiert werden. Diese diskriminierende Tatsache hat weitreichende Folgen.

Wann ist ein Buch fertig?

Üblicherweise ist ein Fachbuch fertig, wenn ein Thema umfassend und möglichst vollständig erfasst wurde. Das Buch, das Sie in Ihren Händen halten – oder auf dem Tablet lesen – ist jedoch unfertig. Es ist eine Ausgangsbasis – und kein Endprodukt.

Jedes einzelne Kapitel dieses Buches ist die Essenz eines Universums: Zum Thema Stress gibt es Tausende von Publikationen, ebenso zu Umweltfaktoren, zum Mikrobiom und zu jedem andern beliebigen Thema. Und jedes dieser Themen wartet ständig mit neuen Erkenntnissen auf. Wer sich vornimmt, all diesen Universen gerecht zu werden, muss scheitern. Gibt es Wege aus diesem Dilemma? Was könnte helfen, damit wir nicht in der Fülle der Informationen untergehen? Daten sind wertlos, wenn wir sie nicht deuten und einordnen können.

Je besser wir bei komplexen Sachverhalten die zugrundeliegenden Muster erfassen, desto besser gelingt es, deren Bedeutung und Gewichtung zu ermessen: Es geht darum, Zusammenhänge zu erkennen, bzw. herzustellen. Nur so werden Daten zu Informationen mit Erkenntnis- und Praxisrelevanz.

Ein Buch ist immer linear aufgebaut, ein Kapitel folgt dem vorhergehenden. Das sind prinzipiell ungünstige Voraussetzungen, um die hier thematisierten systemischen, vernetzten Strukturen zu erklären. Aus diesem Grund finden Sie stets viele Querverweise zu themenverwandten Kapiteln. Als Leser sind Sie nicht zwingend an die vorgegebene Reihenfolge gebunden: Alles hängt mit allem zusammen.

Ein Buch für Patienten und Behandler

Patienten und Behandler* sind üblicherweise zwei Zielgruppen mit unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten. Beim Thema Erworbene Multisystem-Erkrankungen überschneiden sich die Interessen. Viele Patienten eignen sich medizinisches Fachwissen an, weil sie in den etablierten Strukturen keine angemessene Unterstützung bekommen, während Behandler sich für erweiterte Konzepte interessieren, um bei komplexen Erkrankungen besser helfen zu können. Gemeinsam ist beiden Gruppen, dass sie die zahlreichen Einflussfaktoren besser verstehen wollen und nach Lösungen für erfolgreiche Behandlungen suchen.

Wissenschaftskommunikation ist für das Verständnis komplexer Erkrankungen für alle Beteiligten essenziell.

Das vorliegende Buch stellt wieder, wie der erste Band, einen Versuch dar, beiden Zielgruppen gerecht zu werden. Die ausschließlich positiven Rückmeldungen zu Band 1: ME/CFS erkennen und verstehen – Was wir wissen und was wir nicht wissen über das Chronische Erschöpfungs-Syndrom zeigten, dass zumindest beim ersten Band beide Lesergruppen von diesem Konzept profitierten.

* Im Interesse der Lesbarkeit wird im vorliegenden Buch stets von Behandlern die Rede sein, ohne die einzelnen Berufsgruppen aufzuführen.

Mündige Patienten

Patientenbeteiligung steht leider auch heute noch nicht an zentraler Stelle in den Curricula für werdende Ärzte. Im klinischen Alltag bilden Behandlungsansätze, die auf einer umfassenden Einbeziehung der Patienten basieren, noch die Ausnahme. Durch das Wissen um medizinische Zusammenhänge könn(t)en Patienten befähigt werden, ihre eigene Erkrankung besser zu verstehen und Autonomie (wieder) zu erlangen. Und nicht zuletzt können informierte Patienten und deren Fürsprecher sich im gesundheitspolitischen Diskurs für verbesserte Behandlungsoptionen und Versorgungs-Strukturen einsetzen, die dringend nötig sind.

Die Behandlung Erworbener multisystemischer Komplex-Erkrankungen ist weder erfolgversprechend noch dauerhaft finanzierbar, wenn Behandler und Patienten nicht optimal, sehr umfassend und unabhängig aufgeklärt und informiert werden.

In der Gesundheitspolitik spielen viele Interessen eine Rolle, und es werden Milliardenbeträge verhandelt. Die gesundheitspolitischen Rahmenstrukturen sind derzeit nicht angemessen, und Veränderungen hin zu einer personalisierten Diagnostik und Medizin für multisystemisch Erkrankte stoßen auf Widerstände. Es wäre blauäugig, davon auszugehen, dass Lösungen, die primär und ausschließlich das Patientenwohl im Blick haben, die Regel seien.

Die Corona-Pandemie könnte sich als medizinischer Wendepunkt herausstellen. Es ist aber auch nicht unwahrscheinlich, dass sich nach der Pandemie die etablierten Strukturen wieder durchsetzen. Diese Sachlage erfordert mehr denn je Patientenbeteiligung und aktive Mitwirkung an Entscheidungsfindungen. Dieses Buch versteht sich als Beitrag zu dieser Debatte. Erst die Zukunft wird zeigen, ob es gelingen wird, menschenwürdige Versorgungs-Strukturen für multisystemisch Erkrankte zu etablieren, die auf rationalen Erkenntnissen beruhen.
Eine verbesserte Forschungs- und damit Versorgungslage wird Patienten mit Erworbenen multisystemischen Komplex-Erkrankungen nicht auf dem Silbertablett gereicht werden. Patienten, deren Angehörige, Sozial- und umweltmedizinische Verbände müssen sich in weit stärkerem Maß verbünden, als dies bisher der Fall ist.EmKE sind noch lange nicht vollständig verstanden, aber Segmente dieser Erkrankungen sind schon nach heutiger Datenlage ursächlich behandelbar. Die Einforderung verbesserter Rahmenbedingungen und die Abschaffung der derzeitigen strukturellen Diskriminierung lassen sich rational begründen.

Lesen Sie kritisch, machen Sie sich Ihr eigenes Bild, Sibylle Reith

Serviceseiten

Sie finden in den jeweiligen Kapiteln und auf den Serviceseiten zahlreiche Verweise auf Informationsquellen im Netz und in Publikationen sowie Hinweise auf Fortbildungen und Tagungen zu den Themen der Systemischen Epimedizin. Unter der Überschrift „Die multisystemische Bibliothek“ finden Sie sorgsam zusammengestellte Titel zu den Themen des vorliegenden Buches. Zudem sind die Kontaktdaten mehrerer Labore gelistet, die eine spezialisierte Diagnostik anbieten. Auch deren Internetseiten bieten Informationen und Fortbildungen für Patienten und Mediziner.

Post scriptum I

Bei erworbenen multisystemischen Erkrankungen ist, wie oben berichtet, die „Frauenquote“ leider übererfüllt, Männer sind wesentlich seltener betroffen. Umgekehrt verhält es sich mit der deutschen Sprache, sie ist maskulin dominiert: Während Begriffe wie „Patient“ oder „Therapeut“ Frauen und Mädchen miteinschließen, beziehen sich „Patientin“ oder „Therapeutin“ ausschließlich auf das weibliche Geschlecht.

Gendern und Nicht-gendern, beides ist unbefriedigend. Auch das Gender-Sternchen (Patient*in), das Binnen-I (PatientIn), oder das Gender-Gap (Patient_in) scheinen mir ungeeignet, diese paradoxe Situation gut zu lösen, zumal dann zuweilen akrobatische Begriffe entstehen.

Es ist ausschließlich der Lesbarkeit geschuldet, dass im vorliegenden Buch nicht durchgängig geschlechtergerecht formuliert wird.

Post scriptum II

Auch dieser zweite Band ist wieder so konzipiert, dass die Kapitel unabhängig voneinander gelesen werden können. Das aufwändig gestaltete Layout soll z. B. durch das Hervorheben wichtiger Aussagen eine schnelle Übersicht ermöglichen. Das erlaubt, je nach Interessenlage, Schwerpunkte zu setzen und sich z. B. den biochemischen Details mit unterschiedlicher Intensität zu widmen.

Post scriptum III

Die in diesem Buch zum Ausdruck vorgelegten Sachverhalte wurden von der Autorin nach bestem Wissen zusammengefasst. Die sich aus Sicht der Autorin daraus ergebenden Schlussfolgerungen und Bewertungen repräsentieren nicht notwendigerweise die geläufigen Ansichten der Gesundheitspolitik, des derzeitigen linearen Medizinverständnisses und der derzeitigen Sozialversorgung in Bezug auf multisystemisch Erkrankte.

Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen

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