Читать книгу Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen - Sibylle Reith - Страница 4
ОглавлениеTEIL 1 GRUNDLAGEN
TEIL 1 führt in das Thema „Erworbene Multisystem-Erkrankungen“ ein. Sie gehören zu den sogenannten Nichtübertragbaren (Zivilisations-) Erkrankungen, die einen engen Zusammenhang mit der Industrialisierung und mit den dadurch gesamtgesellschaftlich veränderten Lebensbedingungen haben. Diese umweltbedingten Einflüsse sind das Grundrauschen, dem wir alle – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – ausgesetzt sind.
Durch die Vielzahl und Vielfalt moderner Einflussfaktoren sind wir körperlich und seelisch permanent damit beschäftigt, auf Reize angemessen zu reagieren. Um auf allen Ebenen im Gleichgewicht zu bleiben, ringen wir lebenslang mithilfe komplexer, störungsanfälliger biochemischer Regulationskaskaden um ein dynamisches Gleichgewicht. Dieser volatile Balanceakt wird Homöostase genannt. Vor allem das Gehirn und die Regulations-Systeme reagieren sensitiv auf Einflüsse und werden extrem belastet. Im Grunde ist das Immunsystem „gutmütig“ und einsatzfreudig – das Trommelfeuer an Reizen überfordert jedoch die Kapazitäten. Das führt letztendlich zu einer langen Liste unklarer Ganzkörper-Beschwerden wie Schmerzen, Fatigue und geringer Stresstoleranz – und auch die Seele leidet.
Diese multisystemischen, heterogenen Beschwerdebilder lassen sich aufgrund der diffusen Symptomatik nicht leicht verstehen und widersetzen sich den üblichen Einordnungen. Hier gelangen wir auf mehreren Ebenen in einen Grauzonen-Bereich zwischen gesund und krank, zwischen Psyche und Soma und auch die Frage nach Ursache und Wirkung, bzw. nach Dosis und Wirkung stellt sich.
Diese Komplexität dieser Erkrankungen erfordert eine veränderte Herangehensweise in Diagnostik und Therapie. Daher wird im vorliegenden Buch die Bezeichnung Systemische Epimedizin als Grundidee für ein umfassendes, interdisziplinäres, systemisches Medizinkonzept vorgeschlagen.
Dieses Konzept wird in TEIL 1 skizziert und in späteren Kapiteln vertieft.
Kapitel 1 Jedes Zeitalter hat seine Erkrankungen
Moderne Lebensbedingungen
Mit Beginn der Industrialisierung hat sich unsere Lebenswelt umfassend verändert. Industrialisierung, Globalisierung und Digitalisierung sind Schlagworte, die uns allerorten begegnen. Noch nie unterschied sich die Art und Weise zu leben innerhalb weniger Generationen so grundsätzlich wie heute. Wir erleben seit etwa 100 Jahren zunehmend an einem einzigen Tag so viele Reize, wie sie ein „vorindustrieller“ Mensch in einer Woche oder gar in einem Monat erlebt hat: Hektik, Mobbing, Lärm, visuelle, auditive und/oder digitale Reizüberflutung. Dazu kommen Umweltschadstoffe und neue Arten elektromagnetischer Strahlung.
Wir leben heute nicht nur grundlegend anders als unsere nahen Vorfahren – unsere Lebensweise unterscheidet sich auch fundamental von allen Lebensformen der bisherigen Menschheitsgeschichte. Wir sind Zeitzeugen eines radikalen Wandels ohne historisches Vorbild. Wir werden sehen, dass gerade dieser Sachverhalt uns blind macht für die Risiken, die damit verbunden sind. |
Unsere Ururgroßeltern wären hoffnungslos überfordert durch Autoverkehr, Medien und durch den allgegenwärtigen Stress. Sie würden staunen:
Über Regale voller Halbfertig- und Fertigprodukte, die Konservierungsmittel, Geschmackstoffe, künstliche Aromen und/oder Geschmacksverstärker enthalten.
Unsere Vorfahren würden hilflos einer visuellen, sensorischen und auditiven Informationsflut gegenüberstehen und müssten sich ständig entscheiden: Welches der 30 Shampoos ist das Richtige? Facebook oder Instagram? Elektroauto oder Diesel?
Nicht wahrnehmen könnten die Ururgroßeltern z. B. den Feinstaub und die Pestizide oder die ca. fünf Gramm Mikroplastik-Partikel, die wir heute pro Woche aufnehmen (WWF-Studie 2019) – das entspricht dem Gewicht einer Kreditkarte. Auch die kannten unsere Vorfahren nicht.
Diese Liste lässt sich nahezu unendlich verlängern.
Veränderte Umwelt – veränderte Erkrankungen
Bei nüchterner Betrachtung muss man konstatieren: Die moderne Lebensweise hat eine Ereignisdichte und Reizintensität erreicht, die eine Zumutung für den Organismus darstellt. Das Gleichgewicht zwischen der Fülle an Reizen und unseren körperlichen und seelischen Antworten ist nachhaltig gestört, wir betreiben tagtäglich Raubbau an unseren Ressourcen. Das Gehirn als das primär stresswahrnehmende Organ wird besonders herausgefordert.
Nicht nur chronisch-entzündliche Erkrankungen nehmen zu, auch die Zahl psychischer und neuro-degenerativer Erkrankungen steigt bedrohlich an.
Unser Immunsystem ist „gutmütig“ und einsatzfreudig, wird aber überflutet mit einem Trommelfeuer an Reizen. Die übergreifenden Regulations-Systeme – das Immun-, das Hormon- und das Nervensystem – sowie deren Subsysteme reagieren sensitiv auf diese Einflüsse und sind daher vulnerabel. |
Klimawandel und Gesundheit
Kurz vor Veröffentlichung dieses Buches führte Starkregen zu Hochwasserkatastrophen, nicht nur in mehreren Regionen Deutschlands, sondern auch in weiteren Ländern. In Griechenland und in der Türkei hingegen ist es derzeit so trocken, dass die Feuerwehren die Waldbrände kaum mehr löschen können. Damit wird zunehmend real, wovor Klimaforscher schon so lange warnen.
Die Erderwärmung entsteht vor allem durch die Verbrennung fossiler Energien wie Braunkohle, Steinkohle und Erdöl, die zu einem CO2 Ausstoß führt. CO2 ist keine neuartige Substanz, aber die Verdoppelung des Anteils in der schützenden Atmosphäre, die die Erde umgibt, trägt zum Treibhauseffekt bei.
„Der Klimawandel ist die größte globale Gesundheitsbedrohung des 21. Jahrhunderts.“
fasste Richard Horton, Chefredakteur des renommierten Wissenschaftsmagazins The Lancet schon 2009 in einem Kommentar die zentrale Aussage eines Berichts zusammen, den das University College London/UCL in Kooperation mit dem Lancet herausgebracht hatte und der sich mit den gesundheitlichen Folgen der Erderwärmung befasste. 1/1 The Lancet
Der Weltärztebund rief im Oktober 2017 in seiner Declaration On Health and Climate Change die nationalen Ärzteverbände dazu auf, Klimawandel und Gesundheit als prioritäre Aufgabe auf ihre Agenda zu setzen. 1/2 Weltärztebund
Die Hitzeperioden dauern auch in Deutschland mittlerweile länger an und sind intensiver, das stellt eine zusätzliche Belastung insbesondere für vorerkrankte Menschen dar und kann zu hitzebedingter Sterblichkeit führen. The 2020 report of The Lancet Countdown on health and climate change: responding to converging crises lautete der Titel einer Lancet-Berichtes, der rund 20.200 Todesfälle bei über 65-Jährigen im Jahr 2018 in Deutschland errechnet hatte, die im Zusammenhang mit Hitze standen. 1/3 Watts et al. Ist die Haut wiederholt ultravioletten Strahlen/UV-Licht ausgesetzt, erhöht sich zudem auch das Risiko für weißen und schwarzen Hautkrebs.
Das Bundesumweltamt informiert über weitere klimabedingte Auswirkungen auf unsere Gesundheit:
„Der Klimawandel kann zukünftig zu einer Zunahme weiterer Extremwettererscheinungen mit direkter, potentieller Gesundheitsbedeutung führen, worunter z. B. vor allem die Auswirkungen von Stürmen und Orkanen, sowie Hochwasser/Überschwemmungen bedingt durch Stark- oder Dauerregen zählen. Die hierdurch ausgelösten gesundheitlichen Auswirkungen können nicht nur physischer Art sein, wie z. B. Infektionen, Verletzungen oder im Extremfall auch Todesfälle, sondern auch psychische Belastungen wie Stress, Angstzustände, Traumata und Depressionen verursachen.
Indirekte gesundheitliche Auswirkungen und Risiken treten durch nachteilig veränderte Umweltbedingungen als Folge der Klimaänderungen auf. Hierzu gehören u.a. die Beeinträchtigung der Qualität und Quantität von Trinkwasser und Lebensmitteln, das veränderte bzw. verlängerte Auftreten biologischer Allergene (zum Beispiel Pollen) sowie von tierischen Krankheitsüberträgern, sogenannten Vektoren, wie Zecken oder Stechmücken. 1/4 Umweltbundesamt
Der Arzt und Kabarettist Eckart von Hirschhausen engagiert sich seit 2018 für eine medizinisch und wissenschaftlich fundierte Klimapolitik. Er ist Mitbegründer von Scientists for Future und Unterstützer der Deutschen Allianz Klimawandel und Gesundheit/KLUG. Er fasst treffend zusammen:
„Wir müssen nicht ,das Klima‘ retten – sondern uns.“
⇒ Weitere InformationenDeutsche Allianz Klimawandel und Gesundheit e.V./KLUG„Die Deutsche Allianz Klimawandel und Gesundheit e.V. /KLUG ist ein Netzwerk von Einzelpersonen, Organisationen und Verbänden aus dem gesamten Gesundheitsbereich, deren Ziel es ist, deutlich zu machen, welche weitreichenden Folgen die Klimakrise auf die Gesundheit hat. 1/5 KLUG |
1.1 Nichtübertragbare (Zivilisations-)Erkrankungen/NCDs
Typhus, Diphtherie und Tuberkulose – die Erkrankungen unserer Vorfahren traten akut und virulent auf. Das Krankheitsspektrum hat sich verändert, heute überwiegen Chronische (Zivilisations-)Erkrankungen. Im Gegensatz zu den Infektions-Erkrankungen gelten diese Erkrankungen als nicht übertragbar. Diese im Laufe des Lebens erworbenen, nicht durch „Ansteckung“ übertragbaren Erkrankungen mit langer Krankheitsphase werden als Nichtübertragbare Krankheiten/Noncommunicable diseases/NCDs bezeichnet. Sie haben oft keinen klar bestimmbaren Ausgangspunkt und entwickeln sich allmählich über eine lange Zeitdauer – das können Monate, Jahre oder gar Jahrzehnte sein. NCDs bedürfen einer Dauertherapie.
Eine globale Herausforderung
Die Weltgesundheits-Organisation WHO fasste am 13. April 2021 die wichtigsten Fakten zu Nichtübertragbaren Krankheiten/Noncommunicable diseases/NCDs zusammen:
„Nichtübertragbare Krankheiten (NCDs) töten jedes Jahr 41 Millionen Menschen, das entspricht 71 % aller Todesfälle weltweit.
Jedes Jahr sterben mehr als 15 Millionen Menschen im Alter zwischen 30 und 69 Jahren an einer NCD; 85 % dieser „vorzeitigen“ Todesfälle treten in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen auf.
Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind für die meisten NCD-Todesfälle verantwortlich, das entspricht 17,9 Millionen Menschen jährlich, gefolgt von Krebserkrankungen (9,3 Millionen), Atemwegserkrankungen (4,1 Millionen) und Diabetes (1,5 Millionen).
Diese vier Krankheitsgruppen sind für über 80 % aller vorzeitigen NCD-Todesfälle verantwortlich.
Tabakkonsum, körperliche Inaktivität, schädlicher Alkoholkonsum und ungesunde Ernährung erhöhen das Risiko, an einer NCD zu sterben.
Erkennung, Screening und Behandlung von NCDs sowie Palliativmedizin sind wichtige Bestandteile der Antwort auf NCDs.
Nichtübertragbare Krankheiten (NCDs), die auch als chronische Krankheiten bezeichnet werden, sind meist von langer Dauer und das Ergebnis einer Kombination aus genetischen, physiologischen, umweltbedingten und verhaltensbedingten Faktoren.“ [Ü. d. A.] 1.1/1 Factsheet WHO NCD
Die WHO weist auf den rasanten Anstieg dieser Erkrankungen hin und warnt vor einer epidemiologischen und ökonomischen Krise. |
Chronisch krank in Deutschland
2020 veröffentlichte das Frankfurter Institut für Allgemeinmedizin der Goethe-Universität die Studie Chronisch krank sein in Deutschland – Zahlen, Fakten und Versorgungserfahrungen. Sie ergab unter anderem:
Insgesamt gaben 18 Millionen von 42 Millionen (ca. 43 %) Frauen an, dass sie chronisch krank seien.
Befragungen von Frauen im Alter von 18–29 Jahre ergaben, dass 20,8 % mindestens eine chronische Erkrankung haben und 58,3 % der Frauen über 65 Jahre.
Insgesamt gaben 15,5 Millionen von 41 Millionen (ca. 38 %) der Männer an, dass sie chronisch krank seien.
Befragungen von Männern im Alter von 18–29 Jahre ergaben, dass 17,5 % mindestens eine chronische Erkrankung haben und 55,3 % der Männer über 65 Jahre. 1.1/2 Güthlin et al.
Grundsicherung und Krankheit
Das statistische Bundesamt teilte im April 2019 mit, dass im Dezember 2018 über eine Million Personen ab 18 Jahren Leistungen der Grundsicherung erhielten. 1.1/3 Stat. Bundesamt Knapp die Hälfte davon, 48,1 Prozent, erhielt die Leistung aufgrund einer dauerhaft vollen Erwerbsminderung aufgrund von Krankheit oder Behinderung.
Gesundheit der Bevölkerung nimmt ab
Auch wenn Statistiken immer in einem Gesamtzusammenhang bewertet werden müssen und viele Komponenten eine Rolle spielen – es ist kaum widerlegbar, dass die Gesundheit in der Gesamtbevölkerung abnimmt.
Zum einen müssen immer mehr (Chronisch) Kranke und ältere Menschen versorgt werden, zum anderen nimmt die Zahl der Menschen, die so gesund sind, dass sie den eigenen Unterhalt erarbeiten können, stetig ab. |
Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften/AWMF veröffentlichte 2018 ein Strategiepapier: Medizin und Ökonomie: Maßnahmen für eine wissenschaftlich begründete, patientenzentrierte und ressourcenbewusste Versorgung. Darin merken die Autoren an:
„Die Einnahmebasis der umlagefinanzierten GKV wird längerfristig durch den steigenden Anteil nicht mehr Erwerbstätiger/Rentner geschwächt, insbesondere ab Renteneintritt der geburtenstarken Jahrgänge („Babyboomer“). Dies erfordert einen sehr bewussten Umgang mit knapper werdenden Ressourcen.“ [Quellenhinweise im Originaltext] 1.1/4 AWMF
Die akuten Infektionen durch COVID-19 stellen derzeit eine zusätzliche Belastung des Gesundheitssystems dar. Dazu kommen die Langzeitfolgen der Pandemie, die Post-COVID, bzw. die Long-COVID-Patienten. Deren Anzahl ist unklar, Experten schätzen, dass allein in Deutschland mit rund 370.000 Betroffenen zu rechnen sei, überwiegend im berufstätigen Erwachsenenalter. Die meisten sind vorübergehend oder möglicherweise dauerhaft arbeitsunfähig.
1.1.1 Entstehungsfaktoren
Die WHO verweist auf vermeidbare Risikofaktoren:
„Durch die Bekämpfung der wichtigsten Risikofaktoren (Tabak- und Alkoholkonsum, ungesunde Ernährung, Bewegungsmangel, Bluthochdruck, Adipositas und eine Reihe von Umweltfaktoren) ließen sich mindestens 80 % aller Herzkrankheiten, Schlaganfälle und Fälle von Diabetes sowie 40 % aller Krebserkrankungen verhindern.“ 1.1.1/1 WHO
Auch das Robert-Koch-Institut verweist auf die Verantwortung des Einzelnen:
„Nichtübertragbare Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Diabetes mellitus und Atemwegserkrankungen sind die Haupttodesursache weltweit und auch in Deutschland. [...]
„Präventionsansätze müssen den Einzelnen, seine Lebenswelt und die gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen in den Blick nehmen“, betont RKI-Präsident Prof. Lothar H. Wieler. 1.1.1/2 RKI
Zeitgenossenschaft
Jeder Einzelne kann zur eigenen Gesundheit beitragen, indem er gesund lebt und sich entsprechend ernährt und bewegt. Der Einfluss der persönlichen Lebensgestaltung ist jedoch paradoxerweise gleichzeitig so wesentlich wie begrenzt.
Die WHO informiert:
„Ein Fünftel aller Todesfälle in der Europäischen Region, insbesondere infolge von Herz-Kreislauf-, Atemwegs- und Krebserkrankungen, ist auf Umwelteinflüsse wie Luftverschmutzung oder chemische und physikalische Agenzien zurückzuführen.“ 1.1.1/3 WHO
Wer an Asthma leidet, wird jedoch selbst mit den besten Rechtsanwälten die Verursacher von Feinstaub kaum in Regress nehmen können. Wer mit hormonwirksamen Weichmachern belastet wurde, wird kaum nachweisen können, durch welche konkreten Materialien dies geschah. Wenn Pestizide im Organismus nachweisbar sind, kann schwerlich der Bauer belangt werden, der diese verwendet hat und auch die Hersteller berufen sich darauf, dass die Kausalität nicht zweifelsfrei nachzuweisen sei. Auseinandersetzungen vor Gericht gehen oft über Jahre.
Der Geschädigte muss nachweisen, wodurch und von wem er geschädigt wurde, während Hersteller nicht zwingend die Unschädlichkeit ihrer Produkte nachweisen müssen.Wir leben in einer industrialisierten Um- und damit auch mit einer industrialisierten Innenwelt, aber offenbar ist niemand verantwortlich für Schäden an Menschen, Tieren und Pflanzen, die durch unseren gemeinsamen Lebensraum entstehen. |
Syndemie
Richard Horton ist Chefredakteur der international renommierten Wissenschaftszeitschrift The Lancet. Mit der provozierenden Überschrift COVID-19 is not a pandemic/auf Deutsch COVID-19 ist keine Pandemie machte er im September 2020 darauf aufmerksam, dass die derzeitige Corona-Pandemie einen grundsätzlich anderen Charakter habe als die Seuchen vergangener Jahrhunderte. Horton bezeichnet die Pandemie deshalb als „Syndemie“. Dieser Begriff geht auf Merrill Singer zurück und umfasst biologische und soziale Wechselwirkungen, die für Prognosen, für die Behandlung und für die Gesundheitspolitik wichtig sind.
Die Infektionskrankheit COVID-19 trifft auf Epidemien ohne Infektion – die nichtübertragbaren Zivilisationserkrankungen. |
Aktuelle Studien zeigen, dass schwere COVID-19-Krankheitsverläufe mit vier Vorerkrankungen zusammenhängen: Übergewicht, Bluthochdruck, Diabetes und Herzinsuffizienz. 1.1.1/4 O’Hearn et al. Weitere Studien zeigen, dass Umweltbelastungen wie Feinstaub und prekäre Wohn- und Arbeits-Verhältnisse Effekte auf den Verlauf der COVID-19-Erkrankung zeigen.
Richard Horton erklärt:
„Im Fall von COVID-19 ist die Bekämpfung von NCDs eine Voraussetzung für eine erfolgreiche Eindämmung. [...] Die Bekämpfung von COVID-19 bedeutet, sich mit Bluthochdruck, Fettleibigkeit, Diabetes, Herz-Kreislauf- und chronischen Atemwegserkrankungen sowie Krebs zu befassen. [...]
Solange Regierungen keine Strategien und Programme entwickeln, um tiefgreifende Ungleichheiten umzukehren, werden unsere Gesellschaften niemals wirklich COVID-19-sicher sein.“ [...] Die Betrachtung von COVID-19 als Syndrom wird zu einer größeren Vision einladen, die Bildung, Beschäftigung, Wohnen, Ernährung und Umwelt umfasst. COVID-19 nur als Pandemie zu betrachten, schließt eine solche breitere, aber notwendige Perspektive aus.“ [Ü.d.A.] 1.1.1/5 The Lancet
⇒ Weitere InformationenDie Gesundheitsstudie NAKODie NAKO Gesundheitsstudie ist die derzeit größte bevölkerungsbasierte, multizentrische Langzeitstudie in Deutschland. 1.1.1/6 NAKO |
NCDs in Europa
Für die Jahre 2012–2016 wurde im Jahr 2006 eine Europäische Strategie zur Prävention und Bekämpfung nichtübertragbarer Krankheiten von der WHO verabschiedet. Der Aktionsplan zur Prävention und Bekämpfung nichtübertragbarer Krankheiten in der Europäischen Region der WHO ist die Fortschreibung und Überarbeitung für die Jahre 2016–2025.
Abb. 1.1.1/1 Gründe für Todesfälle 2015
Das Umweltbundesamt informiert:
„Die Lancet-Kommission zum Thema „pollution and health“ stützt sich auf Daten unterschiedlicher Institute und konstatiert für das Jahr 2015, dass weltweit circa neun Millionen Todesfälle auf Umweltverschmutzung zurückzuführen sind. Allein 4,2 Millionen Todesfälle werden global den Auswirkungen von Feinstaub in der Umgebungsluft zugeschrieben, was die große Bedeutung dieses Risikofaktors für die Gesundheit veranschaulicht. Damit ist Feinstaub in Bezug auf Mortalität einer der wichtigsten Risikofaktoren. Im Vergleich dazu können ernährungsbezogenen Risikofaktoren jährlich weltweit circa 12,1 Millionen, Bluthochdruck 10,7 Millionen, Adipositas 4,0 Millionen, Alkoholmissbrauch 2,3 Millionen und Verkehrsunfällen 1,4 Millionen Todesfälle zugeschrieben werden.“ [Quellenhinweise im Original] 1.1.1/7 UMID
Kapitel 2 Der Begriff „Multisystem-Erkrankung“
In Kapitel 1 haben wir uns einen Einblick verschafft über Zivilisations-, bzw. über Nichtübertragbare Erkrankungen. Doch was verstehen wir unter multisystemischen Erkrankungen? Zunächst wenden wir uns den Multisymptom-Erkrankungen zu, um dann zu einer ersten Annäherung an den Begriff „Multisystem-Erkrankung“ zu kommen.
2.1 Multisymptom-Erkrankungen
Der Begriff „Chronische Multisymptom Erkrankung“ wurde 1998 erstmals als „chronic multisymptom illness“ eingeführt, um chronische unerklärliche Symptome der Air Force Veteranen des Golf Krieges von 1991 zu benennen. 2.1/1 Fukuda et al. Die aus dem Golfkrieg 1991 zurückgekehrten Veteranen wiesen eine solche Fülle an Symptomen auf, dass sie nicht in die bestehenden Klassifikationen einzuordnen waren. Sie litten unter massiver Erschöpfung und Müdigkeit (fachsprachlich Fatigue), Störungen des Nervensystems, des Atemsystems, chronischen muskulären Störungen, Magen-Darm-Störungen, kognitiven und emotionalen Auffälligkeiten (z. B. Apathie, geringe Stresstoleranz-Grenze und/oder Überreizung) sowie unter Schlafstörungen. Diese Symptome traten innerhalb der Rückkehrer individuell sehr unterschiedlich auf, so dass kein einheitliches Symptombild zu erkennen war.
Unter anderen Begriffen war dieses Phänomen auch schon bei Militärpersonal in Einsätzen vor dem Golfkrieg beschrieben worden. Die Golfkrieg-Veteranen schienen aber in besonders schwerem Ausmaß betroffen zu sein.
Medizinisch unerklärliche Symptome
Ein Komitee des Institute of Medicine/IOM (Washington, USA) veröffentlichte 2013 eine Publikation, die sich mit „Chronischen Multisymptom-Erkrankungen“ befasste und Behandlungs-Optionen untersuchte. Das IOM-Komitee betonte, dass die für die Golfkriegs-Veteranen beschriebenen Symptome nicht nur bei dieser Gruppe zu finden waren, sondern auch in der zivilen Bevölkerung weite Verbreitung zeigten. Für vergleichbare Erkrankungen im zivilen Bereich wurden Begriffe wie “Medically unexplained (physical) symptoms/MU(P)S”, auf Deutsch: „Medizinisch unerklärbare (körperliche) Symptome“ oder „Funktionelle somatische Störung“ verwendet.
Diese “Medically unexplained (physical) symptoms/MU(P)S” ließen sich weder bei den definierten psychischen Erkrankungen einordnen noch als organische Erkrankungen im klassischen Sinne. [Ü.d.A.] 2.1/2 Burton |
Mediziner vermuteten, dass diese Art von Erkrankung multifaktoriell verursacht sei und physiologische, psychologische und soziale Faktoren einschließe. Eine niederländische Studie, die 2009 veröffentlicht wurde, zeigte, dass nahezu 60 % der Patienten, die unter „unerklärbaren Symptomen“ litten, auch nach zwölf Monaten noch keine Diagnose erhalten hatten. 2.1/3 Koch et al. Um dieser rätselhaften Erkrankung anhand einer Falldefinition näherzukommen, verfasste das IOM-Komitee eine Definition für Multisymptom-Erkrankungen. Die englischsprachige Abkürzung lautet „CMI“ für Chronic Multisymptom Illness. Diese Abkürzung wird in anderen Veröffentlichungen auch für „chronic multisystem illness“ verwendet.
Definition des US-amerikanischen IOM-Komitees für Chronische Multisymptom-Erkrankungen/CMI (2013)
„CMI ist ein komplexer, uneinheitlicher Zustand, und seine Falldefinition kann sich ändern, wenn neue wissenschaftliche Informationen auftauchen. Für die Zwecke dieses Berichts hat der Ausschuss CMI wie folgt definiert:
Das Vorhandensein eines Spektrums chronischer Symptome, die in mindestens zwei von sechs Kategorien – Müdigkeit, Stimmung und Kognition, Muskel-Skelett, Magen-Darm, Atmung und Neurologie – auftreten, die mit bekannten Syndromen (wie Reizdarm, CFS und Fibromyalgie) oder anderen Diagnosen überlappen können, aber nicht vollständig erfasst werden.
Es ist wichtig zu beachten, dass die Definition des Ausschusses keine Syndrome mit genau definierten diagnostischen Kriterien wie Reizdarm, CFS und Fibromyalgie umfasst. Aufgrund der gemeinsamen Symptome können jedoch wirksame Therapien für diese definierten Syndrome für Patienten mit CMI von Vorteil sein.“ [Ü.d.A.] 2.1/4 IOM
2.2 Erworbene Multisystem-Erkrankungen
Multisymptom- oder Multisystem-Erkrankung?
Während für „chronic multisymptom illness“ eine erste, weit gefasste Definition vorliegt, scheint es für den Begriff „Multisystem-Erkrankung“ keine ausgearbeitete einheitliche Definition zu geben. Je nach Quelle werden sehr unterschiedliche Erkrankungen unter diesem Begriff subsummiert. |
Die medizinische Herausforderung unserer Zeit
Bei Erworbenen multisystemischen (Komplex-)Erkrankungen scheinen alle Faktoren variabel, uneinheitlich und kaum greifbar zu sein: Die Symptome, der Verlauf, die Schwere, die Auslöser und die Ursachen. Betroffene leiden unter zahlreichen, meist unspezifischen und oft kaum lokalisierbaren Beschwerden. In Studien werden bis zu 200 unterschiedliche Symptome aufgezählt. Diese organübergreifenden „Ganzkörper“-Phänomene, die auf regulativen Störungen beruhen, werden als „systemisch“ bezeichnet. Als organübergreifende Ganzkörper-Erkrankungen erfüllen sie weder die Kriterien der Organpathologie im klassischen Sinn noch die der klassischen Infektionskrankheiten. Die Patientengruppen sind selbst bei gleicher Diagnose sehr heterogen.
Sie lassen sich auch nicht, das ist wichtig, als Primäre Psychische und Psychiatrische Erkrankungen klassifizieren. (Für PTBS lesen Sie bitte Kapitel 11).
EmKE sind multikausal begründet | Es gibt nicht die eine Ursache, sondern stets mehrere (Summenbelastung). Dabei spielen biologische, chemische, physikalische und psychosoziale Belastungen eine jeweils individuell zu gewichtende Rolle. Stoffliche (z.B. Viren, Umweltschadstoffe) und nichtstoffliche (z.B. elektromagnetische) Reize interagieren synergistisch und ziehen biochemisch ähnliche Reaktionskaskaden nach sich. |
EmKE betreffen multiple Regulations-Systeme | Durch quantitativ und qualitativ unüberschaubare Einflüsse werden die regulierenden Abläufe im Immun-, Hormon- und Nervensystem extrem herausgefordert. Dadurch entstehen einmalige, individuelle Kombinationen von multisystemischen Fehlsteuerungen. Auch die Psyche wird in Mitleidenschaft gezogen. |
EmKE betreffen multiple Organe in ihrer Funktionsfähigkeit | Die Fehlsteuerungen betreffen den ganzen Organismus. Sie haben funktionelle Auswirkungen auf mehrere Gewebe, Strukturen und Organe. Sie führen zu meist unspezifischen Symptomen. Patienten beschreiben typischerweise, dass die Beschwerden „überall und nirgends“ auftreten. |
EmKE zeigen multiple Symptome | Bei den drei EmKE werden jeweils spezifische Leitsymptome beschrieben. Typischerweise treten zugleich zahlreiche unspezifische Symptome auf – die häufigsten sind Schmerzen und Fatigue. |
EmKE bedürfen einer multimodalen Diagnostik und Therapie | Erkrankungen, die aus so vielen Variablen entstehen sind „einzigartig“. Kein Patient ist identisch mit einem anderen, auch wenn es bei den EmKE grobe Gemeinsamkeiten gibt, die als Symptom-Komplexe zusammengefasst werden. Der multisystemisch erkrankte Patient benötigt die personalisierte, interdisziplinäre Diagnostik und Behandlung. |
Abb. 2.2/1 Die „Multis“ der EmKE
COVID-19
Mit dem Post-COVID-19-Syndrom (Spätfolgen einer COVID-19-Infektion) entsteht vor unseren Augen gerade ein Paradebeispiel einer neuen multisystemischen Komplex-Erkrankung. |
Auch hier zeigen die üblichen Standard-Untersuchungen keine Befunde. Betroffene erleben und erleiden die typischen Merkmale, bzw. Hindernisse wie andere multisystemisch komplex Erkrankte, z. B. die Verharmlosung der Symptome, Stigmatisierung (trotz erwiesen COVID-19-Infektion), keine Anlauf- und Beratungsstellen, fehlende Therapieangebote, soziale Isolation und sozialrechtliche Minderversorgung. In Kapitel 10 wird die COVID-19 Erkrankung und das Post-COVID-Syndrom (PCS) beschrieben.
Ein hochaktuelles Thema
In Fachpublikationen wird zunehmend von multisystemischen Erkrankungen oder Beschwerden berichtet. Die Datenbank PubMed® zeigt die erste Publikation für den Suchbegriff „multisystem“ für das Jahr 1958. Es dauerte 54 Jahre, bis die Zahl der Publikationen 2012 vierstellig wurde (1.013 Publikationen). 2020 verzeichnet PubMed® einen sprunghaften Anstieg mit einer Verdoppelung der Publikationen von 1.404 im Jahr 2019 auf 2.214. Am 10.5.2021 hat die Zahl der Publikationen schon fast den Stand des Jahres 2019 eingeholt.
In Zusammenhang mit COVID-19 Erkrankungen wird beispielsweise die Bezeichnung „Multisystem Inflammatory Syndrome in Children“ verwendet. Seit Juni 2020 gibt es mehrere Berichte über ein ähnliches multisystemisches Entzündungssyndrom bei Erwachsenen, das als „Multisystem Inflammatory Syndrome in adults“ bezeichnet wird.
2.2.1 Erworbene Multisystemische Komplex-Erkrankungen/EmKE
Multisystem-Erkrankungen
In der Fachliteratur und in wissenschaftlichen Datenbanken wie PubMed® wird der Begriff „Multisystemische Erkrankung“ je nach Autor enger oder weiter gefasst verwendet, er kann z. B. alle (Zivilisations-)Erkrankungen einschließen oder sich auf einzelne Erkrankungen (z. B. Sarkaidose) beziehen.
Multisystem-Erkrankungen nach Prof. Pall
Im vorliegenden Buch geht es um sehr komplexe, erworbene Multisystem-Erkrankungen, die unter dem Einfluss der Industrialisierung zunehmen. Der renommierte US-amerikanische Wissenschaftler Prof. Martin L. Pall, emeritierter Professor für Biochemie und Grundlagenwissenschaften der Medizin an der Washington State University, beschreibt in seinem 2007 erschienenen Buch mehrere Ausprägungen multisystemischer Erkrankungen. Der Titel des Buches lautet: Explaining ‘Unexplained Illnesses’: Disease Paradigm for Chronic Fatigue Syndrome, Multiple Chemical Sensitivity, Fibromyalgia, Post-Traumatic Stress Disorder, and Gulf War Syndrome and Others. 2.2.1/1 Pall Es erschien bisher nur in englischer Sprache. Auf Deutsch lautet der Titel: Die Erklärung „unerklärter Krankheiten“. Ein Krankheitsparadigma für das Chronische Erschöpfungssyndrom, Multiple Chemikalienempfindlichkeit, Fibromyalgie, Posttraumatische Belastungsstörung, das Golfkriegssyndrom und weitere.
Prof. Martin L. Pall beschreibt insbesondere folgende weit verbreitete, aber selten korrekt diagnostizierte Krankheitsbilder:
Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Erschöpfungs-Syndrom/ME/CFS
mit den Merkmalen: Vitalitätsverlust und ausgeprägter Regenerationsbedarf, selbst nach scheinbar wenig anstrengenden Tätigkeiten (PEM, bzw. PENE). } Siehe Kapitel 7
Fibromyalgie-Syndrom/FMS
Leitsymptome sind: Schmerzen, Schlafstörungen und Erschöpfungsneigung. } Siehe Kapitel 8
Multiple Chemikalien Sensitivität/MCS
Individuell heterogene Hypersensitivität gegenüber flüchtigen und flüssigen Chemikalien, Duftstoffen, Abgasen, Lösemitteln oder Zigarettenrauch. } Siehe Kapitel 9
Post-Traumatische Belastungs-Störung/PTBS, bzw. „Komplexe PTBS“
Unter (K)PTBS wird eine verzögerte Reaktion auf eine oder mehrere außergewöhnliche Bedrohungen verstanden. Leitsymptome sind: Nachhallerinnerungen, Übererregungssymptome und Vermeidungsverhalten. } Siehe Kapitel 11
Prof. Pall:
„In Anlehnung an andere Wissenschaftler bezeichne ich diese vier Erkrankungen als Multisystemerkrankungen. Ich stelle […] die Behauptung in Frage, dass diese Krankheiten und sogar ihre Symptome ungeklärt sind. Ich beabsichtige, eine detaillierte Erklärung für die allen vier Krankheiten gemeinsamen Mechanismen und Symptome anzubieten.“ 2.2.1/2 Pall
Prof. Pall erläutert, dass diese vier Erkrankungen mutmaßlich ursächlich durch den komplexen Nitrosativen Stress-Zyklus (auch „Biochemischer Teufelskreis“) erklärbar sind und behandelt werden können. Er beschreibt an anderer Stelle weitere, verwandte Multisystem-Erkrankungen.
Krankheitsspektrum Multisystem-Erkrankungen
„Wir behaupten, dass die Multisystemerkrankungen wirkliche Erkrankungen sind, die von diesem Mechanismus verursacht werden, auch wenn es sich um Erkrankungen handelt, die sich von Individuum zu Individuum stark unterscheiden können, weil die zugrunde liegenden biochemischen Prozesse in verschiedenen Geweben auftreten.
Mit anderen Worten: diese Multisystemerkrankungen bilden ein Krankheitsspektrum.“ 2.2.1/3 Pall
Die Annahme, dass sowohl ME/CFS, MCS; FMS und PTBS sowie weitere chronische Erkrankungen eine gemeinsame Ätiologie aufweisen, wurde zuvor schon 1994 von Dedra Buchwald und Deborah Garrity, 2.2.1/4 Buchwald, Garrity 1995 und 1999 von Albert Donnay und Grace Ziem 2.2.1/5/2.2.1/6 Donnay, Ziem und 1999 von Claudia S. Miller postuliert. 2.2.1/7 Miller
Erworbene multisystemische (Komplex-) Erkrankungen/EmKE
ME/CFS, MCS und FMS werden im vorliegenden Buch unter der Bezeichnung „Erworbene multisystemische Komplex-Erkrankungen/EmKE“ zusammengefasst, um sie – da sie den hauptsächlichen Untersuchungsgegenstand darstellen – von verwandten multisystemischen Erkrankungen abzugrenzen. Das schließt nicht aus, dass auch weitere verwandte Erkrankungen als EmKE bezeichnet werden können.
Die Post-Traumatische Belastungs-Störung/PTBS, bzw. die „Komplexe PTBS“, gilt in der etablierten Medizin als psychische Erkrankung und unterscheidet sich in der Ätiologie, nicht jedoch in anderen Merkmalen von ME/CFS, MCS und FMS.
„Erworben“ bedeutet, dass die Beschwerden, bzw. die Erkrankungen im Laufe der Lebensspanne neu aufgetreten sind.
Bezeichnungen für Multisystem-Erkrankungen
In anderen Zusammenhängen werden von Wissenschaftlern und Behandlern weitere Bezeichnungen für komplexe, multisystemische Erkrankungen verwendet. In Kapitel 31 werden Bezeichnungen beschrieben, die von Vertretern einer biopsychosozialen Sichtweise verwendet werden. Sie verstehen die Vielzahl der Symptome als Folge eines dysfunktionalen Verhaltens. Im weiteren wenden wir uns hier jedoch den Bezeichnungen zu, die der komplexmedizinischen Sichtweise entsprechen.
Der US-amerikanische Arzt und Autor Neil Nathan spricht beispielsweise von „Complex medical illnesses“, der US-amerikanische Arzt für funktionelle Medizin Eric Gordon bezeichnet sie als „Complex Chronic Illnesses“, es gibt in Kalifornien ein „Center for Complex Diseases“. Der Begriff „Environmentally Acquired Illness“ betont die umweltbezogene Entstehung.
Es gibt eine ganze Reihe von Erkrankungen, die unter diesen Begriffen subsummiert werden. Dazu gehören: Dysautonomie, Mastzell-Aktivierungs-Erkrankung, Sick-Building-Syndrom/SBS, Elektromagnetische Hypersensitivität/EHS, Chronisches Schmerzsyndrom, das Golfkriegs-Syndrom, Borreliose, Ehlers-Danlos-Syndrome und viele weitere. } Siehe Kapitel 10 und folgende
Was ist ein Syndrom?Ein einzelnes Krankheitszeichen (wie z. B. Fieber) wird „Symptom“ genannt; mehrere Krankheitszeichen zusammen ergeben Symptom-Muster, bzw. einen „Symptomkomplex“. Musterhaft gemeinsam auftretende Symptomkomplexe (körperliche, emotionale oder kognitive Symptome) werden als Syndrom zusammengefasst. |
Medizinisch unerklärlich?
Um eine Diagnose zu stellen, verschafft sich der Behandler im ärztlichen Vorgespräch (fachsprachlich Anamnese), ein umfassendes Bild der Krankheitsvorgeschichte des Patienten. Er fragt nach aktuellen Beschwerden, Schmerzen, Allergien, bisherigen Krankheiten und Operationen. Von der Anamnese hängen die weiteren Schritte ab: die körperliche Untersuchung, Labordiagnostik (Blut- und Urinstatus), danach gegebenenfalls weiterführende apparative Untersuchungen wie EKG oder bildgebende Verfahren (Röntgen oder Ultraschall). Im besten Fall wissen Arzt und Patient am Ende, welche Erkrankung vorliegt und wie sie zu behandeln ist.
Multisystemische (Komplex-)Erkrankungen werden jedoch häufig als „Medizinisch nicht erklärbare Symptome“, bzw. „Medizinisch nicht erklärbare (körperliche) Erkrankung“ beschrieben. Englischsprachig: Medically unexplained (physical) symptoms (MUS oder auch MUPS)/} Siehe Kapitel 31
Abb. 2.2.1/1 Medizinisch unerklärlich?
Die biopsychosoziale Behandlung: Psychosomatiker, Psychotherapeuten, Psychologen oder Psychiater untersuchen und behandeln das Erleben und Verhalten, z.B. Kindheitsprobleme, familiäre Spannungen, psychosoziale Belastungen, innere Konflikte. Die Diagnosefindung beruht auf Interviews, Fragebogen, Selbstbeschreibungen, Verhaltensbeobachtung oder Zeichnungen. Diese Erhebungen müssen interpretiert werden und sind damit subjektiv. Ergänzende objektive komplexmedizinische Laborparameter, die über die Regelversorgung hinausgehen, z.B. zum Zustand der Mitochondrien, werden üblicherweise nicht erhoben.
Abb. 2.2.1/2 Die komplexmedizinische Behandlung basiert auf klinischer Beobachtung und objektivierenden Befunden.
Abb. 2.2.1/3 Zwei Faktoren bewirken, dass EmKE seit Jahrzehnten kontrovers diskutiert werden
„Medizinisch unerklärlich“ bedeutet, dass mit Hilfe der verwendeten diagnostischen Routine-Methoden kein organischer Befund erhoben werden konnte und von dem Behandler angenommen wird, dass auch weiterer diagnostischer Aufwand keinen organischen Befund erbringen würde. |
Möglicherweise werden Patienten aber auch an Fachärzte weiterverwiesen. In Deutschland gibt es 34 medizinische Fachdisziplinen, wie die Allgemeinmedizin, die Immunologie oder die Neurologie. Mehrere dieser Facharztrichtungen sind wiederum in weitere medizinische Spezialgebiete unterteilt. Betroffene Patienten verbringen sehr viel Lebenszeit in mehreren unterschiedlichen (Fach-)Arztpraxen – doch auch hier ergibt sich keine Erklärung für die Beschwerden. Die werden daher als psychisch bedingt interpretiert. } Siehe Kapitel 31 Multisystemische Erkrankungen sind jedoch „Ganzkörper-Erkrankungen“, die die patientenzentrierte interdisziplinäre Kooperation mehrerer Fachdisziplinen und spezifische Untersuchungen erfordern. Die üblichen sieben bis acht Minuten, die ein Hausarzt pro Patientenkontakt investiert, reichen für eine effektive Versorgung komplexer, chronischer Multisystem-Erkrankung bei weitem nicht aus. Die „Sprechende Medizin“ muss besser honoriert werden.
Medizinisch erklärbar
Der Titel des Buches, Explaining unexplained Illnesses von Prof. Pall weist darauf hin, dass zwischen „medizinisch unerklärlich“ und „medizinisch erklärbar“ offenbar eine Wahrnehmungs- bzw. Wissenslücke vorliegt. Zuordnungen zu psychogenen Klassifizierungen sind folglich an der Tagesordnung, wie man zahllosen Patienten-Berichten entnehmen kann.
Die Tatsache, dass mit üblichen Standard-Untersuchungen und der Routine-Labordiagnostik keine auffälligen Befunde ans Licht kommen, lässt jedoch nicht den Umkehrschluss zu, dass diese nicht vorhanden sind! |
Die komplexmedizinische Diagnostik
Vielfach entpuppen sich „Unerklärliche Beschwerden“ anhand objektivierbarer Befunde als (schwerwiegende) behandlungsbedürftige immunologische, neurologische und/oder metabolische Entgleisungen.
Wenn nachweisbare molekularbiologische und umweltmedizinische ursächliche Aspekte nicht untersucht werden, bleiben „rätselhafte“ chronische Erkrankungen medizinisch ungeklärt. Diese spezifischen Untersuchungen nenne ich „komplexmedizinische“ Diagnostik.
Mit Hilfe der NextGen Metabolomics können heute mit einer einzigen Blutprobe über 500 Moleküle aus mehr als 60 verschiedenen biochemischen Stoffwechselwegen gemessen werden. Diese innovativen, massenspektrometrischen Technologien werden in der Forschung eingesetzt. Moderne Technologien führen zu einer riesigen Kluft zwischen (alltäglicher) klinischer Anwendung und (Spitzen-)Forschung.
Wir werden sehen, dass engagierte Behandler in der Zusammenarbeit mit ebenso engagierten Laboren eine ganze Reihe praktikabler und bezahlbarer komplexmedizinischer Untersuchungen und Therapien entwickelt haben, die die Lebensqualität multisystemisch erkrankter Patienten in zahllosen Fällen moderat bis massiv verbessert haben.Die Kosten dieser komplexmedizinischen Versorgung werden derzeit dennoch nicht regelhaft von den Krankenkassen übernommen. Viel EmKE-Patienten haben kein Arbeits-Einkommen und können sie sich unter diesen Rahmenbedingungen diese Versorgung nicht leisten. |
Was sind Omics?
Die Endsilbe -omic (auf Deutsch -omik) wird verwendet, um die Gesamtheit eines Untersuchungsobjektes zusammenzufassen. „Omics“-Technologien umfassen molekularbiologische Methoden, die mit Hilfe von Hochdurchsatz-Technologien in kürzester Zeit globale, hochaufgelöste molekulare Profile von Zellen und Geweben erstellen. Etymologisch geht der Begriff auf das Sanskrit-Wort OM zurück, das „Vollkommenheit und Fülle“ bedeutet.
Zu den -Omiks zählen z. B.:
Genomik: Gesamtheit der Gene
Proteomik: Gesamtheit der Proteine
Metabolomik (auch Metabonomik): Gesamtheit der Metaboliten/Stoffwechselprodukte
Proteomik: Gesamtheit der Proteine
Transkriptomik: Gesamtheit der Transkriptomen (mRNA). Sie zeigt, welche Gene gerade aktiv abgelesen werden.
Lipidomics: Gesamtheit der Lipide.
Glycomics: Gesamtheit der Zucker und Kohlenhydrate.
Epigenomik: Gesamtheit der epigenetischen Modifikationen.
Mikrobiomik: Genome der Mikroorganismen.
Connectomics: Connectome, der Gesamtheit der neuronalen Verbindungen im Gehirn.
Individuell
Regional, national und international gleicht kein Mensch dem anderen: wir haben individuell sehr unterschiedliche Genom-, Proteom-, Metabolom- und Mikrobiom-Identitäten. Jeder Mensch hat schon allein genetisch und epigenetisch einen einzigartigen und individuellen Fingerprint unterschiedlicher Merkmale: z. B. Polymorphismen, Mutationen oder RNAs.
Mit Hilfe der Omic-Technologien können Schadstoff-Expositionen ebenso nachgewiesen werden wie Veränderungen im Stoffwechsel als Reaktion auf Expositionen. Diese Technologien haben das Potenzial, unser Verständnis über Krankheitsursachen und über Krankheitsverläufe maßgeblich zu erweitern.
Big Data
Die Methoden der Molekularbiologie (-Omics) werden ergänzt durch weitere KI (Künstliche Intelligenz) Technologien. Der Einsatz dieser Technologien, die zu riesigen Datenansammlungen, zu „digitalen Zwillingen“ und zu „gläsernen Patienten“ führt, hat Licht- und Schattenseiten. } Siehe Kapitel 35
2.2.2 Definitions- und Klassifikationsprobleme
Zwischen allen StühlenDa multisystemisch erkrankte Patienten so viele Variable aufweisen, erleiden sie Defizite in Diagnostik, Therapie und Versorgung. Sie erleben oft über Jahre diagnostische Unsicherheiten, eingeschränkte Behandlungs-Optionen und ggf. schädigende Fehlbehandlungen. Es besteht ein enormer Leidensdruck und damit ein dringender Handlungsbedarf. |
Das „zweite Buch der Medizin“
Erworbene multisystemische (Komplex-)Erkrankungen erfordern als systemische „Ganzkörper-Erkrankungen“eine Erweiterung des Krankheitsbegriffes bzw. ein neues Krankheitskonzept.
Prof. Pall spricht von einem neuen „10. Paradigma“. } Siehe Kapitel 5.5 |
Prof. Robert K. Naviaux leitet das Robert Naviaux Labor an der University of California San Diego School of Medicine/UCSD. Der international anerkannte Experte, forscht zu mitochondrialen und anderen stoffwechselbezogenen Faktoren. In Kapitel 27.3 wird die von Prof. Naviaux erforschte „Cell danger response/CDR (Deutsch: Antwort auf Zellgefahren) beschrieben, die für das Verständnis chronischer Krankheiten wesentlich ist. Prof. Naviaux spricht von einem ersten und zweiten „Buch der Medizin“.
Das erste Buch der Medizin
„Seit 5.000 Jahren geschriebener Geschichte konzentriert sich die Medizin auf die Behandlung von akuten Verletzungen durch Traumata, Infektionen und Vergiftungen. Dies ist das Thema des Ersten Buches der Medizin („Buch I“). Das Erste Buch der Medizin wird im 21. Jahrhundert von jedem Arzt und biomedizinischen Wissenschaftler gelehrt. Wenn jedoch eine Verletzung oder Krankheit nicht innerhalb von sechs Monaten geheilt ist, wird sie als chronische Krankheit betrachtet, und die Regeln der Akutmedizin reichen nicht mehr aus. Um chronische Krankheiten effektiv zu behandeln, brauchen wir ein neues Buch der Medizin. Die Behandlung und Vorbeugung von chronischen Krankheiten ist der Schwerpunkt des Zweiten Buches der Medizin („Buch II“). [Ü.d.A.] 2.2.2/1 Naviaux
Ein zweites Buch der Medizin
„Um die steigende Flut chronischer Krankheiten zu behandeln, ist ein Zweites Buch der Medizin erforderlich. Das Erste Buch der Medizin enthält den Korpus medizinischen Wissens aus den letzten 5.000 Jahren geschriebener Geschichte. Aus dem Ersten Buch der Medizin lernten Ärzte, wie sie akute Krankheiten behandeln können, die durch Infektionen, Vergiftungen und körperliche Verletzungen verursacht wurden. Typische akute Krankheiten dauern weniger als sechs Monate. Das Thema des Zweiten Buches der Medizin wird die Ursache und Behandlung chronischer Krankheiten sein, die länger als sechs Monate dauern.“ [Ü.d.A. Quellenhinweise im Originaltext] 2.2.2/2 Naviaux
Ein epochaler Wandel
Wir haben es heute kaum mehr mit abgrenzbaren, eindeutigen Krankheits-Manifestationen zu tun, sondern mit komplexen Krankheitsbildern, die miteinander verflochten sind und sich überlappen. Diese Krankheitsbilder sind unscharf, die Diagnosestellung ist aufwändig.
Statistisch inexistent
Insbesondere ME/CFS und MCS werden selten korrekt diagnostiziert und finden derzeit keinen Eingang in offizielle behördliche Statistiken. Die jeweiligen Diagnosekodes werden weder von Haus- noch von Fachärzten auch nur annähernd angemessen vergeben. Die Lehrbücher schweigen, wer Medizin studiert, wird – wenn überhaupt – nur rudimentär aufgeklärt. Weder Kranken- noch Rentenkassen liefern verlässliche Daten. Antworten der Bundesregierung auf mehrere Kleine Anfragen trugen bislang auch nicht zur Aufklärung bei. Unklar sind auch die direkten und indirekten Krankheitskosten. FMS und PTBS sind zumindest als Diagnosebegriffe bekannt, belastbare Daten fehlen dennoch in vielerlei Hinsicht. Keine dieser vier Krankheiten gehört zu den sogenannten „Seltenen Erkrankungen“.
Für Multisystemische (Komplex-)Erkrankungen besteht durch die Daten-Lücke eine Wahrnehmungs-Lücke und folglich eine Versorgungslücke.Bis zu einem umfassenden Problembewusstsein liegt offensichtlich noch ein weiter Weg vor uns. |
Hidden diseases
Das Europäische Parlament beschrieb ME/CFS im Jahr 2020, (also im Jahr 51 nach der offiziellen, weltweit gültigen WHO-Klassifizierung von ME/CFS im Jahr 1969!) in einer vielbeachteten Resolution als „verborgenes Problem im Gesundheitswesen“ und forderte die Mitgliedsstaaten auf, aktiv zu werden. Diese Resolution war ein Plädoyer für die Anerkennung von ME/CFS und sie forderte Aufklärung über die Erkrankung. 2.2.2/3 EU-Parlament Auch weitere multisystemische (Komplex-)Erkrankungen werden zunehmend international als Hidden Diseases/verborgene Erkrankungen wahrgenommen.
Licht am Horizont?!
Zumindest für ME/CFS-Patienten könnte die Corona-Pandemie zum Game-Changer werden. Jeder zehnte COVID-19-Patient leidet unter Langzeitfolgen, wir erleben in Echtzeit die Entstehung der neuen multisystemischen Erkrankung „Post-COVID-19-Syndrom“. Geschätzt zwei Prozent aller positiv Getesteten entwickeln ein ME/CFS.
In allen führenden Medien wird nun nicht nur über die Corona-Pandemie, sondern auch über die weitverbreitete, aber ignorierte Erkrankung ME/CFS berichtet. |
Der komplette Mangel an Versorgungs-Strukturen für Post-COVID-19-Patienten offenbarte das Versorgungsdesaster, das (seit Jahrzehnten) für multisystemische Komplex-Erkrankungen besteht. Unter diesem Druck reagiert die Bundesregierung mittlerweile mit ersten Förderprogrammen und wissenschaftlichen Evaluationen. } Siehe Kapitel 7 und Kapitel 10
2.2.3 Die medizinische Seite des Anthropozän
In der jüngeren Vergangenheit fanden innerhalb weniger Jahrzehnte revolutionäre Umwälzungen statt. Unsere biologische, geologische und atmosphärische Umwelt veränderte sich durch neue Technologien und Elektrotechnik nachhaltig und, wie wir heute wissen, zum Teil irreversibel. Unsere menschengemachten Spuren werden über lange geologische Zeiträume hinweg erhalten bleiben. Der Weltbiodiversitätsrat/IPBES berichtet:
Das Artensterben ist heute mindestens dutzende bis hunderte Male größer als im Durchschnitt der letzten zehn Millionen Jahre.
75 % der Landoberfläche und 66 % der Meeresfläche sind stark verändert. Über 85 % der Feuchtgebiete sind verloren gegangen.
Diese negative Entwicklung ist auf zahlreiche direkte Treiber wie beispielsweise Landnutzungsänderungen, Umweltverschmutzung und Klimawandel zurückzuführen.
Unter Wissenschaftlern wird zunehmend der Begriff „Anthropozän“ diskutiert oder schon verwendet, Dieser Begriff wurde 2002 in dem Artikel Geology of mankind in der Zeitschrift Nature von dem Nobelpreisträger für Chemie, Prof. Paul J. Crutzen vorgeschlagen. „Anthropozän“ steht für das derzeitige neue Zeitalter, in dem der Mensch als wichtigster Einflussfaktor auftritt. Prof. Crutzen beschrieb, dass die durch Menschen verursachten Veränderungen seit dem Beginn des industriellen Zeitalters so massive Auswirkungen auf die Atmosphäre unseres Planeten haben, dass sie eine neue geologische Epoche rechtfertigen.
Mittlerweile lassen sich in Sedimentschichten Aluminium, Betonreste, Plastikteilchen, Kohlenstoffverbindungen wie CO2, Fallout aus Atombombenversuchen u.a. nachweisen. Selbst im Weltraum nimmt der Schrott zu. Kunststoffe im Atlantik bedecken eine Fläche, die das dreifache Ausmaß von Deutschland umfasst, unsere Atmosphäre ist durch Kohlendioxid- und Methanmoleküle verändert.
Im April 2019 fand in der Universität Wien die Tagung The Anthropocene – Challenging the Disciplines statt. Es war die erste Veranstaltung des neu gegründeten Vienna Anthropocene Network, die das vorgeschlagene neue Erdzeitalter aus unterschiedlichen Fachrichtungen beleuchtete.
Die medizinische Signatur des Anthropozän
Erde, Wasser, Licht und Luft haben ihre Reinheit verloren. Synthetische Substanzen gehören zum Alltag – und finden sich in unserem Organismus wieder: In allen Körperflüssigkeiten und in (Fett-)Geweben. |
Der gemeinsame Lebensraum hat sich seit dem Beginn des industriellen Zeitalters drastisch verändert. Tausende Generationen vor uns lebten zwar nicht gefahrlos – aber ohne synthetisch hergestellte (Gefahr-)Stoffe. Unsere Lebensgrundlagen sind teilweise so vergiftet oder verstrahlt, dass sie als Lebensräume für Menschen nicht mehr geeignet sind. Die Katastrophe von Fukushima ist dafür eines der deutlichsten Beispiele.
Die „Innenweltverschmutzung“ durch synthetische Substanzen, Strahlen und Partikel spielt ursächlich bei nahezu allen neuzeitlichen Krankheiten zumindest anteilig eine bedeutende, vielfach unterschätzte Rolle. Chronisch entzündliche Erkrankungen, Allergien, Haut- und Umwelterkrankungen nehmen rasant zu.
Erworbene multisystemische Erkrankungen sind „die medizinische Signatur des Anthropozän“Die maximale biologische, psychische und chemische Belastbarkeit wird zunehmend überschritten, der Organismus wird überfordert, chronisch geschwächt und vulnerabel.Multisystemische Erkrankungen können als die strategische Antwort des Organismus auf herausfordernde Zeitumstände verstanden werden. Derzeit werden sie aber (noch!) nicht als kollektives, der Moderne geschuldetes Gesundheitsproblem erkannt.Erworbene Multisystemische Erkrankungen können allmählich auftreten, wie eine lange Dämmerung – dann bleiben sie lange unter der Wahrnehmungsgrenze. Dort, wo sie schlagartig und mit schweren Verläufen auftreten, „verschwinden“ die Betroffenen meist aus der Gesellschaft. |
Die COVID-19-Pandemie
Die Wurzel der derzeitigen Corona-Pandemie liegt in der menschengemachten Zerstörung gewachsener Lebensräume und dem dadurch ermöglichten Übersprung von Corona-Viren vom Tier zum Menschen. |
Epidemiologen und Umweltmediziner haben wiederholt auf diese Gesundheitsbedrohungen hingewiesen, sie wurden kaum gehört, als noch Prävention möglich war. Das noch junge Fachgebiet der Gesundheitsökologie untersucht die Bedeutung kranker und gesunder Ökosysteme für den Menschen. Dieser Wissenschaftszweig verweist nicht nur auf die anthropogene Verursachung der Pandemie, sondern macht auch darauf aufmerksam, dass Umweltbelastungen Effekte auf den Verlauf der COVID-19-Erkrankung haben. Feinstaub und andere Umweltbelastungen zerstören wichtige Immunzellen, u.a. die Natürlichen Killerzellen, die eine wichtige Rolle bei der Abwehr von Viren spielen. Es verwundert nicht, dass durch Langzeit-Expositionen die Infektionssterblichkeit mit jedem zusätzlichen Mikrogramm Feinstaub (PM 2.5) in der Atemluft ansteigt. Das zeigte eine US-amerikanische Studie, die im November 2020 veröffentlicht wurde. 2.2.3/1 Wu et al.
Die Kapitulation
In den folgenden Kapiteln wird der Prozess des allmählichen oder plötzlichen Kollabierens durch eine Vielzahl unterschiedlicher Variablen beschrieben, die in der Summe nicht bewältigt werden können. Die Fülle moderner Stressoren (Umweltallergene, Schadstoffe, Zusatzstoffe in Nahrungsmitteln, psychosoziale Belastung, ständige Erreichbarkeit u.a.) haben an Quantität und Qualität ein Ausmaß erreicht, das durch die synergistische Dauer-Reizung als Dauer-Entzündung unser Immunsystem überfordert und zu einer allmählichen oder plötzlichen gesundheitlichen Kapitulation führt.
Diese Kapitulation ist die Wurzel der Entstehung der multisystemischen Krankheitsbilder. |
2.3 Systemische Epimedizin
Erworbene multisystemische Komplex-Erkrankungen entstehen aus der unübersichtlichen Gemengelage zwischen sehr vielen, sehr unterschiedlichen Reizfaktoren, variablen körperlichen und seelischen Stressantworten, den daraus entstehenden multiplen Regulations-Störungen und den wiederum daraus entstehenden vielfältigen Symptomen. |
Die Komplexität moderner Erkrankungen erfordert eine veränderte Herangehensweise in Diagnostik und Therapie. Daher wird im vorliegenden Buch die Bezeichnung „Systemische Epimedizin“ für ein umfassendes, interdisziplinäres, systemisches Medizinkonzept vorgeschlagen, das dem Netzwerkcharakter dieser Erkrankungen gerecht wird. Erforderlich ist die Kooperationen zwischen Haus- und Fachärzten, Molekular- und Systembiologen, der Klinischen Umweltmedizin, Ökotoxikologen und ggf. weiteren medizinischen Fachrichtungen.
Der Leitbegriff „Systemische Epimedizin“ verweist auf die systemischen Zusammenhänge zwischen unseren Regulations-Systemen und auf die Wechselbeziehungen der Umwelt mit unseren Genen und den Mitochondrien.Die Systemische Epimedizin und ihre Wissenschaftsdisziplinen werden in TEIL 5 ausführlich beschrieben. |
Die Benennung lehnt sich an die in Kapitel 28 beschriebene neue Wissenschaftsdisziplin der Epigenetik an.
Die Systemische Epimedizin basiert auf einem systemmedizinischen Krankheitsverständnis, das z. B. in großangelegten Förderprojekten wie e:med vom Bundesministerium für Bildung und Forschung vorangetrieben wird. } Siehe Kapitel 25
EmKE sind noch lange nicht vollständig verstanden, aber Segmente dieser Erkrankungen sind schon nach heutiger Datenlage ursächlich behandelbar. Die Systemische Epimedizin bietet ein wissenschaftlich begründetes, systemmedizinisches Konzept für das Verständnis Erworbener multisystemischer (Komplex-)Erkrankungen. |
2.4 Homöostase: Stabilisierungs-Strategien
Unser Überleben hängt davon ab, dass wir uns den ständig wechselnden Lebens- und Umgebungszuständen anpassen können. Alle lebenden Organismen sind permanent damit beschäftigt die biologische Balance zu erhalten. Unser Blutzuckerwert wird ständig reguliert, unser Immunsystem ist gesund, wenn es weder überschießend noch defizitär reagiert. Der Energiestoffwechsel, das Herz-Kreislauf-System, die Atmung – die Anpassung unserer Körperchemie an die aktuelle Situation ist ein Wunderwerk, das, wenn wir gesund sind, unbemerkt und reibungslos in unserem Organismus abläuft.
Die HomöostaseGesundheit ist kein statischer Zustand, sondern ein permanentes Kreisen um ein volatiles Gleichgewicht. Alle Regelkreise in unserem Organismus kreisen um eine „goldene Mitte“ innerhalb eines engen Korridors. Dieses lebenslange Ringen wird Homöostase genannt.Die lebenserhaltende Anpassungsleistung stellt höchste Anforderungen an das komplizierte Zusammenspiel unseres Organismus und ist deshalb störanfällig. |
Reize wie Erreger, niedriger Blutzucker, geringe Sauerstoffversorgung des Gewebes, extreme Hitze oder Kälte, Wunden, Noxen, Schmerzen oder psychische Belastungen verlangen nach einer Reaktion. Unser Organismus ist in einem permanenten Zustand der Selbstverteidigung und ringt um die Selbsterhaltung. Solange alles reibungslos funktioniert, entzieht sich dieses Geschehen weitgehend unserer Wahrnehmung.
Wir bestehen aus 37 Billionen Körperzellen. Jede einzelne Zelle verfügt über rund 3.000 Enzymsysteme, und in jeder Körperzelle geschehen 100.000 Stoffwechselvorgänge pro Sekunde, ca. einhundert Mal pro Minute findet ein Wasseraustausch statt. Pro Sekunde entstehen rund 50 Millionen neue Zellen. |
In unserem Organismus summt und brummt es sozusagen ständig. Die Regulationssysteme versenden ihre Botenstoffe (Hormone, Neurotransmitter, Zytokine) mit Nachrichten wie: „Alles gut, keine Gefahr“ bis hin zu „Achtung, Achtung, gefährlicher Eindringling, volle Abwehrpower, Lebensgefahr!“ Diese ständige Anpassungsleistung ermöglicht es uns Menschen sowohl in sibirischer Kälte wie auch im tropischen Regenwald zu überleben.
Homöostase ist die Fähigkeit des Organismus, Störung des inneren Gleichgewichts permanent auszugleichen. Gesund bleiben und gesund werden hängt ganz wesentlich von der Fähigkeit zur Selbstregulation/Homöostase ab.Wenn die Stabilisierungs-Maßnahmen nicht mehr greifen, sind Leib und Seele in Not. |
Dann versagt die mitochondriale Synchronisation, wir empfinden körperliches und seelischen Unbehagen, das bei dauerhafter Überlastung erst zu Beschwerden, dann zu Krankheiten führt – ggf. bis hin zu einer Regulationsstarre. Mit zunehmendem Alter wird die Fähigkeit zur Homöostase eingeschränkter. Der Tod setzt das eindeutige Zeichen, dass es dem Organismus trotz aller Stabilisierungs-Anstrengungen nicht mehr gelingt, die Homöostase aufrecht zu erhalten.
Allostatische Belastung
Das Autorenduo McEwen und Stellar führten 1993 das Konzept der „allostatischen Belastung“/Englisch: „allostatic load“ ein. 2.4/1 McEwen, Stellar Allostasis bedeutet wörtlich „Stabilität durch Wandel“. Während bei der Homöostase von einem „optimalen Sollwert“ ausgegangen wird, weist das Allostase-Konzept darauf hin, dass alle physiologischen Parameter innerhalb dynamischer Grenzen variieren und sich auf einem neuen Niveau einpendeln können.
Aus Sicht der Systemischen Epimedizin ist jede multisystemische Erkrankung der individuelle Ausdruck einer aus dem Gleichgewicht geratenen Homöostase, bzw. einer überforderten Allostase auf mehreren regulativen Ebenen. |
2.4.1 Zum Vergleich: Kipp-Punkte im Klimasystem
Hans Joachim Schellnhuber, Direktor Emeritus des Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, entwickelte das Konzept der Kippelemente, bzw. Kipp-Punkte. In der Erdsystem- und Klimaforschung wird von Kipp-Punkten gesprochen, wenn durch relativ geringe äußere Einflüsse ein neuer, labilerer Zustand im globalen Erd- und Klimasystem entsteht: Das Gleichgewicht „kippt“.
„Diese Änderungen können sich abrupt vollziehen und zum Teil unumkehrbar sein. Sie können zudem Rückkopplungen in Gang setzen, Änderungen in anderen Subsystemen des Systems Erde hervorrufen und so Kaskadeneffekte auslösen.“ 2.4.1/1 Wikipedia
Dieses Konzept der Kippelemente kann man eins zu eins auf die Entstehung multisystemischer Erkrankungen und den Verlust der Homöostase beziehen. Das folgende Zitat aus dem Wiki.Bildungs-Server lässt sich zwanglos von klimatischen auf medizinische Zusammenhänge übertragen, dazu wurden in Version 2 alle klimarelevanten Begriffe durch medizinrelevante ersetzt und unterstrichen.
„Viele Menschen gehen davon aus, dass in einem komplexen System wie dem Klima kontinuierliche Änderungen der Rahmenbedingungen auch eine allmähliche Reaktion des Systems hervorrufen. Als Beispiel stelle man sich eine Taschenlampe vor, die durch einen Dynamo angetrieben wird: Je stärker man kurbelt, desto heller strahlt die Lampe.
Auch in der Wissenschaft werden komplizierte Systeme oft vereinfacht, indem in einem bestimmten Gültigkeitsbereich ein konstanter Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung angenommen wird. Weil das Klimasystem aber nichtlinear ist und es zahlreiche positive Rückkopplungen (Prozesse, die sich selbst verstärken) gibt, ist diese Annahme im Allgemeinen jedoch nicht richtig. Somit kann es insbesondere in dafür anfälligen Regionen zu plötzlichen und drastischen Klimaänderungen kommen. Auch eine kleine Beeinflussung durch den Menschen (zusätzlich zu den bisher scheinbar folgenlos gebliebenen Eingriffen) kann dann das sprichwörtliche Fass zum Überlaufen bringen. Auch wenn die Ursache danach zurückgenommen werden sollte, wird das Klima nicht unbedingt wieder in den alten Zustand zurückkehren, die Änderung ist also irreversibel.
Die Identifizierung solcher großräumiger „Kipppunkte“ und die Vorhersage eines „Umkippens“ von natürlichen Systemen könnte daher großen Schaden verhindern, die Wissenschaft ist davon aber noch ein großes Stück entfernt.“ 2.4.1/2 Wiki.Bildungsserver
Version 2:
„Viele Menschen gehen davon aus, dass in einem komplexen System wie der Medizin kontinuierliche Änderungen der Rahmenbedingungen auch eine allmähliche Reaktion des Systems hervorrufen. Als Beispiel stelle man sich eine Taschenlampe vor, die durch einen Dynamo angetrieben wird: Je stärker man kurbelt, desto heller strahlt die Lampe.
Auch in der Medizin werden komplizierte Systeme oft vereinfacht, indem in einem bestimmten Gültigkeitsbereich ein konstanter Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung angenommen wird. Weil Gesundheit aber nichtlinear ist und es zahlreiche positive Rückkopplungen (Prozesse, die sich selbst verstärken) gibt, ist diese Annahme im Allgemeinen jedoch nicht richtig. Somit kann es insbesondere in dafür anfälligen Regulations-Systemen oder Körper-Regionen zu plötzlichen und drastischen Zell-Gewebe- oder Organänderungen kommen. Auch eine kleine Beeinflussung durch einen Stressfaktor, (zusätzlich zu den bisher scheinbar folgenlos gebliebenen Risikofaktoren) kann dann das sprichwörtliche Fass zum Überlaufen bringen. Auch wenn die Ursache danach zurückgenommen werden sollte, wird der Organismus nicht unbedingt wieder in den alten Zustand zurückkehren, die Änderung ist also oft, aber nicht immer irreversibel.
Die Identifizierung synergetischer Belastungen und die Vorhersage eines „Umkippens“ von relativer Gesundheit zu multisystemischen (Komplex-)Erkrankungen könnte daher großen Schaden verhindern, die Medizin ist davon aber noch ein großes Stück entfernt.“
Ob ein Einflussfaktor wie z. B. ein Virus zum Kipp-Punkt/System-Sprenger wird, hängt also einerseits von seiner Gefährlichkeit ab – andererseits aber auch von der aktuellen Immunkompetenz/Robustheit des Wirtes. |
Das sehen wir z. B. anhand der sehr unterschiedlichen Verläufe bei der derzeitigen COVID-19-Pandemie. Ca. 80 % der COVID-19-Patienten erleben milde Verläufe. Als Risikofaktoren für absehbar schwere Verläufe gelten z. B. chronische Vorerkrankungen und fortgeschrittenes Alter. Die Tatsache, dass scheinbar gesunde, junge COVID-19-Patienten unerwartete, langanhaltende Langzeitfolgen zeigen, (also „nicht unbedingt wieder in den alten Zustand zurückkehren“) ist ein Beispiel für die oben beschriebenen synergistischen Kipp-Punkte.
Ein anderes Beispiel ist, dass manche ME/CFS-, MCS- und auch COVID-19-Langzeit-Patienten den Ausbruch der Erkrankung wie das Umlegen eines Schalters erleben. Eine Patientin berichtete:
„Innerhalb von drei Tagen brach meine Welt einfach zusammen.“
2.5 Drei Exkurse in unübersichtliches Gebiet
Bevor wir uns den Facetten der Systemischen Epimedizin intensiver zuwenden, wagen wir uns in drei Exkursen in medizinische Grauzonen vor.
Exkurs 1 widmet sich der Frage, ob es eine trennscharfe Definition gibt, die gesund von krank unterscheidet.
Exkurs 2 behandelt die Frage, ob wir Erkrankungen präzise in somatische (körperliche) und psychische aufteilen können.
Exkurs 3 untersucht die Trennschärfe von Ursache und Wirkung, verstärkenden Faktoren, Auslösern und Rückkopplungen.
2.5.1 Exkurs 1: Gesund oder krank?
„Befindlichkeitsstörung“ oder diagnostizierte Erkrankung?
Viele Patienten erleben eine diagnostische Odyssee. Das betrifft zum einen Menschen, die an sehr seltenen Erkrankungen leiden, zum anderen Patienten mit unspezifischen Symptomen wie z. B. Fatigue, Schmerzen oder Schlafstörungen. Langandauernde unklare Beschwerden gehören zu den häufigsten Gründen für Arztbesuche. Diese Beschwerden treten bei vielen Krankheitsbildern auf. Die Diagnostik erfordert Zeit und detektivisches Gespür.
Unspezifische Beschwerden werden auch verharmlosend „Befindlichkeits-Störungen“ genannt. Tatsächlich aber ist das Fundament erschüttert – die vitalen Grundfunktionen unseres Lebens: Schlafen, Atmen, Verdauen und die Mentalprozesse. |
Ab wann sind wir „krank“?
„Gesund-sein“ oder „Krank-sein“ sind keine statischen Zustände, sondern Prozesse, die mehr in die eine oder mehr in die andere Richtung tendieren. Man schläft schlecht, im Magen zwickt es schon mal, man ist müde („ach, das Wetter“) oder hellwach („zu viel Stress“); die Verdauung ist zu rasant oder zu langsam. Kurz und gut, man ist nicht krank. Aber auch nicht kerngesund. Die Frustrationstoleranz gegenüber diesen „Zipperlein“ ist enorm. Man muss nicht zwingend zum Arzt und es gibt keinen Grund, nicht arbeiten zu gehen. Eine Studie des Deutschen Gewerkschaftsbundes/DGB vom Februar 2018 zeigte, dass 67 % der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer trotz Krankheit zur Arbeit gingen.
Unter „krank“ versteht man gemeinhin einen Zustand, der mit akuten, einschränkenden Symptomen einhergeht. Wer eine schwere Grippe hat, ist krank. Wer einen Schlaganfall erlitten hat, ist krank. Wer gepflegt werden muss, ist krank. Wer „nur“ funktionelle Störungen hat, ist kraftlos, schlapp, matt, müde, unkonzentriert oder wie gelähmt vor Schmerzen, ohne Schwung oder apathisch. Aber krank?
Viele Patienten mit sogenannten funktionellen Beschwerden ringen sich tagtäglich die Leistungen ab, die der Alltag fordert. Diese Störungen können zu erheblichen Einbußen an Lebensqualität führen. Alles wird mühsamer: verdauen, bewegen, arbeiten. Man braucht mehr Pausen – aber irgendwie kämpft man sich durch. Auch die Teilnahme an sozialen Aktivitäten nimmt mehr und mehr ab: man beschränkt seine Aktivitäten notgedrungen auf das, was „machbar“ ist.
Ein Knochenbruch ist ein handfester Befund: er lässt sich röntgen, man sieht deutlich den Schaden und weiß im Allgemeinen, wie er zu beheben ist. Für das Maß funktioneller Erkrankungen gibt es keine „Richterskala“. Schmerzen, Erschöpfung oder Müdigkeit sind stets eine ausschließlich persönliche Empfindung – kaum nachvollziehbar für andere.
2.5.2 Exkurs 2: Physische oder psychische Erkrankung?
„Ihre Beschwerden sind psychisch bedingt“
Sofern kein organischer Befund vorliegt, gehen Behandler üblicherweise davon aus, dass die körperlichen Beschwerden als Folge eines inneren (psychischen) Konflikts entstanden sind und nicht organisch erklärt werden können. Betroffene Patienten profitieren dann ggf. von psychotherapeutischen Therapien. Wir wissen beispielsweise aus der Psycho-Onkologie, dass begleitende psychotherapeutische Unterstützung lebensverlängernd wirken kann.
Kein Behandler würde jedoch auf die medizinische Basisbehandlung des diagnostizierten organischen Krebsleidens verzichten und sich auf Psychotherapie als einzige und Primärtherapie beschränken – das wäre fahrlässig.
Für multisystemisch erkrankte Patienten stimmt das reale Erleben ihrer vielfältigen Beschwerden überwiegend nicht mit dem psychotherapeutischen, bzw. biopsychosozialen Ansatz überein. Die Folge: Diesen Patienten wird mangelnde Kooperation vorgeworfen. Das Beharren der Patienten auf körperlichen Ursachen wird als weitere Bestätigung der Einordnung als psychisch bedingte Störung interpretiert. } Siehe Kapitel 31
Abb. 2.5.2/1 Biopsychosoziale Sichtweise versus komplexmedizinisches Verständnis
Die biopsychosoziale Sichtweise und das komplexmedizinische Verständnis entfernen sich diametral voneinander, sofern die biopsychosoziale Sichtweise darauf beharrt, dass im Rahmen der haus- und fachärztlichen Routine-Untersuchungen keine organischen Ursachen für die EmKE-typischen Beschwerden gefunden worden seien und daher eine biopsychosoziale Behandlung ausreichend sei.
Aus Sicht der Systemischen Epimedizin sind weitergehende komplexmedizinische Untersuchungen, z.B. auf subklinische Entzündung/Silent Inflammation sowie auf neurologische, endokrine und weitere immunologische Fehlsteuerungen notwendig. Diese bleiben bei einer ausschließlich biopsychosozialen Diagnostik und Behandlung auf Basis eines „psychoneurobehavioralen“ Erklärungsmodells verborgen – und werden folglich nicht behandelt.
Dualismus ist das herrschende Prinzip derzeitiger Medizin
Thure von Uexküll (1908–2004) prägte die Begriffe „Medizin für seelenlose Körper“ und „Medizin für körperlose Seelen“. Auch wenn diese Unterteilung von vielen Behandlern im Alltag durchbrochen wird – sie ist noch immer das wirkende Grundprinzip unserer Gesundheits-Versorgung.
Haus- und Fachärzte untersuchen und behandeln vor allem körperliche Ursachen von Beschwerden und Krankheiten. Die Diagnosefindung beruht im Wesentlichen auf den objektiven Parametern der Standardversorgung.Patienten ohne organischen Befund wird häufig empfohlen, sich psychotherapeutisch behandeln zu lassen.
Psychosomatiker, bzw. Psychotherapeuten, Psychologen oder Psychiater untersuchen und behandeln das Erleben und Verhalten, z. B. Kindheitsprobleme, familiäre Spannungen, psychosoziale Belastungen, innere Konflikte. Die Diagnosefindung beruht auf Interviews, Fragebogen, Selbstbeschreibungen, Verhaltensbeobachtung oder Zeichnungen. Diese Erhebungen müssen interpretiert werden und sind damit immer subjektiv. Ergänzende objektive komplexmedizinische Laborparameter, die über die Regelversorgung hinausgehen, werden üblicherweise nicht erhoben.
Psychische Erkrankungen nehmen stark zu
„In Deutschland sind jedes Jahr etwa 27,8 % der erwachsenen Bevölkerung von einer psychischen Erkrankung betroffen. Das entspricht rund 17,8 Millionen betroffenen Personen, von denen pro Jahr nur 18,9 % Kontakt zu Leistungsanbietern aufnehmen. Zu den häufigsten Erkrankungen zählen Angststörungen (15,4 %), gefolgt von affektiven Störungen (9,8 %, unipolare Depression allein 8,2 %) und Störungen durch Alkohol- oder Medikamentenkonsum (5,7 %).
Psychische Erkrankungen zählen in Deutschland nach Herz-Kreislauf-Erkrankungen, bösartigen Neubildungen und muskuloskelettalen Erkrankungen zu den vier wichtigsten Ursachen für den Verlust gesunder Lebensjahre. Menschen mit psychischen Erkrankungen haben zudem im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung eine um 10 Jahre verringerte Lebenserwartung. 2018 nahmen sich in Deutschland etwa 9.300 Menschen das Leben. Zwischen 50 % und 90 % der Suizide lassen sich auf eine psychische Erkrankung zurückführen.“ [Quellenhinweise im Originaltext] 2.5.2/1 DGPPN
so fasste die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde/DGPPN im Oktober 2020 die Prävalenz Psychischer Erkrankungen zusammen. Mehr als 44 Milliarden Euro werden für die Behandlung psychischer Erkrankungen jedes Jahr ausgegeben – keine anderen Krankheiten verursachen so viele Erwerbsminderungsrenten wie psychische Störungen, im Jahr 2018 betrug der Anteil 16 %.
„Die Dauer von Krankschreibungen aufgrund psychischer Erkrankungen liegt durchschnittlich bei 42 Tagen. Psychische Erkrankungen sind heute mit 42 % auch der häufigste Grund für Frühverrentungen. Die Gesamtkosten aufgrund psychischer Erkrankungen inklusive direkter Kosten für die medizinische Versorgung und Sozialleistungen sowie indirekter Kosten, z. B. durch Produktivitätseinbußen, werden für Deutschland auf rund 147 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt. Das entspricht einem Anteil am Bruttoinlandsprodukt von 4,8 %.“ 2.5.2/2 DGPPN
Ein unklarer, aber vermutlich nicht unwesentlicher Anteil psychischer Erkrankungen dürfte auf Fehldiagnosen beruhen, da komplexmedizinische (z. B. genetische, metabolische, immunologische) Untersuchungen üblicherweise nicht durchgeführt werden. } Siehe Kapitel 31 Manche Kritiker sprechen von einer „Psychiatrisierung der Gesellschaft“. In Bezug auf Depressionen wird von Experten wie dem renommierten Psychiater Ludger Tebartz van Elst darauf verwiesen, dass bei etwa 20 % der Betroffenen eine Reaktion des Immunsystems vorliegt, die zu einer Gehirnentzündung führt. Dennoch wird dieser Verdacht nicht regelhaft abgeklärt.
Was bedeutet „psychosomatisch“?
Seelisches Erleben drückt sich körperlich aus: Seelische Belastungen („Psycho-“) führen zu körperlichen Beschwerden („Soma“: Körper). Vor Prüfungen kann es zu Übelkeit und/oder Harndrang kommen, bei Schockreaktionen zu Ohnmacht. Weitere Beispiele sind Lampenfieber vor einem Auftritt oder verstärktes Herzklopfen in bedrängenden Situationen. Langandauernde seelische Belastungen können sich z. B. als verspannungsbedingte Rückenbeschwerden oder Kopfschmerzen äußern.
Was bedeutet somatopsychisch?
Weniger bekannt ist der umgedrehte Fall: Körperliche Balance oder Dysbalance drückt sich in Wohlbefinden oder in psychischen Störungen aus. Die Somatopsychologie untersucht die Auswirkungen von körperlichen Veränderungen auf emotionale und kognitive Prozesse. Nerven-Degenerationen in Gehirnarealen durch Pestizidbelastungen können psychische Symptome hervorrufen. Die Schäden lassen sich durch bildgebende Verfahren nachweisen. Sie sollten als primäre, zu untersuchende und zu behandelnde Ursache erkannt werden, denn die Reihenfolge ist entscheidend: Die psychischen Symptome sind die Folge der Pestizidbelastung.
In einer Studie des Max-Planck-Instituts München wurde gezeigt, dass eine genetische Hochregulierung der Interleukin-6/IL-6-Signalisierung mit Suizidalität assoziiert war. 2.5.2/3 Kappelmann et al. Ein ähnlicher entzündlicher (also immunologischer) Zusammenhang wird für eine Subgruppe von Patienten mit Depression beschrieben. } Siehe Kapitel 15
Von einem extremen, aber vermutlich nicht seltenen Beispiel berichtete der oben erwähnte Psychiater Ludger Tebartz van Elst in einem Interview mit Stefan Schleim:
„Ich muss hier insbesondere an eine Patientin denken, die uns auch die Zustimmung gegeben hat, Ihren Fall für Fortbildungen zu verwenden. Sie hörte nicht nur Stimmen, sondern litt auch unter Wahnvorstellungen: Sie meinte, Menschen wollten überall Sex mit ihr haben. Sie roch auch überall sexuelle Düfte. Das war für sie sehr schwer. Nun konnten wir zwar mit sogenannten Neuroleptika das Stimmenhören behandeln. Die führten aber einerseits zu Nebenwirkungen und andererseits blieb der Wahn bestehen. Nach sieben Jahren des Suchens und Ausprobierens folgten wir noch einmal einer Spur, die auf eine Hirnentzündung deutete, und behandelten die Frau mit Kortison. Nach einer Woche waren die Probleme verschwunden.“ 2.5.2/4 Schleim
Die dualistische Sichtweise verlassen
Unser derzeitiges dualistisches Gesundheitsverständnis bewirkt, dass man als Patient entweder der einen oder der anderen Fachgruppe zugewiesen wird. Diese Einteilung ist mit Risiken verbunden: Einerseits werden Psychische Erkrankungen zu spät erkannt, andererseits führt dieses Entweder-oder-Denken zu oft zu der Annahme, dass medizinisch „unerklärliche“ Symptome psychogen seien. Patienten, bei denen eine „Etikettierung“ nicht gelingt, stellen Behandler vor erhebliche diagnostische und therapeutische Schwierigkeiten.
„Psychisch“ ist kein Gegensatz zu „organisch“
In Kapitel 26 wird die noch junge Wissenschaftsdisziplin Psycho-Neuro-Endokrino-Immunologie vorgestellt. Sie beschäftigt sich mit den engen und unmittelbaren Verflechtungen zwischen unserer Psyche und unseren Regulationssystemen. Mittlerweile ist die Überzeugung widerlegt, dass Psyche, Nervensystem, Hormonsystem und Immunsystem jeweils unabhängige Funktionskreisläufe darstellten, die nicht viel miteinander zu tun haben. „Psychisch“ ist daher kein Gegensatz zu „organisch“. Vielmehr beschreibt der Begriff „Psychisch“ den Schauplatz der Beschwerden: die Veränderungen im Denken und Erleben, in der Gestimmtheit. Wie bei einem Marionettentheater ist das Geschehen auf der Bühne (die psychischen Beschwerden) jedoch nur ein Teil des Ganzen. Möglicherweise sind die ursächlichen, organischen „Strippenzieher“ geheimnisvoll verborgen.
Multisystemisch komplexerkrankten Patienten wird häufig aufgrund der (scheinbar!) unauffälligen organischen Befunde dysfunktionales Denken und Verhalten attestiert. |
Viele Patienten mit unklaren, „medizinisch unerklärlichen“ Symptomen fühlen sich alleingelassen. Die Beschwerden, unter denen der Patient real – aber „subjektiv“ – leidet, sind nicht durch die üblichen Standard-Untersuchungen objektivierbar. Aus Patientensicht verlaufen solche Arztgespräche frustrierend, aus Sicht des Arztes fordern solche Patienten zu viel und das Falsche, sind übertrieben wehleidig und/oder undankbar für die angebotenen Hilfen. Das kann zu häufigem Wechsel der Behandler führen („doctor hopping“) und lässt Raum für jede Menge Spekulationen: „Übertreibst Du nicht ein wenig?“ „Der simuliert wahrscheinlich, um an die Rente zu kommen“ „Reiß Dich doch zusammen“, „Bist wohl hypochondrisch veranlagt“. Derlei Vermutungen belasten den Patienten, das Familien- und Berufsleben und auch das Therapeuten-Patienten-Verhältnis.
Krankheitsgewinn
Wer krank ist, hat den „Vorteil“ eines Schonraumes. Sigmund Freud entwickelte den Begriff des „Krankheitsgewinns“. Damit ist gemeint, dass es sinnvoll sein kann, krank zu sein und diesen Zustand aufrecht zu erhalten.
Der primäre Krankheitsgewinn: Die (unbewusste) Flucht in die Krankheit entbindet vor unangenehmen Anforderungen, z. B. vor beruflichen oder sozialen Verpflichtungen. Auf diese Weise lassen sich bestimmte Situationen oder Konflikte vermeiden. Die Krankheit ist „nützlich“ für den Patienten.
Der sekundäre Krankheitsgewinn: der Patient stellt sich auf seine Erkrankung ein. Er genießt die Fürsorge, Entlastung und Rücksicht der sozialen Umgebung und hat keine Veranlassung, diese Situation zu ändern.
Viele multisystemisch erkrankte Patienten verlieren ihre Arbeitsfähigkeit, sind behindert oder pflegebedürftig, erleben eine erhebliche Einbuße an Lebensqualität und geraten überdurchschnittlich oft in prekäre Verhältnisse. Sie empfinden es als (weiteren) Schlag ins Gesicht, wenn ihre Krankheits-Situation als „Krankheitsgewinn“ gedeutet wird. |
2.5.3 Exkurs 3: Ursache und Wirkung
Systemische Wirkketten
Vielleicht hatten Sie mal Schmerzen an der Fußsohle, und Sie haben über längere Zeit gehumpelt. Das belastete die Hüftknochen und die Wirbelsäule. Die Wirbelsäule hat versucht, den Kopf möglichst gerade zu halten – in der Folge entstanden Nackenverspannungen. Der Ort der Ursache (Fußsohle) ist also nicht identisch mit dem Ort der Schmerzen (Nackenmuskulatur). Das ist ein sehr grobes Beispiel für kompensatorische Vorgänge, die bis in den Molekularbereich reichen: Der Ort der Ursache ist auch hier vielfach nicht der Ort der Wirkungen.
Zusammenbruch der Kausalitäts-Mechanismen
Das lineare Ursache-Wirkungsprinzip greift zu kurz. Vielmehr handelt es sich um dynamische Prozesse: Permanent treffen vielfältige Umweltfaktoren auf ein komplexes Resonanz-Netzwerk, das sich millisekündlich auf die aktuelle Lebenssituation einpendelt. Jeder einzelne dieser Reize hat das Potential, auf Zellstrukturen (z. B. Mitochondrien oder unser Erbgut) einzuwirken und vergängliche oder bleibende Spuren zu hinterlassen.
Im Zusammenhang mit Erworbenen multisystemischen Komplex-Erkrankungen ist stets von „ungeklärter Ätiologie“ (Ätiologie: Ursache für das Entstehen einer Krankheit) die Rede. Sofern man voraussetzt, dass eine einzige Ursache alles erklären könnte, wird sich daran auch nicht viel ändern. Einen alles erklärenden EmKE-Virus gibt es vermutlich so wenig wie ein alles erklärendes EmKE-Gen. Anders als bei den EmKE scheint bei einer COVID-19-Erkrankung der Auslöser der Beschwerden eindeutig: SARS-CoV-2. Nicht bekannt ist die Ursache für die überaus unterschiedlichen akuten und chronischen Verläufe. Hier spielen also noch weitere Faktoren eine Rolle. Trotz eindeutigem Erreger ist der Verlauf multikausal.
Es gibt unüberschaubar viele individuelle Einflüsse, die ein Geflecht von Ursachen, Auslösern und verstärkenden Faktoren ergeben. |
Abb. 2.5.3/1 Lineare Sichtweise
Abb. 2.5.3/2 Systemische Sichtweise: Systemische Effekte in komplexen Netzwerken
Das lineare Ursache-Wirkungsprinzip erklärt einen Sachverhalt als logische Folgewirkung einer Ursache. In komplexen Systemen, ob bei der Erderwärmung oder bei multisystemischen Erkrankungen, sind durch die Vielzahl der beteiligten Faktoren, („Ursachen“) die Vorgänge jedoch so eng miteinander verflochten, dass Ursache und Wirkung sich verschränken können. Der Gesamt-Mechanismus, bzw. -Organismus folgt, aufgrund von dynamischen Wechselwirkungen, Feedback-Schleifen, Blockaden, Verstärkungen und Synergien anderen Gesetzen als die jeweiligen Einzelmechanismen.
Angesichts dieser Fülle und Variabilität ist schwer auszumachen, welche Gewichtung einzelne Faktoren bei einer Erkrankung haben. Vielmehr sehen wir eine sehr persönliche, individuelle Summenbelastung von Reizen, die synergistisch auf unterschiedlich vulnerable Organismen trifft.
Diese Vorgänge sind so eng verflochten, dass Ursache und Wirkung sich verschränken können.
Keine (biomedizinische) Ursache
Das Beharren auf einem ätiologischen Krankheitsverständnis kann im Kontext multisystemischer (Komplex-)Erkrankungen zu einer Argumentationskette der Bagatellisierung komplexmedizinischer Zusammenhänge führen. Diese Argumentationskette lautet: Da bei multisystemischen Komplex-Erkrankungen keine (biomedizinische) Ursache zu finden sei („ungeklärte Ätiologie“), sei weder eine Diagnose noch eine Therapie im biomedizinischen Sinne möglich. Als Hilfsangebot wird auf die kognitive Verhaltenstherapie zur Vermittlung geeigneter Bewältigungsstrategien verwiesen.
Ein ausreichender Wirksamkeitsnachweis dieses Ansatzes konnte jedoch bislang weder für ME/CFS, noch für MCS und nur beschränkt für FMS erbracht werden. } Siehe Kapitel 7 |