Читать книгу Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen - Sibylle Reith - Страница 5
ОглавлениеTEIL 2 DIE MULTI-STRESSORISCHE GESAMTLAST
TEIL 2 widmet sich der Erkundung unterschiedlicher Arten und Qualitäten von wahrnehmbaren und nicht-wahrnehmbaren (unterschwelligen) Reizfaktoren, die zusammen als multistressorische, bzw. multifaktorielle Gesamtlast bezeichnet werden.
„Stressforschung“ untersucht klassischerweise die organischen Vorgänge der Stresswahrnehmung und die Wirkung sensorischer, insbesondere psychosozialer Faktoren auf das körperliche und seelische Wohlbefinden. Diesem Thema widmet sich Kapitel 3.1 dieses zweiten Teils. In Kapitel 3.2 wird der Stressbegriff auf weitere, überwiegend nicht sensorisch wahrnehmbare Umweltfaktoren erweitert. Unabhängig von der Art der Trigger – ob psychisch, physikalisch, biologisch oder chemisch – ergeben sich letztlich auf Zellebene ähnliche pathologische Veränderungen – mit weitreichenden gesundheitlichen Folgen. In Kapitel 3.3 werden exemplarisch einige Umweltschadstoffe beschrieben, ihre (toxischen) Eigenschaften, ihr Aufkommen und ihre Wirkung auf unsere Gesundheit. In Kapitel 3.4 wenden wir uns schließlich der multifaktoriellen Gesamtbelastung zu, der die Bevölkerung der industrialisierten Länder heute kollektiv – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – ausgesetzt ist. Die in Kapitel 3.3 vorgestellten Schadstoffe sind ebenso Teil der alltäglichen kollektiven Grundbelastung der Bevölkerung wie unsere hektische Lebensweise.
Abb. T2 Die multistressorische Gesamtlast
Zur Bezeichnung Stressfaktor/Stressor in diesem Buch
Erweiterung des Stressbegriffes
Üblicherweise verstehen wir unter Stress vorwiegend psychosozialen Stress. Zeit- und Termindruck, Arbeitsüberlastung, Doppelbelastung, familiäre Probleme, Mobbing und ähnliche Faktoren. Diese sind üblicherweise gemeint, wenn jemand sagt, er habe Stress. Im Verständnis von Erworbenen Multisystem-Erkrankungen nehmen Stressfaktoren aller Art eine zentrale Stellung ein. Dazu gehören nicht nur die erwähnten psychosozialen Faktoren.
Als Stressfaktoren/Stressoren können alle förderlichen oder belastenden Faktoren gelten, die auf den Organismus einwirken und eine Antwort verlangen. Das Spektrum dieser Einflussfaktoren reicht vom angenehmen Duft einer Blume über Allergene bis zu Viren, Schwermetallen oder Chemikalien – um nur einige Beispiele zu nennen.
Kapitel 3 Die Klassische Stressforschung
Wir Menschen leben und entwickeln uns, weil wir über unsere Sinne, über die Luft, die wir atmen, über die Ernährung, über unsere (Schleim-)Haut mit unserer Umwelt verbunden sind. In diesem Sinne ist unser Organismus ein System, das offen ist für Einflüsse, die wiederum Teil anderer Systeme sind. Diese „Berührungen“ sind das „Salz in der Suppe“ – ohne Sinnesreize werden wir krank. Eine zu reizarme Umgebung kann auf lange Sicht genauso schädlich wirken wie ein Zuviel an herausfordernden Stressfaktoren. Wir leben in permanenter Auseinandersetzung mit der Umwelt und sind auf der Hut vor Bedrohungen. Lebensgefährliche Situationen müssen sofort erkannt werden und fordern eine schnelle physische und psychische Antwort.
Alle Erkrankungen, die wir im Laufe unseres Lebens erwerben, zeigen einen engen Zusammenhang mit Einflüssen, die wir mitbringen, denen wir begegnen, denen wir ausgeliefert sind oder die wir selbst erzeugen. |
3.1 Wie verarbeiten wir wahrnehmbare Reize?
Stress hält gesund
Der Duft einer Rose, das Lachen eines Kindes, das Lesen eines Buches – Sinneseindrücke halten uns gesund, fordern uns heraus und sorgen dafür, dass wir körperlich und mental nicht „einrosten“. Durchschnittlich 400.000 Reize treffen pro Sekunde auf unsere Sinnesorgane ein! Die Erwerbsarbeit, das Versorgen der Kinder, einkaufen, Freizeitgestaltung – solange alles bewältigt werden kann, ohne uns zu überfordern, wachsen unsere Kompetenzen im Umgang mit Stressfaktoren und erhöhen unsere Widerstandskraft. Was aber, wenn auf akuten Stress immer wieder akuter Stress folgt?
Stress macht krank
Zu viel Stress macht krank. Mittlerweile ist durch Studien aus der Psycho-Neuro-Endokrino-Immunologie gut belegt, dass durch körperliche und psychische Überforderung eine erhöhte Infektanfälligkeit entsteht. Der Psychoimmunologe Prof. Christian Schubert erläutert diese Zusammenhänge in dem Artikel Psychoneuroimmunologie und Infektanfälligkeit. 3.1/1 Schubert
Akut-Stress plus Akut-Stress plus Akut-Stress wird zu chronischem Dauerstress. Für chronischen Stress gelten andere Gesetzmäßigkeiten als für Akutstress:
Aus dem biologisch sinnvollen, physiologischen Prozess der Stressverarbeitung kann sich durch zu viele Stressoren (} chemischer, physischer, psychischer, biologischer Dauerstress) oder zu starke Reize (} chemisches, physisches, psychisches, biologisches Trauma) ein pathologisches Geschehen entwickeln.} Siehe Kapitel 3.1.5
Abb. 3.1/1 Reizüberflutung und Ereignisdichte
Wir erleben heute quantitativ deutlich mehr Sinnesreize als unsere Vorfahren in vorindustrieller Zeit. Qualitativ kommen zu den natürlichen Alltagswahrnehmungen wie Vogelgezwitscher (Hören), natürliche visuelle Umgebung (Sehen), natürliche Gerüche (Riechen), natürliche Lebensmittel (Schmecken), natürliche Oberflächen (Tasten) eine Vielzahl künstlicher Quellen, z.B. Fernsehen und Digitaltechnik (Sehen, Hören); Beschallung (Hören), Beduftung in Warenhäusern (Riechen), künstliche Aromen in Lebensmitteln (Schmecken) und, Kunststoff-Oberflächen (Tasten).
3.1.1 Die erste Kaskade der Stressreaktion
„Kampf-oder-Flucht-Reaktion“ („Fight or Flight Response“)
Nehmen wir an, Sie sitzen im Flugzeug, in wenigen Minuten werden Sie zum ersten Mal mit einem Fallschirm springen. Alle Sinne sind hellwach. Unsere Sinneswahrnehmungen werden zuerst in einem Teil der Großhirnrinde, dem Neokortex wahrgenommen. Nur 400–600 Millisekunden sind nötig, um Sinneswahrnehmungen als bedrohlich oder als harmlos einzustufen. Diese Informationen werden über Botenstoffe unverzüglich an das Limbische System weitergegeben: Das ist ein mit der Großhirnrinde eng verbundenes Nervenzell-System, das als „Zentrum für emotionale Intelligenz“ gilt. Hier ist die Quelle unserer Befindlichkeiten, unserer Gefühle, unserer Motivationen. Hier erfahren wir unsere individuelle emotionale Prägung, die auf unseren individuellen Vorerfahrungen basiert. Diese reichen bis in das frühe Kindesalter und sogar bis in die Embryonalzeit.
Sie springen! Das limbische System aktiviert den Sympathikus-Nerv, der bewirkt, dass Kaskaden von Adrenalin und Noradrenalin aus dem Nebennierenmark freigesetzt werden. Die Werte dieser Katecholamine können um das 50fache ansteigen. Sie binden an die alpha- und beta-adrenergen Membranrezeptoren vieler, sehr unterschiedlicher Zellen im ganzen Körper. Diese Information setzt unmittelbar zahlreiche Stoffwechselprozesse in Gang. |
Innerhalb von Sekundenbruchteilen entscheiden wir in Stress-Situationen, ob wir flüchten können, ob wir angreifen – oder ob wir uns totstellen. Diese unmittelbare, erste, vegetativ (vom Sympathikus) gesteuerte Stressreaktion wird nach dem US-amerikanischen Physiologen Walter B. Cannon als „Kampf-oder-Flucht-Reaktion“ („Fight or Flight Response“) bezeichnet.
Abb. 3.1.1/1 Die Stress-Antwort auf wahrgenommene Stressreize verläuft in zwei Phasen
Abb. 3.1.1/2 Die vollständige und die unvollständige Stress-Antwort
Das Autonome Nervensystem
Das Autonome Nervensystem/ANS oder auch kurz Vegetativum genannt, ist der autonom gesteuerte, d.h. nicht willkürlich beeinflussbare Teil des Nervensystems. Seine Neuronen befinden sich sowohl im zentralen Nervensystem (ZNS) als auch im peripheren Nervensystem (PNS).
Synonym verwendet werden die Bezeichnungen Vegetatives Nervensystem oder Viszerales Nervensystem/VNS. Viszeral bedeutet „die Eingeweide betreffend“.
Das ANS erhält ununterbrochen sensible Informationen aus unseren Organen und Geweben sowie aus der Umwelt. Über die Nervenstränge des Sympathikus und des Parasympathikus, die vom Gehirn in die Peripherie laufen, ist das vegetative Nervensystem direkt mit den Organsystemen und Geweben – wie Herzmuskel, glatte Muskulatur der Eingeweide, Blutgefäße sowie die Drüsen des Körpers – vernetzt. Und auch mit den Immunorganen, -geweben und -zellen.
Die Nervenfasern haben synaptische Endknöpfchen, die den direkten Kontakt mit Immunzellen ermöglichen. Hier verbindet sich das Gehirn mit dem Immunsystem. |
Bei Gefahr werden die lebenswichtigen Funktionen/Vitalfunktionen blitzschnell angepasst.
Das Vegetativum gliedert sich in drei Bereiche:
Das Sympathische Nervensystem/Sympathikus
Das Parasympathische Nervensystem/Parasympathikus
Mittlerweile wird auch das Enterische Nervensystem, unser „Bauchhirn“ als Teil des ANS verstanden } Siehe Kapitel 21
Abb. 3.1.1/3 Dauerstress belastet das Autonome Nervensystem
Das sympathische Nervensystem – das Gaspedal
Der Sympathikus hat während des Tages seine aktive Phase. Er bewirkt die Anpassung an Stress-Situationen und ist damit auch zuständig für die Notfall-Antwort des Körpers auf Bedrohungen. Er wirkt anregend und leistungsfördernd. Er versetzt uns in einen Zustand höherer Aufmerksamkeit und Fluchtbereitschaft. Seine Kennzeichen sind die Energieentladung und die abbauenden Stoffwechselprozesse. Über die alarmierte Sympathikus-Nebennierenmark-Achse (das „Adrenalin-Netzwerk“) werden blitzschnell proinflammatorische Zytokine freigesetzt. } Siehe Kapitel 5.4 Ist der Sympathikus aktiv, wird sein Gegenspieler, der Parasympathikus, entthront.
Die Leistungsgesellschaft, wie wir sie heute erleben, ist Sympathikus-betont. Eine dauerhafte Sympathikonie (erhöhte Erregbarkeit des Sympathikus) fördert die Entzündungsbereitschaft und erhöht das Risiko z. B. für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. |
In Kapitel 19 werden wir sehen, dass auch eine instabile Halswirbelsäule zu einer Dominanz des Sympathikus führen kann.
Das Parasympathische Nervensystem
Der Parasympathikus („Vagus“) wird auch Erholungsnerv genannt, denn er füllt verbrauchte Reserven wieder auf und sorgt so für Ruhe, Schonung, Reparatur der Zellen, Entgiftung, Verdauung etc. Er drosselt die allgemeinen Funktionen und bringt den Menschen in einen Ruhezustand – je aktiver der Parasympathikus ist, desto besser erholen wir uns. Seine Kennzeichen sind die Energiespeicherung und die aufbauenden Stoffwechselprozesse. Der Parasympathikus reguliert die Hemmfunktion der Organe über die Ausschüttung von Acetylcholin.
Entspannung hemmt EntzündungDer Vagusnerv kann über den cholinergen Transmitter Acetylcholin überschießende, inflammatorische Antworten regulieren. (Fachsprachlich: „Inflammatorischer Reflex“) |
Die beiden Gegenspieler Sympathikus und Parasympathikus verbinden das Gehirn mit den inneren Organen – und umgekehrt. Wenn wir gesund sind, arbeiten unsere Organe auch unter Anforderungen und Stress ohne Funktionsstörungen – ein Zeichen, dass die Wirkungen der beiden Kräfte im dynamischen Gleichgewicht sind.
Der gesunde Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung ist die Grundvoraussetzung für unser Wohlbefinden. |
Unter Dauerstress kann es zu vegetativen Fehlregulationen kommen, dann sind Sympathikus und Parasympathikus gleichzeitig und überall aktiv, während sie im gesunden Organismus rhythmisch abwechselnd und räumlich differenziert Impulse geben. So entstehen widersprüchliche Situationen: Wir haben Hunger und sind nach drei Bissen satt; wir schwitzen und haben kalte Hände und Füße, die Verdauung wechselt zwischen Verstopfung und Durchfall, der Kreislauf spielt verrückt. Wenn der Sympathikus auch in der Nacht aktiv bleibt, kann der Parasympathikus, der nachts für die Regeneration, für das Herunterfahren von Entzündungen und für die Entspannung des Organismus verantwortlich ist, seine Aufgabe nicht erfüllen.
Erschöpfungszustände wie das Burnout-Syndrom (Überbetonung des Sympathikus; Daueraktivierung) einerseits und der Wellness-Boom andererseits (Erholung, Parasympathikus) spiegeln die Ausschläge der Wirkungsweisen unseres Vegetativen Nervensystems wider.
3.1.2 Die zweite Kaskade der Alarm-Reaktion
Jedem Stress-Ereignis folgt in einer zweiten Kaskade die Freisetzung von Cortisol. Dieses Schlüsselhormon reguliert das weitere Geschehen in Interaktion mit einem Netzwerk von weiteren Botenstoffen. „Cortison“ ist die synthetische Form des Hormons, die wir als Medikament kennen.
Stimulation der Cortisol-Netzwerk-AchseCortisol unterdrückt das Immunsystem und hemmt die Entzündungs-Prozesse, die bei jeder Stress-Antwort entstehen. Zudem vermindert es die Schmerzempfindung. |
Zurück zu unserem Fallschirm-Absprung: Sie sind gesprungen! Nach kurzer Zeit im freien Fall landen Sie, alles ist gut gegangen. Jetzt beginnt Ihr Körper über komplexe Cortisol-gesteuerte Rückkopplungs-Systeme wieder in ruhige Bahnen zu kommen. Die mit der Stimulation der Cortisol-Netzwerk-Achse verbundene Abgabe von Cortisol aus der Nebennierenrinde fährt die gesteigerte Entzündungsaktivität zurück.
Abb. 3.1.2/1 Stress ist ein Ganzkörper-Ereignis
Im gesunden Organismus werden innerhalb von 2–3 Stunden die Stressreaktionen durch mehrere komplizierte (und dadurch störungsanfällige) hormonelle, immunologische und neurale Schaltkreise herunter geregelt. Adrenalin, Noradrenalin, Cortisol und weitere interagierende Botenstoffe werden durch Enzyme abgebaut.
Das Netzwerk der BotenstoffeFür eine adäquate Stress-Antwort ist die rasche Wiederherstellung eines ausgeglichenen Zustandes (Homöostase) durch die koordinierte Aktivierung und Deaktivierung unterschiedlichster Botenstoffe entscheidend. |
Jetzt wird der Parasympathikus aktiv. Der Botenstoff Acetylcholin senkt Herzrate und Blutdruck, der Atem wird wieder gleichmäßiger, Sie entspannen sich. Das Adrenalin wird schnell wieder ausgeschieden. Cortisol bzw. die von ihm „angeforderten“ Substanzen verbleiben jedoch noch bis zu 72 Stunden im Organismus.
Die Landung mit dem Fallschirm hätte schief gehen können, Sie hätten stürzen und sich verletzen können – der Organismus war durch die Bereitstellung von schnell verfügbarer Energie auf diese Bedrohung vorbereitet. Die Stressreaktion ermöglicht den unmittelbaren Einsatz der Muskeln. So sind unter Stress unglaubliche Leistungen möglich, die aus einer Ruhesituation nicht leistbar wären.
3.1.3 Alarm – Widerstand – Erschöpfung
Die Stressforschung unterscheidet drei Phasen der Stress-Antwort: Die Alarmreaktion, die Widerstandsphase und die Erschöpfungsphase.
1. Die Alarmreaktion
Droht Gefahr, ermöglicht die Alarmreaktion den unmittelbaren Einsatz von Muskeltätigkeit. Diese erste Sofortreaktion auf Stressoren, die im vorausgehenden Kapitel am Beispiel des Fallschirmsprungs geschildert wurde, ist seit Jahrtausenden unverändert, schon unsere Vorfahren zeigten im Angesicht des Säbelzahntigers das gleiche Stress-Muster: Jetzt ist kein Raum für Neugierde, Kreativität und flexibles Handeln – die Lösungsstrategie ist automatisiert – keine Zeit für wohlüberlegte, langfristige Auswege! Es geht um die Rettung aus akuter Gefahr.
Alle Regulations- und Stoffwechsel-Systeme sind während der Alarmreaktion im Einsatz: Der Organismus ist bereit zu flüchten oder zu kämpfen.
Diese Mobilisierung von Energiereserven, die Bereitstellung der Stresshormone und der Entzündungs-Zytokine verbraucht viele Vitalstoffe. Der Organismus befindet sich in einem zeitlich begrenzten Verteidigungs- und Überlebensmodus.Alle Körpertätigkeiten, die nicht direkt der überlebensnotwendigen Stress-Anpassung dienen, wie Verdauung, Wachstum, Sexualität oder Schlaf, werden während der Stress-Antwort heruntergeregelt. |
Die akute Stress-Antwort kann unter Umständen lebensbedrohliche Folgen haben: So war beispielsweise 2006 die Herzinfarkt-Rate in Münchner Kliniken um das Dreifache erhöht, als Deutschland bei der WM um den Titel kämpfte.
2. Die Widerstandsphase
Die Stressfalle
Wenn Anzahl, Dauer und/oder Intensität der Stressfaktoren die Kompensationsfähigkeit des Organismus nahezu ununterbrochen herausfordern, befinden wir uns im Dauerstress. Die negative Rückkopplung wird außer Kraft gesetzt, der Stresshormonlevel bleibt dauerhaft erhöht, die Regeneration geht verloren. Wir sind in der Stressfalle. Hohe Stresshormon-Spiegel täuschen nun permanent lebensbedrohliche Situationen vor.
Alle körperlichen Veränderungen, die bei akutem Stress zeitlich begrenzt geschehen, laufen nun andauernd ab und führen zu ständiger Bereitstellung von Energie, gleichzeitig zu hohem Energieverlust, zu Substanzabbau und zu anhaltenden Entzündungsreaktionen. Das Immunsystem ist dauerhaft aktiv. |
Im Überlebens-Modus
Zugespitzt könnte man sagen, dass sich Menschen in Industriegesellschaften im permanenten Überlebens-Modus befinden. Das Alarmprogramm, das ursprünglich für Ausnahmesituationen vorgesehen war, ist heute Alltag. Unsere arhythmische, überaktive Lebensweise fördert Fehlfunktionen. Wir sind ausgestattet mit einem seit Jahrtausenden bewährten, aber „altmodischen“ Stresshormonsystem. Ohne Regenerationszeiten verbleiben die Stresshormone zu lange im Körper, sie werden nicht angemessen abgebaut. Die Widerstandsphase ist verbunden mit Hyper-Cortisol, einem anhaltenden, durch den Sympathikus bedingten Erregungszustand und gleichzeitiger Erschöpfung. Diese Phase kann Monate oder Jahre anhalten. Unter solchen Bedingungen geht auf Dauer die Anpassungsfähigkeit verloren.
Der Organismus ist jetzt dauerhaft einer zu hohen Glucocorticoid-Konzentration ausgesetzt. Die Sensitivität der Glucocorticoid-Rezeptoren kann deshalb abnehmen (Glucocorticoid-Resistenz). Langfristig verringern die erschöpften Nebennieren die Cortisol-Ausschüttung (} Hypo-Cortisolismus). Die Aktivität der Stressachsen ist gestört, die Rezeptoren reagieren nicht mehr auf Cortisol – der Organismus ist jetzt nicht mehr in der Lage, die stressbedingte Entzündungsreaktion herunterzufahren.
Dauerstress erhöht die Anfälligkeit für Infektionen und reduziert zudem fatalerweise die Abwehrbereitschaft. |
Die Stress-Studie 2016 der Techniker Krankenkasse mit dem Titel Bleib locker, Deutschland zeigte: Fast sechs von zehn Deutschen empfanden ihr Leben als stressig – jeder fünfte stand unter Dauerdruck. Mehr als jeder zweite Deutsche hatte das Gefühl, dass sein Leben in den letzten drei Jahren stressiger geworden war.
Die Nebennieren
Die Nebennieren sind zwei walnussgroße Drüsen, die huckepack wie kleine Kappen auf beiden Nieren sitzen. Funktionell haben die Nebennieren mit der Funktion der Nieren nichts zu tun. Die Aufgabe der Nebennieren ist es, lebenswichtige Hormone zu bilden. Eine Nebenniere ist circa 4 cm lang, 4 cm dick und ungefähr 2 cm breit, sie wiegt nicht mehr als eine Weintraube (ca. 5 bis 15 Gramm). Man unterscheidet zwischen Rinde und Mark, die Rinde ist wiederum in drei Zonen mit unterschiedlichen Aufgaben unterteilt.
Das Nebennierenmark macht ca. 20 % der Nebenniere aus – also nur federleichte 1–3 Gramm! Es ist das Zielorgan, bei dem sämtliche Situationen ankommen, die uns herausfordern und denen wir uns anpassen müssen. Vom Nebennierenmark wird als Stressreaktion unverzüglich Adrenalin und Noradrenalin ausgestoßen, die für die „Kampf oder Flucht“-Reaktion verantwortlich sind.
Der äußere Bereich, die Nebennierenrinde, macht 80 % der Nebenniere aus und ist für die Produktion von über 50 verschiedenen Steroid-Hormonen in drei Hauptkategorien verantwortlich: die Glucocortcoide, die Mineralkorticoide und die Sexualhormone (Androgene).
Dauerstress blockiert Hormonwege
Die Cortisol-Netzwerk-Achse ist die Lebensretter-Achse, denn sie sichert in gefährlichen Situationen unser Überleben. Cortisol dominiert daher die anderen Hormon-Ausschüttungen der Nebenniere, die über den Hypothalamus miteinander vernetzt sind. Bei permanenter Stressaktivierung ohne Erholungszeiten können sich die Nebennieren kaum mehr regenerieren.
Pregnenolon ist die Vorläufer-Substanz für die Produktion von mehr als 150 Steroidhormonen. Die Substanz wird daher auch als „die Mutter aller Steroide“ bezeichnet. Bei überschießender Cortisol-Produktion wird die Basissubstanz Pregnenolon verbraucht und steht z. B. für die Bildung der Geschlechtshormone Testosteron und Östrogen oder für Wachstumshormone wie DHEA als Vorläufersubstanz nicht mehr zur Verfügung. Das hat weitreichende Folgen für die Gesundheit und für die Lebensqualität. Der Mangel an Sexualhormonen kann bei Frauen zu stressbedingten Beschwerden wie Brustspannen (Mastodynie), zu Zyklus-Unregelmäßigkeiten, zu Menstruations- und Wechseljahresbeschwerden, zum Ausbleiben des Zyklus, zu Störung der Empfängnisfähigkeit führen. Bei Schwangerschaft ist das Risiko einer Frühgeburt erhöht. Bei Männern kann es zu Störungen des sexuellen Antriebs und der Zeugungsfähigkeit oder zu Erektionsschwierigkeiten kommen. DHEA ist ein Gegenspieler zu Cortisol und wird auch als „Jungbrunnen-Hormon“ bezeichnet. Das Hormon beeinflusst den Energieverbrauch und den Alterungsprozess. Auch DHEA ist wiederum eine „Muttersubstanz“ für viele andere Hormone. Potenziert wird ein möglicher Hormonmangel durch Fehlernährung, chronische Infektionen, Schwermetalle sowie weitere Stressoren.
Manche Steroide werden für Doping verwendet, um leistungsfähiger und ausdauernder zu werden. Die Nebenwirkungen können jedoch erheblich bis tödlich sein. Glucocortcoide, z. B. Hydrokortison, sind andererseits lebenswichtige Medikamente. Der Wirkstoff Dexamethason wird seit September 2020 von der Europäischen Arzneimittelagentur EMA bei schweren COVID-19-verläufen empfohlen.
Die Nebennieren sind stresssensibel
Prinzipiell können alle Arten von Stressoren als Auslöser oder als Verstärker die Nebennieren schwächen. Eine reversible Funktionsschwäche der Nebennieren tritt z. B. auf, wenn dauerhafte Anspannung/Belastung nicht mehr durch Entspannung ausgeglichen werden kann. Oftmals überlagern sich jedoch auch unterschiedliche Belastungen. Besonders häufig sind Infektionen mit Borreliose, mit dem Eppstein-Barr-Virus, Herpes simplex oder mit dem Zoster Virus an der Entstehung einer Nebennieren-Unterfunktion beteiligt. Auch Funktionsstörungen des Darms, Entzündungen oder Schwermetallbelastungen schwächen die sensiblen Organe.
Mit einem Speichel-Hormontest kann zuverlässig der Status der Stress-Hormone erfasst werden. Laboradressen finden Sie auf den Serviceseiten.
3. Die Erschöpfungsphase
„Sei nicht frevelhaft gegen deinen Körper, indem du mehr von ihm verlangst, als er zu leisten vermag.“ Sebastian Kneipp
In der Erschöpfungsphase kommt es zur zentralen Blockade der Anpassungs-Reaktionen und zu einer mehr oder weniger stark ausgeprägten Regulationsstarre. Die überforderten Kompensations-Mechanismen zerbrechen.
Unsere fragilen (Stress-)Hormondrüsen, die alle gemeinsam gerade einmal das Gewicht eines Standardbriefes (nur etwa 20 Gramm!) auf die Waage bringen, sind der heutigen Dauerbeanspruchung nicht gewachsen. Genau die lebenswichtigen Organe, die uns in einer akuten Stress-Situation das Überleben sichern, werden durch das permanente Trommelfeuer des heutigen Alltags gefährdet. |
Die erschöpften Stress-Achsen: Cortisolmangel (Hypo-Cortisolismus)
In der Widerstandsphase wird mehr Cortisol produziert, um den Dauerstress zu bewältigen. Die Nebennieren verausgaben sich und geraten deshalb in der Erschöpfungsphase in einen bedauernswerten Zustand. Im englischsprachigen Sprachraum spricht man von „Adrenal Fatigue“, im deutschsprachigen Raum von sekundärer Nebennierenrinden- oder -mark-Insuffizienz. Im Ärztealltag wird nur der extreme Cortisol-Mangel (Morbus Addison), bzw. der extreme Cortisol-Überschuss (Morbus Cushing) als pathologisch bewertet.
Die individuelle Stressresistenz
Wir reagieren individuell sehr unterschiedlich auf Stress: Es gibt Menschen, die über Jahrzehnte in der Widerstandsphase verbleiben, andere werden schon durch scheinbar unbedeutende Stressfaktoren dauerhaft aus der Bahn geworfen. Wieder andere erleben abwechselnd Widerstands- und Erschöpfungsphasen, bei manchen lässt die Stressresistenz über lange Zeiträume allmählich nach.
Biologische Parameter
Dass Personen unterschiedlich empfindlich auf Stressreize reagieren, hängt auch stark von biologischen Parametern ab, z. B. von der Aktivität des sogenannten Glucocortcoid-Rezeptors. Er nimmt eine Schlüsselfunktion in der Feedback-Regulation der Stressantwort ein, weil er die vielfältigen Botschaften des Cortisols in die Zelle weitergibt. Die Sensitivität dieses Rezeptors kann (wie bei den Beta-2-Rezeptoren) aufgrund genetischer Varianten, aber auch durch (embryonale, frühkindliche oder spätere) Umwelteinflüsse gesteigert oder vermindert (Glucocorticoid-Resistenz) sein.
Abb. 3.1.3/1 Die individuelle Stress-Resistenz/-Toleranz
3.1.4 Das Burnout-Syndrom
In der Erschöpfungsphase gelingt es den Nebennieren kaum noch, ausreichend Cortisol zu produzieren, es entsteht ein Mangel (Hypo-Cortisol). Cortisol wird nachts gebildet, die Werte sind bei Gesunden frühmorgens am höchsten – unter Dauerstress sind jedoch schon die morgendlichen Werte auffallend niedrig. Die chronische Belastung führt nun zu eingeschränkter bis erschöpfter Kompensationsfähigkeit. Diese Konstellation findet sich typischerweise beim „Burnout-Syndrom“.
Das Burnout-Syndrom ist der (reversible) Ausdruck einer „Überdosis“ an Dauerstress. |
Die Liste der Beschwerden beim Burnout-Syndrom ist umfassend und individuell sehr unterschiedlich: Sie reicht von Erschöpfung, Energiemangel, Schlafstörungen über Konzentrations- und Gedächtnisprobleme, Ruhelosigkeit bis hin zu Gleichgültigkeit und Verlust an Empathie. Auch Verbitterung, Partnerschaftsprobleme, das Gefühl mangelnder Anerkennung und nicht zuletzt körperliche Beschwerden wie Enge in der Brust, Rückenschmerzen oder Übelkeit werden von Betroffenen berichtet. Die Beschwerden können sich aufschaukeln und Betroffene können in einen Teufelskreis geraten, in dem sie sich nicht mehr als selbstwirksam erleben. Das kann zu purer Verzweiflung führen oder zu Suizidgedanken. Burnout ist ein Risikofaktor für das Auftreten von Depression, Herzinfarkt, Schlaganfall, Osteoporose und Diabetes mellitus.
Das Burnout-Syndrom kann als direkte Folge einer Erschöpfung der Zellkraftwerke verstanden werden. Uschi Eichinger und Kyra Hoffmann zeigen diesen Sachverhalt in dem lesenswerten Buch Der Burnout-Irrtum: Ausgebrannt durch Vitalstoffmangel – Burnout fängt in der Körperzelle an.
3.1.5 Dauerstress und Trauma
Dauerstress
Dauerstress entsteht durch die Aneinanderreihung von akuten Stress-Ereignissen. Da dabei langfristig die Erholungsphase fehlt, hat permanenter Dauerstress (auch „toxischer Stress“) pathologische körperliche und seelische Auswirkungen.
Abb. 3.1.5/1 Dauerstress und Traumata
Dauerstress und Traumata korrumpieren die Selbstheilung
Trauma
Der Begriff „Trauma“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet „Verletzung“. Im Alltag wird der Begriff Trauma medizinisch unpräzise für Alltagsbelastungen verwendet. Ob ein Ereignis oder Geschehen zu einem Trauma wird, hängt einerseits von dessen Schwere und Ausmaß ab (zum Beispiel Naturkatastrophen, schwere Unfälle, Vergewaltigungen, Terroranschläge, Kriegserlebnisse oder Entführungen), zum anderen, ob das Ereignis oder Geschehen nachhaltige psychische oder körperliche Verletzungen bei den betroffenen Personen hinterlässt. In Kapitel 11 finden Sie Informationen zum Posttraumatischen Belastungs-Syndrom/PTBS.
Weniger geläufig sind
Mechanische Traumen, (z. B. durch Unfall, Gewalt),
Chemische Traumen (z. B. durch Verätzung, Vergiftung) oder
Physikalische Traumen (z. B. durch Strahlung, Kälte, Druck, Schall)
Alle Arten von Dauerstress und Traumen – also nicht nur, aber auch, psychosozialer Stress – hinterlassen ihre Spuren, sie verändern nachhaltig unsere Physiologie, die Zellkommunikation und den Stoffwechsel und können zu chronischen Erkrankungen führen.
Early Life Stress
Frühkindliche (auch schon embryonale) Stress-Erfahrungen können langanhaltend schädigend auf das sich entwickelnde Immun- und Stress-System wirken. Je instabiler die Stress-Achsen durch frühe Lebensereignisse „eingestellt“ sind, desto stärker können Stressoren lebenslang (!) einwirken. Das lässt sich mit der Grundeinstellung eines Thermostats vergleichen. } Siehe Kapitel 34
Early Life Exposom-Stress
Psychosoziale Early Life Stress-Faktoren sind gut untersucht. Doch die sich entwickelnden Feten und Kinder sind vielen weiteren Faktoren ausgesetzt, deren Gesamtheit als Exposom bezeichnet wird. } Siehe Kapitel 3.2.3 Dazu gehören z. B. Chemikalien. Auch diese Stressoren können die Stress- und Immunregulation nachhaltig negativ beeinflussen – ggf. lebenslang. } Siehe Kapitel 34
3.1.6 Stress verändert unser Verhalten
Unter Dauerstress verändern sich Gehirnstrukturen: Die Dendriten der Amygdala verzweigen sich und werden durch die dauerhafte Beanspruchung „stärker“.
Wenn die Amygdala das Zepter übernimmt, handeln wir weniger vernunftgelenkt, sondern impulsiver, triebhafter, das Denken ist beeinträchtigt oder „blockiert“. |
Das kognitive Gehirn und das emotionale Gehirn fallen auseinander, statt Kohärenz entsteht Chaos. Konkret bedeutet das, dass bei Überforderung automatisiertes Handeln zunimmt, während das reflektierte, variable Reagieren auf Situationen abnimmt. Die Nervenfortsätze des Präfrontalen Kortex verkümmern: Neurone bauen Verbindungen ab, wenn sie nicht gebraucht werden.
Das führt zu Entfremdung: Mit zunehmender Überforderung entfremden wir uns von uns selbst. Der Politikwissenschaftler Hartmut Rosa beschreibt die fehlende Weltbeziehung soziologisch: Wer unter Stress steht, kann nicht mehr mit anderen Menschen und mit der Umwelt in Resonanz treten.
Zwischen Außenwelt und Innenwelt entsteht ein Spannungsfeld: Dazwischen steht „Eigentlich“. „Eigentlich“ würde ich gerne mehr Zeit haben für meine Familie, eigentlich möchte ich regelmäßig schwimmen gehen, eigentlich habe ich mir mein Leben anders vorgestellt.
Gestresste können nicht mehr spüren, was guttut und was schadet. Selbst positive Erfahrungen werden nicht mehr gespeichert (Tunnelblick).
Schlafstörungen treten auf, Nervosität, innere Unruhe, Motivationsverlust und Stimmungsschwankungen.
Das führt bis hin zu mangelnder Impulskontrolle/Aggressivität, Niedergeschlagenheit, depressiven Episoden. Das Burnout-Syndrom, Depressionen oder Angsterkrankungen können sich entwickeln.
Stressbedingte Sinnkrisen, Identitätsstörungen, Versagensängste werden berichtet.
Dauerstress kann zu gesundheitsschädlichem Suchtverhalten führen: Rückzug, Rauchen, vermehrter Alkoholkonsum, Drogen- und Arzneimittel-Missbrauch.
All diese Auswirkungen spiegeln sich in aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen. Ist es Zufall, dass mit steigender Stressbelastung, die derzeit zu beobachtende Verrohung zunimmt und auch sie sogenannten „Hasspostings“?
3.1.7 Stress und (Epi-)Genetik
Die Wissenschaftsdisziplin Epigenetik wird in Kapitel 28 erläutert. Neuere Forschungen belegen, dass sowohl genetische wie auch epigenetische Faktoren eine wesentliche Rolle bei der Verarbeitung von Stress spielen.
Unsere genetische Konstitution wirkt sich auf unsere individuelle Stressanfälligkeit aus. Abschnitte des Erbgutes, die für die Aktivität der Stresshormone mitverantwortlich sind, (dazu gehören z. B. Polymorphismen der Gene BDNF, COMT, MAOA, FKBP5) stehen im Fokus der aktuellen Forschung. Dazu kommen die epigenetischen Einflüsse, also die Frage, ob vorhandene Gene abgelesen werden oder stillgelegt wurden.
Es gibt nach dem derzeitigen Stand der Forschung weder ein Burnout-Gen, noch ein Depressions-Gen – aber erhöhte Anfälligkeiten, die sich in einem komplexen Zusammenspiel mit anderen Genen, mit unserer Lebensweise und mit Lebensereignissen auf unsere individuelle Stressresistenz auswirken können. |
In einer akuten Stress-Situation werden Kaskaden von Adrenalin und Noradrenalin freigesetzt. Die Werte dieser sogenannten Katecholamine können um das 50-fache ansteigen. Sie binden an die alpha- und beta-adrenergen Membranrezeptoren vieler, sehr unterschiedlicher Zellen im ganzen Körper. Beta-2-Rezeptoren neigen bei chronischer Stimulation, z. B. bei chronischem Herz-Kreislauf Stress zur Desensibilisierung. Ihre Anzahl kann erheblich abnehmen. Die Rolle der Beta-2-Rezeptoren wurde z. B. bei ME/CFS-Patienten untersucht. 3.1.7/1 Wirth, Scheibenbogen
Um die Stresshormone Adrenalin, Dopamin und Noradrenalin abzubauen, werden mehrere Enzyme benötigt. Dr. Kurt E. Müller beschreibt in seinem Positionspapier zur COVID-19 Pandemie u.a. den unguten Zusammenhang zwischen steigender Stresslast und unzureichendem Abbau der Stresshormone.
„Der ursprünglich für Notfallreaktionen vorgesehene Gebrauch von Katecholaminen (KA) erfolgt inzwischen im alltäglichen Leben. Grund hierfür sind Tempo, Zeitdruck, Komplexität des täglichen Lebens, sozialer Stress und Funktionseinbuße des parasympathischen Nervensystems. Die Ansicht, dass deren Produktion nur im ZNS [Zentralnervensystem], der NNR [Nebennierenrinde] und dem sympathischen Nervensystem erfolgt, ist überholt. KA und ihre Rezeptoren werden von einer ganzen Reihe der Immunzellen produziert. Die andauernde Stressreaktion durch KA hemmt die Immunfunktion. [...] Verstärkt wird er bei den Menschen, die eine genetisch geminderte Funktion der Catechol-O-Methyltransferase (COMT) aufweisen, was bei ~15 % der Bevölkerung der Fall ist.“ [Quellenhinweise im Originaltext] 3.1.7/2 Müller
COMT kann in verschiedenen Gen-Varianten vorliegen. Entsprechend werden zwei unterschiedlich aktive Formen des COMT-Enzyms gebildet – „Val“ oder „Met“. Die Val-Variante des Enzyms ist bis zu vierfach aktiver als die Met-Variante. Da jedes Gen in zwei Kopien vorliegt, gibt es Menschen, die zwei Val-Varianten, andere, die zwei Met-Varianten haben, sowie solche, die beide Enzymarten besitzen. Durch eine genetische Untersuchung kann geklärt werden, ob ungünstige Genvarianten vorliegen.
Systemischer Einfluss auf das Immunsystem
Sowohl das angeborene wie auch das erworbene Immunsystem werden durch Katecholamine direkt beeinflusst. B-Lymphozyten, T-Lymphozyten, Natürliche Killerzellen (NK-Zellen), Dendritische Zellen und Makrophagen haben Rezeptoren für diese Botenstoffe. Darüber hinaus können Lymphozyten selbst Katecholamine synthetisieren und freisetzen.
Katecholamine sind, neben ihrer Funktion als Neurotransmitter auch Regulatoren der Immunfunktion: Stresserleben hat direkten Einfluss auf Immunfunktionen, und umgekehrt! |
Andauernde Stressreaktionen hemmen die Immunfunktion: Ein Überschuss an Katecholaminen führt zu einer Verschiebung der Zytokine vom TH-1 zum TH-2-Pfad (d.h. vom „Verteidigungs-System“ zum „Toleranz-System“). } Siehe Kapitel 5.4
COMT und Umweltschadstoffe
Das Enzym COMT wird gebraucht, um bestimmte Medikamente zu verstoffwechseln (z. B. Amphetamine, Methyldopa, Catecholaminhaltige Notfallmedikamente wie Epinephrin) und um Umweltchemikalien wie einfache Phenole, Hydrokarbone, Anthrachinone, Dibenzodioxine und Dibenzofurane abzubauen.
Damit konkurriert der Abbau von Katecholaminen mit dem Abbau von Umweltschadstoffen und Medikamenten. Je weniger COMT zur Verfügung steht, desto weniger Substanzen (Katecholamine, Medikamente oder Umweltschadstoffe) können abgebaut werden.Das bedeutet, dass die heutige Grundbelastung mit Schadstoffen für große Teile der Bevölkerung ein physiologisches Problem darstellt, weil sie bei ungünstigen genetischen Voraussetzungen nicht abgebaut werden können. |
Wer aufgrund einer ungünstigen COMT-Genvariante Katecholamine nicht vollständig abbauen kann, steht ständig „unter Strom“, der Organismus gibt dann ständig „Vollgas“. Diese Variante ist bei ca. 15 % der Bevölkerung zu finden. Bei dieser Konstitution wirken sich Umgebungsfaktoren, die mit unserer modernen, hektischen Lebensweise zusammenhängen, stärker aus, als wenn Betroffene in vorindustrieller Zeit gelebt hätten.
Neurostress
Der Begriff „Neurostress“ umfasst die Gesamtheit aller pathologischen Veränderungen der neuroendokrinen Stressachse und deren systemische Auswirkungen auf die Psyche, auf neurologische, endokrin/hormonelle und auf immunologische Phänomene.
Beschwerden wie Ängste, Unruhe, Motivationsverlust, kognitive Störungen, Fatigue/Leistungsabfall, Überempfindlichkeitsreaktionen, Schlafstörungen oder Schmerzen sowie Erkrankungen wie Depressionen, Burnout oder Migräne können als Funktions-Störungen verstanden werden, die auf neuro-regulatorischen Dysbalancen beruhen. Die Balance zwischen exzitatorischer (erregender) und inhibitorischer (dämpfender) Gehirnchemie ist gestört.
Der Ablauf der Stressantwort kann bei erworbenen multisystemischen Erkrankungen auf mehreren Ebenen gestört sein, z. B. durch ein Ungleichgewicht der Stresshormone, durch Dysfunktionen/Resistenzen bei den Rezeptoren; durch einen gestörten Abbau aufgrund eines (epi/genetischen) Mangels oder eines Überschusses an stressabbauenden oder entzündungshemmenden Enzymen. |
3.1.8 Stressbedingte Erkrankungen
Aus physiologisch wird pathologisch
Wenn der physiologische Ablauf der Stressantwort nicht gewährleistet ist, entstehen als Langzeitwirkungen unterschiedliche stressbedingte Erkrankungen. Stressbedingte Erkrankungen sind in der Regel chronisch-entzündliche Erkrankungen.
Physiologische Reaktion auf stressorische Reize | Pathologische Folgen |
Bereitstellung von Energie, um potenziell flüchten oder angreifen zu können. | Das permanente Abrufen der Katecholamine (Adrenalin, Noradrenalin, weitere) verbraucht viel Energie und baut Substanzen ab (z. B. Proteine, Calcium) � Erhöhtes Risiko für Muskelschwund, Osteoporose.Auf emotionaler Ebene: Angst, Aggression. |
Energie in Form von Blutzucker wird für die Muskeln und für das Gehirn bereitgestellt. | Zuckerstoffwechselstörungen, Gewichtsprobleme, Insulinresistenz, Prä-Diabetes, Diabetes mellitus. |
Bereitstellung von Blutfetten | Fettstoffwechselstörungen bis hin zu Adipositas. |
Der Blutdruck steigt, der beschleunigte Blutkreislauf intensiviert den Transport von Sauerstoff in die Zellen und Gewebe. | Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Schwindel. |
Mitochondrien erhöhen die ATP-Produktion, als Nebenprodukt entstehen vermehrt freie Sauerstoff-Radikale. | Zu viel oxidativer Stress entsteht. } Siehe Kapitel 5.5 |
Freisetzung von NO und weiteren Signalmolekülen. | Zu viel nitrosativer Stress entsteht. } Siehe Kapitel 5.5 |
Das „Cortisol-Netzwerk“ ist dauerhaft hoch. Das Immunsystem wird heruntergefahren, das Schmerzempfinden sinkt. | Störungen der Immunregulation, erhöhte Infektionsanfälligkeit, schlechte Wundheilung, dünne, brüchige, neurodermitische Haut. Cortisol bedingter Fettansatz im Gesicht, Nacken, Stamm und Abdomen. |
Die Stressantwort hat Vorrang vor der Schilddrüsen-, Wachstumshormon- und Geschlechtshormon-Achse. | Ungleichgewichte bei den Schilddrüsen-, Wachstums- und Sexualhormonen. |
Der Sympathikus ist aktiv | Hypertonie, Erregbarkeit, Abgeschlagenheit, Schlafstörungen. Inaktivierung des Parasympathikus, mangelnde Regeneration � Burnout. |
Das Verdauungssystem wird zum Überleben nicht gebraucht und macht Pause. | Magen-Darm-Störungen: Appetit-, Nahrungsverwertungsstörungen, Reizdarm. |
Herunterfahren weiterer Vitalfunktionen, z. B. Sexualität, die in Stress-Situationen nicht dem Überleben dienen | Gynäkologische/urologische Störungen, (z. B. Libido-, Erektionsstörungen, Menstruations-Beschwerden). |
in Stress-Situationen können wir nicht schlafen. | Störungen des Schlaf-/Wachrhythmus. |
Mikro-Entzündungen entstehen als Antwort auf Stressoren. | Dauerhafte, subklinische Entzündung/Silent Inflammation. Im ganzen Organismus, auch im Gehirn � Risiko für Depressionen. |
Der Verbrauch des Wohlfühlhormons Serotonin ist erhöht, die Synthese wird gehemmt. | Serotonin-Mangel hat Auswirkungen auf unsere Stimmung, auf den Schlaf, auf Appetit, Sexualverhalten, auf die Temperaturregelung und auf die Schmerzwahrnehmung. |
Automatisierte Aktivierung archaischer Gehirnfunktionen | Überlastungs-Störungen, Aggressivität. Langfristig: Abbau kognitiver Gehirnfunktionen, Gedächtnisstörungen. |
Die Skelettmuskulatur wird mit Blut und Nährstoffen versorgt, zur Vorbereitung für Kampf oder Flucht spannen sich viele Muskelgruppen an, was mit einem Zittern einhergehen kann. | Muskelverspannungen, -verhärtungen, Schmerzen. |
Die Atmung wird schneller, der Puls steigt. | Atemwegserkrankungen, Asthma. |
Hände und Füße schwitzen, der Mund wird trocken. Wir werden blass, wir bekommen eine „Gänsehaut“. Der einsetzende Harndrang kann dazu führen, dass wir vor Schreck unwillkürlich Wasser lassen. | Neuro-vegetative Störungen. |
Alle Sinne sind angespannt, die Pupillen weiten sich. Die Konzentration richtet sich auf die Bedrohung, alles andere wird kurzzeitig ausgeblendet. | Tunnelblick, kognitive Überlastung, Gereiztheit. |
3.2 Unterschwellige Stressoren
Die (un-)heimlichen Stressoren
In Kapitel 3.1 wurde die Antwort des Organismus auf sinnlich wahrnehmbare Reize geschildert. Nun wenden wir uns den sinnlich eher nicht-wahrnehmbaren, unterschwelligen Faktoren zu. Die beiden Bereiche lassen sich nicht trennscharf unterscheiden, sie sind ineinander verwoben.
Die multifaktorielle Gesamtlast
Im vorliegenden Buch wird die Gesamtheit der wahrnehmbaren und der nicht unmittelbar wahrnehmbaren Faktoren als „multistressorische“ bzw. „multifaktorielle“ Gesamtlast bezeichnet. Sie lassen sich grob in biologische, chemische, physikalische und psychische Faktoren einteilen.
Der schwer nachzuweisende Zusammenhang zwischen „unsichtbaren“ Expositionen und deren Wirkung auf die Zellgesundheit ist von Interesse für das Verständnis von multisystemischen Erkrankungen: Welchen Anteil haben unterschwellige Umweltfaktoren an deren Entstehung?
Ein Beispiel für Faktoren, die wir nicht wahrnehmen können, sind Viren. Viren blieben lange unentdeckt, weil sie nur aus einem DNA oder RNA-Faden, z.T. mit Proteinhülle, bestehen. Biologen schätzen, dass zehnmal mehr Viren als Bakterien in und auf unserem Organismus zu finden sind. Manche dieser Viren verursachen Erkrankungen, andere koexistieren mit uns oder wurden sogar Teil unserer DNA. Viren gehören zu den Faktoren, die – ebenso wie Rauch, Pflanzen- und Tiergifte oder Bakterien – unsere Menschheitsgeschichte schon lange begleiten. COVID-19 lehrt uns, dass Viren Meister in der feindlichen Übernahme unserer Zellsysteme sind.
Neuartige Stressoren/NoxenAbgase, Radioaktivität und Mikroplastik sind Beispiele für neuartige Stressoren. Wir können sie nicht sehen, nicht riechen, nicht schmecken. Unsere Sinne warnen uns nicht vor diesen potenziellen Gefährdungen.Fachsprachlich wird im Gesundheitswesen jede Art von Substanz, die potenziell schädlich wirken könnte, als „Noxe“ bezeichnet. |
3.2.1 „Novel entities“ – Neuartige Substanzen
Internationale Wissenschaftler um den schwedischen Professor Johan Rockström veröffentlichten erstmals 2009 das Konzept der „Planetaren Grenzen“. 3.2.1/1 Steffen et al. Sie benannten neun globale Prozesse, die das Gleichgewicht unserer Erde bedrohen. Einer dieser globalen Prozesse betrifft anthropogene Stoffeinträge, das sind von Menschen durch moderne Technologien neu geschaffene und in die Umwelt eingebrachte Substanzen und Emissionen. Diese Substanzen wurden in der Studie unter dem englischen Begriff „novel entities“ (Deutsch: „Neue/Neuartige Stoffe/Substanzen“) zusammengefasst.
Abb. 3.2.1/1 Belastung vorindustriell und heute
Dazu gehören
sämtliche durch menschliches Handeln erzeugte neue Substanzen, wie z. B. synthetische organische Schadstoffe/Chemikalien (Xenobiotika) inklusive Nanomaterialien und Mikrokunststoffe oder radioaktive Materialien.
Natürlich vorkommende Elemente (z. B. Schwermetalle), die durch anthropogene Aktivitäten quantitativ zunehmen, sowie modifizierte Lebensformen, (wie genetisch veränderte Organismen oder Produkte der synthetischen Biologie) die das Potenzial für unerwünschte geophysikalische und/oder biologische Wirkungen haben.
Die globale Einführung der novel entities in die Umwelt ist sowohl aus umweltpolitischer wie auch aus medizinischer Sicht besorgniserregend:
1 Weil diese Substanzen persistierend sind, d.h. sie verbleiben über unabsehbar lange Zeiträume in der Umwelt.
2 Sie sind über große Distanzen wie Klimazonen oder Kontinente hinweg mobil und entsprechend weit verbreitet. Wir sehen das z. B. in Funden von Mikroplastik im arktischen Eis.
3 Zum dritten haben Novel entities Auswirkungen sowohl auf lebenswichtige Prozesse im „System Erde“, wie auch auf lebenswichtige Prozesse im Organismus von Tier und Mensch.
Die novel entities haben das Potential, unerwünschte geophysikalische oder biologische Effekte im System Erde auszulösen und gleichzeitig ebenso unerwünschte Effekte im menschlichen Organismus zu bewirken – die Folgen sind hier wie da potenziell irreversibel. |
Gefährlichkeitsprofile der neuen Substanzen
Wir befinden uns mitten in einem Freisetzungs-Experiment mit globalen Auswirkungen. Von einem regelhaft durchgeführten Screening neuartiger Substanzen, bevor sie in die Umwelt freigesetzt werden, sind wir derzeit weit entfernt. Potenziell gefährliche Strahlen, Substanzen und Gase begleiten uns durch den Alltag und sind behördlich zugelassen – doch die gesundheitlichen Risiken sind unabsehbar.
Späte Lehren aus frühen Warnungen
Im Jahr 2001 veröffentlichte die Europäische Umweltagentur/EUA den Bericht Late lessons from early warnings: Environmental issue report No 22 01/2002. Unter dem Titel „Späte Lehren aus frühen Warnungen: Das Vorsorgeprinzip 1896–2000“ publizierte das Umweltbundesamt 2004 die deutsche Übersetzung. Untersucht wurden die Vorsorgekonzepte und die Risikobewertung, bzw. das Risikomanagement der vergangenen hundert Jahre in Bezug auf die Gesundheit der Bevölkerung und auf die Umweltsituation in Europa.
Abb. 3.2.1/2 Die Komplexität toxischer Wirkungen
Die wenigsten neuartigen Substanzen werden hinsichtlich ihrer Toxizität untersucht, geschweige denn auf Faktoren wie Wechselwirkungen oder Kumulationseffekte. Zusätzlich wird die Beurteilung erschwert, weil jeder Mensch über individuelle Entgiftungsleistungen verfügt. } Siehe Kapitel 22
Zwölf „späte Lehren“ wurden von den Autoren unter Federführung des wissenschaftlichen Beirats der EUA aus den vorgestellten zwölf Fallberichten abgeleitet, bei denen in jedem Fall klare Beweise für die Gefährdung der Bevölkerung und deren Umwelt zunächst ignoriert wurden. Thematisiert wurden u.a.: Strahlung (Röntgen, Radioaktivität), Benzol, Asbest, PCB und FCKW. |
Bei allen Problemfeldern gab es nach den ersten Hinweisen jahrzehntelange wissenschaftliche und gesellschaftliche Diskussion. Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW), wurden beispielsweise so lange als harmlos abgetan, bis die Schäden in Zusammenhang mit der stratosphärischen Ozonschicht nicht mehr geleugnet werden konnten.
Die Politik reagierte bei vielen Themen zu zögerlich, war offen für Lobbyinteressen und reagierte erst spät mit Vermarktungsverboten. |
Die so entstandenen gesellschaftlichen Folgekosten überstiegen die Gewinne der Hersteller der gefährlichen Güter bei weitem. Das führte nicht nur zu horrenden wirtschaftlichen Schäden für die Volkswirtschaften, sondern vor allem auch zu gesundheitlichen und sozialen Folgen.
Die Risiken der scheinbar so nützlichen Technologien blieben so lange unbeachtet, bis die unumkehrbaren Folgen nicht mehr zu stoppen waren. |
Erlaubt = ungefährlich?
Bei Asbest war die Latenzzeit zwischen dem ersten Auftreten der Belastung und der Eindämmung der Produktion so lang, dass viel zu viele Menschen an asbestbedingtem Lungen- oder Rippenfellkrebs erkrankten. Auch das Beispiel DDT zeigt, wie langsam die Mühlen mahlen, wenn es um gesundheitsschädliche Gefahren von Chemikalien geht: DDT wurde 1942 unter dem Handelsnamen „Gesarol“ als Mittel zum Pflanzenschutz und als „Neocid“ für den Hygienebereich auf den Markt gebracht und war über Jahrzehnte hinweg das am häufigsten verwendete Insektizid weltweit. Mitte der 1950er-Jahre wurde die schädigende Wirkung von DDT auf Vögel, Fische und Amphibien bekannt. Das Insektizid wurde in den Siebzigerjahren erst in Schweden, dann in Dänemark, in den USA und in Deutschland (1. Juli 1977) verboten.
Die Verwendung des gesundheitsschädlichen DDT war also 35 Jahre lang erlaubt. |
Die Substanz wird nicht abgebaut: Noch heute ist das Insektenschutzmittel in Umweltsedimenten und damit im Rohstoffkreislauf zu finden. Heute wissen wir, dass DDT sich im menschlichen Organismus ansammelt und in den Hormonhaushalt eingreift. DDT wird über Generationen weitergegeben. Bei Schwangeren gelangt es über Plazenta und Nabelschnur in hohen Konzentrationen auch in den Embryo, was zu Fehlbildungen führen kann. Auch in der Muttermilch ließen sich DDT und seine chemischen Abkömmlinge nachweisen.
Das Beispiel zeigt exemplarisch, dass „erlaubt“ keinesfalls mit „unbedenklich“ gleichzusetzen ist. Die Umwelt- und Gesundheitskosten durch DDT werden am Ende nicht von den Verursachern bezahlt, sondern von der Gesellschaft, bzw. von den betroffenen Menschen, die durch DDT zu Patienten geworden sind. |
3.2.2 Evolutionsmedizin
Alte Gene, neue Umwelt
Erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts haben die Lebenswissenschaften die molekularen Strukturen verschiedener Stoffgruppen ermittelt und sie verändert. Evolutionsbiologisch haben wir es mit den novel entities also mit einer Stoffgruppe zu tun, die in der Menschheitsgeschichte bis zu diesem Zeitpunkt keine Rolle spielte.
Unser Organismus muss sich mit evolutionär völlig neuartigen Faktoren auseinandersetzen, deren Verbreitung seit den ersten Menschenvorfahren bis zur Industrialisierung bei Null lag: Es gab diese erdölbasierten Substanzen schlichtweg nicht! |
Die immunologische Zeitenwende
Der menschliche Organismus hat sich im Lauf der Evolution mit natürlichen Reizen auseinandergesetzt und seine immunologischen Strategien darauf ausgerichtet. In seiner evolutionären Entwicklung wurde das menschliche Immun- und Entgiftungs-System weder mit Pestiziden noch mit Konservierungsstoffen noch mit synthetischen Nanopartikeln konfrontiert.
An diese quantitativ überfordernden und qualitativ schädigenden Stoffe sind wir nicht angepasst.
Synthetische Moleküle werden vom Immunsystem als fremd erkannt und bekämpft. Sie müssen durch die körpereigenen Entgiftungs-Systeme abgebaut werden, die dafür nicht ausgelegt sind. Wir sind zudem auch noch mit einem ebenfalls „altmodischen“ Stresshormon- und Entzündungssystem ausgestattet. Der Umweltmediziner Dr. Kurt E. Müller fasst zusammen:
„Für neuartige Ursachen immunologischer Auseinandersetzung (z. B. Umweltschadstoffe) ist der menschliche Organismus mit seinen entwicklungsgeschichtlich alten neurobiologischen, metabolischen, enzymatischen und immunologischen Mechanismen den rasch und vielfältig wechselnden Einflüssen der modernen Umwelt nicht adäquat adaptiert, und er nutzt die über lange Zeiträume für Infekte entwickelten Strategien für diese „neuen“ Aufgaben.“ 3.2.2/1 Müller
Der Evolutionsmediziner Detlev Ganten, Präsident des World Health Summit schreibt in seinem Buch Die Steinzeit steckt uns in den Knochen:
„Wenn wir verstehen wollen, wie unser Körper funktioniert, wofür er gemacht oder nicht gemacht ist, müssen wir immer wieder in die Vergangenheit zurückgehen. Manchmal nur Jahrhunderte, manchmal Hunderte Millionen Jahre.“
3.2.3 Die Exposom-Forschung
Das Humangenomprojekt
1990 begann ein internationales Forschungsprojekt, das viel öffentliche Aufmerksamkeit erfuhr: Das Humangenomprojekt (HGP, engl. Human Genome Project). } Siehe Kapitel 28 In mühseliger Kleinarbeit wurde das Genom (die Erbsubstanz) mehrerer Personen untersucht und miteinander verglichen, um herauszubekommen, welche Gene „Max Mustermann“ hat und an welchen „Genorten“ sie liegen. Da unser Organismus mehr als 100.000 Proteine benötigt, gingen die Forscher davon aus, mindestens 100.000 Gene zu finden. Die Medizin war sich sicher, mit diesem Wissen gezielt Gene zu verändern und damit ein wirksames Werkzeug für die Behandlung unzähliger Krankheiten zu erhalten. Doch mit jeder Presseerklärung schrumpfte die Anzahl der tatsächlich gefundenen Gene. Heute wissen wir:
Nur auf etwa 1 % der DNA befindet sich die Information zur Synthese von Proteinen. Diese Abschnitte werden proteincodierende Gene genannt. Menschen haben (je nach Quelle) nur ca. 21.000 bis 25.000 proteincodierende Gene. Bei den meisten weiß man nicht, welche Aufgaben sie haben. Ein wissenschaftliches Dilemma – wie können so wenige Gene unseren hochkomplexen menschlichen Organismus lenken? Bei der Umsetzung der Genom-Forschung in die Anwendung wurde immer klarer: Das Genom allein kann die Frage nach den Hauptursachen von Krankheiten nicht beantworten.
Die einfache Rechnung „Gen A macht Krankheit B“ geht nicht auf. Mittlerweile ist gut belegt, dass die Genetik nur etwa 10 % zur Krankheitsentstehung beiträgt. Nun treten zwei junge Wissenschaftsrichtungen auf den Plan, die das nahezu unüberschaubare Wechselspiel der Gene mit Umgebungsfaktoren erforschen: Die Exposom-Forschung und die Epigenetik. |
Die Epigenetik wird in Kapitel 28.2 vorgestellt: Wir wissen heute, dass Umweltfaktoren nicht nur zu bleibenden genetischen Veränderungen (Mutationen) in der Erbsubstanz führen können, sondern auch langfristige, z.T. generationenübergreifende Auswirkungen auf die Genexpression durch epigenetische Mechanismen haben: Es ist von zentraler Bedeutung, ob Gene „angeschaltet“ oder „stillgelegt“ werden.
Die Exposom-Forschung
Dr. Christopher P. Wild war bis 2019 Direktor der Internationalen Agentur für Krebsforschung der Weltgesundheitsorganisation/IARC. Als Krebsspezialist war ihm bewusst, dass Lebensgewohnheiten wie Ernährung, Rauchen, Alkoholgenuss und Bewegung direkten Einfluss auf die von unserem Genom kodierten Stoffwechselaktivitäten nehmen. Während das Genom entschlüsselt werden konnte, werden die Expositionen, denen jeder Mensch lebenslang – von der Empfängnis bis zum Tod – ausgesetzt ist, bis heute nur in sehr geringem Umfang systematisch erforscht und katalogisiert. Dr. Wild schlug 2005 in einem wissenschaftlichen Artikel 3.2.3/1 Wild als übergeordneten Sammelbegriff für alle nicht-genetischen Faktoren die Bezeichnung „Exposom“ (engl. Exposome) vor, die sich aus den englischen Wörtern „exposure“ und „genome“ zusammensetzt. Im englischsprachigen Bereich wird der neue Forschungszweig als „Exposomics“ bezeichnet.
Das ExposomDas Exposom kann definiert werden als die Gesamtheit aller Umwelteinflüsse und die damit verbundenen biologischen Reaktionen. Die Exposom-Forschung untersucht, wie verschiedenartige Expositionen und die individuellen Reaktionen darauf mit der Entstehung von Krankheiten zusammenhängen. |
Dr. Wild gliederte die „nicht-genetischen“ Expositionen in drei Kategorien, die ineinander verflochten sind:
1 Körpereigene Prozesse wie Stoffwechsel, endogen zirkulierende Hormone, die Körpermorphologie, körperliche Aktivität, das Darmmikrobiom, Entzündungen, Lipid-Peroxidationen, oxidativer Stress und Alterung. Diese internen Bedingungen wirken sich alle auf die zelluläre Umgebung aus. In der Literatur werden sie als Wirts- oder endogene Faktoren beschrieben.
2 Spezifische externe Expositionen wie Strahlung, Infektionserreger, chemische Kontaminanten und Umweltschadstoffe, Ernährung, Lebensstilfaktoren (z. B. Tabak, Alkohol), Beruf und medizinische Interventionen. Diese umweltbedingten Risikofaktoren sind die Schwerpunkte epidemiologischer Studien in Bezug auf Nichtübertragbare Krankheiten wie z. B. Krebs.
3 Allgemeine externe/soziale Determinanten der Gesundheit: Soziale, wirtschaftliche und psychologische Einflüsse auf das Individuum, wie z. B.: Gesellschaftliches Kapitalvolumen, Bildung, finanzieller Status, psychischer und mentaler Stress, Stadt-Land-Umwelt und Klima.
Viele Expositionsfaktoren bleiben verborgen, für andere gibt es noch keine spezifischen Nachweis-Methoden. Manche Faktoren, z. B. lösliche Chemikalien, sind flüchtig oder werden rasch wieder ausgeschieden. Zudem wirken sich umweltbedingte Expositionen bei jedem Menschen u.a. aufgrund der unterschiedlichen genetischen Faktoren unterschiedlich aus. Einige Menschen werden krank, während andere mit derselben oder gar einer höheren Exposition nicht erkranken.
Paradigmenwechsel: Vom Genom zum Exposom
Das European Human Exposome Network (siehe unten) vertritt die Sichtweise, dass ein grundlegender Wandel in der Auffassung von Gesundheit notwendig sei und setzt sich für einen Wechsel vom klassischen biomedizinischen Modell „eine Exposition, eine Krankheit“ hin zu einem umfassenderen Ansatz ein. Die Einbeziehung des Exposom erlaubt einen erweiterten Blick auf die Krankheitsentstehung und ermöglicht u.a. wirksame Präventionsmaßnahmen und -konzepte für die Zukunft.
Ein ehrgeiziges Unterfangen
Vor einigen Jahren hätte man das Unterfangen, das gesamte Exposom eines Menschen zu kartieren, noch als Science fiction abgetan. Doch derzeit werden, in Analogie zu den Genomweiten Assoziationsstudien/GWAS, die heute kostengünstige und schnelle Analysen des gesamten Genoms ermöglichen, Expositionsweite Assoziationsstudien/EWAS entwickelt, um zukünftig die Gesamtheit des lebenslangen Exposom zu analysieren.
Hochdurchsatz-Technologien
In der Anfangsphase des Humangenomprojekts } Siehe Kapitel 28 arbeiteten Wissenschaftler 13 Jahre lang an der Sequenzierung des ersten Genoms – die Gesamtkosten beliefen sich auf mehr als drei Milliarden Euro. Heute kann die schnellste derzeit verfügbare Maschine 60 Genome an einem Tag sequenzieren – bei überschaubaren Kosten.
Möglich wird diese Forschung durch Hochdurchsatz-Analysen mit Verfahren, die automatisiert biologische Proben untersuchen. Nicht nur die Gene, auch Proteine und die Stoffwechselprodukte können heute in einer Probe erfasst werden. Dazu gehören z. B. Antikörperbildung, Addukte, genetische Mutationen, epigenetische Veränderungen oder toxikogenomische Wirkungen. So entstehen riesige Datenmengen, die nur mit Großrechnern ausgewertet und bewältigt werden können. Forscher versuchen innerhalb dieser Datenmengen aussagekräftige Schlüsselmoleküle/Signaturen herauszufiltern. Im Rahmen eines Programms zur Expositionsbiologie wird von der US-amerikanischen National Institute for Environmental Sciences/NIEHS die Entwicklung neuer Instrumente zur Expositionsbewertung gefördert.
Mit Hilfe dieser neuen Technologien, werden Zusammenhänge mit den Umgebungsfaktoren erkennbar, die bislang verborgen waren. |
Die Analysen sind teuer und werden derzeit fast ausschließlich für Forschungszwecke eingesetzt. Doch es ist zu beobachten, dass die Kosten für diese Verfahren weltweit sinken, je mehr sie eingesetzt werden.
Unsere individuelle „Wolke“
„Menschen haben Dinge wie Luftverschmutzung gemessen, aber niemand hat wirklich die biologische und chemische Aussetzung auf persönlicher Ebene gemessen. Niemand weiß wirklich, wie groß das menschliche Exposom ist und was sich darin befindet.“ 3.2.3/2 Rötzer
Das Zitat stammt von dem Genetiker Michael Snyder von der Stanford University School of Medicine in Kalifornien, USA, der mit seinem Team mit Hilfe eines Gerätes, das Partikel aus der Luft filterte, die jeweiligen örtlichen Umgebungsfaktoren untersuchte. Die Forscher konnten anhand des Filtersubstrates je nach Region, Wetter, Jahreszeit und den Eigenheiten des jeweiligen Haushalts Unterschiede feststellen. Sie fanden Spuren von Staub-, Haut- und Spinnmilben, von Mücken, Fliegen, Bienen und Kakerlaken – und von Viren, die über Haustiere übertragen wurden. In nahezu jeder Probe fanden die Forscher Partikel des Insektenabwehrmittels DEET, das Pestizid Omethoat und krebserregend wirkende Stoffe wie Diethylenglycol.
„Wir haben alle unsere eigene Mikrobiom-Wolke, die wir mit uns herumschleppen und verteilen. [...] Insgesamt lassen unsere Ergebnisse annehmen, dass wir ständig Tausenden Chemikalien ausgesetzt sind, oft an bestimmten Orten“ 3.2.3/3 Rötzer
so der Studienleiter Michael Snyder. Langfristig wird die Exposom-Forschung Aussagen zur Umgebungsqualität in verschiedenen Lebensräumen, bzw. auch Innenräumen möglich machen.
Viren im ExposomDie Münchner Epidemiologin Annette Peters wies darauf hin, dass die Untersuchung des Exposom auf Viren frühzeitig Hinweise auf Erkältungswellen liefern könnte. Diese Aussage bekommt in diesen Zeiten der COVID-19-Pandemie besonderes Gewicht. |
Das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung
Das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung GmbH – UFZ in Leipzig ist eines der weltweit führenden Forschungszentren im Bereich der Umweltforschung. Der Forschungsschwerpunkt IP Exposome (IP = Integriertes Projekt) betreibt interdisziplinäre Forschung zu molekularen Mechanismen der Toxizität. Der Schwerpunkt liegt derzeit zunächst auf der Erforschung der Wirkung von Chemikalien auf biologische Regelkreise in Organismen.
„Wenn wir verstehen, wie Umweltfaktoren einschließlich Schadstoffen das innere chemische Milieu von Organismen – das EXPOSOM – beeinflussen und wissen, welche Rolle diese Prozesse bei der Entstehung von aquatischer Toxizität und chronischen Erkrankungen spielen, können wir unerwünschte Wirkungen für Umwelt und Mensch besser vorhersagen und Präventionsstrategien ableiten.“ 3.2.3/4 UFZ
EU-geförderte Exposom Forschung
Während die Genom-Forschung schon seit Ende des Human-Genom-Projektes 2003 weltweit etabliert wurde, entstehen jetzt auch gleichrangige Exposom-Forschungszentren. 2020 wurde das European Human Exposome Network gestartet. Dies ist das weltweit größte Netzwerk von Projekten, die die Auswirkungen von Umweltexpositionen auf die menschliche Gesundheit untersuchen.
Das europäische Netzwerk vereint 24 Nationen und neun Forschungsprojekte, die bis 2027 mit über 100 Millionen Euro aus Horizon 2020, dem Rahmenprogramm der EU für Forschung und Innovation, gefördert werden. |
Aus der Webseite:
„Die Ergebnisse der Projekte werden dazu beitragen, das Ziel des Europäischen Green Deals voranzutreiben, die Gesundheit und das Wohlbefinden der Bürger vor Umweltverschmutzung und Umweltverschlechterung zu schützen, indem sie neue Erkenntnisse für bessere Präventionsmaßnahmen liefern.“ [Ü.d.A.] 3.2.3/5 Humanexposome
EU-Rahmenprogramme für Forschung und Innovation
Neben dem European Human Exposome Network initierte die EU im Rahmen der Umwelt- und Gesundheitsforschung weitere Projekte. 3.2.3/6 EU Diese Vorhaben sollen den Europäischen Green Deal unterstützen.
Die Europäische Initiative zur Überwachung des menschlichen Biomonitorings. / The European Human Biomonitoring Initiative (HBM4EU) } Siehe Kapitel 3.2.6
EURION: Die europäischen Cluster zur Verbesserung der Identifizierung von endokrinen Disruptoren. /EURION: The European Cluster to Improve Identification of Endocrine Disruptors.
Städtische Gesundheit /Urban Health.
Exposition gegenüber Kunststoffen und Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit /Exposure to plastics and effects on human health.
3.2.4 Exposomforschung und Kausalität
Wir beginnen gerade erst durch Screenings zu analysieren, wie es um das lokale und globale Exposom bestellt ist. Wissenschaftler beschreiben die Qualität und Quantität der vorgefundenen Umweltfaktoren, z. B. werden Schadstoffmessungen an Straßen durchgeführt. Untersuchungen der Anwohner auf Asthma ergeben möglicherweise Korrelationen mit einem erhöhten Vorkommen von Asthmatikern an vielbefahrenen Straßen.
Korrelationen sind hinweisend – aber nicht beweisend. In den meisten Fällen bleibt die Frage offen, ob es sich dabei um echte kausale Beziehungen oder um zufällige Zusammenhänge handelt, die durch andere Faktoren erklärbar sind.Zunehmend erfahren wir, dass Schulen schadstoffbelastet sind, dass wir Pestizide einatmen, weil sie kilometerweit verweht werden können, dass wir täglich Mikroplastik-Partikel aufnehmen – aber wir haben derzeit nur eine sehr unklare Vorstellung davon, was diese Faktoren in Mensch, Tier und Pflanzen ursächlich bewirken. |
Von der Korrelation zum Kausalzusammenhang
Ein Review eines schwedisch-finnländischen Autorenteams, der im Oktober 2020 veröffentlicht wurde, beschreibt die Verknüpfung zwischen chemischer Exposition, intermediären Veränderungen im Stoffwechsel und Auswirkungen auf das Immunsystem. Das Team stellt fest:
„Es gibt starke Hinweise darauf, dass chemische Expositionen deutliche Auswirkungen auf das Metabolom haben und mit spezifischen Krankheitsrisiken in Verbindung stehen.“ [Ü.d.A.] Als Metabolom wird die Gesamtheit aller Stoffwechselprodukte bezeichnet, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem Organismus nachzuweisen sind“.
Dieser Review ist damit eine der ersten Übersichtsarbeiten, die anhand einer großen Anzahl von Studien nicht nur Korrelationen beschreibt, sondern auch kausale Beziehungen zwischen Expositionen und gesundheitlichen Beeinträchtigungen darstellt. |
„Diese Herausforderung wird wahrscheinlich mit zunehmender analytischer Abdeckung des chemischen Exposoms und Metaboloms und mit der Einbeziehung anderer Daten, wie z. B. des Darmmikrobioms, noch größer werden. Der Nachweis der Kausalität ist entscheidend, wenn man die Sicherheit bestimmter Chemikalien oder bestimmter Präventionsmaßnahmen in Betracht ziehen will.
Die Eliminierung unerwünschter Assoziationen […], die Identifizierung wichtiger toxischer Einflussfaktoren […] und die Weiterverfolgung mit gezielten Expositionsstudien in relevanten experimentellen Modellen sind wahrscheinlich die wichtigsten Forschungsstrategien, die geeignet sind, die Herausforderung der Datenzusammenführung und des Kausalitätsnachweises in der Exposomforschung zu bewältigen.
Angesichts der vitalen Forschung auf dem Gebiet der Exposome ist es wahrscheinlich, dass die Zukunft viele innovative Lösungen bringen wird, um die oben genannten Herausforderungen anzugehen. Solche Fortschritte werden das Potenzial haben, neue Untersuchungsbereiche im Zusammenhang mit der Untersuchung der Auswirkungen realer chemischer Expositionen auf die menschliche Gesundheit und für eine genauere Bewertung der Chemikaliensicherheit zu eröffnen sowie unsere derzeitigen Ansichten über die Entstehung und Pathogenese vieler verbreiteter Krankheiten zu hinterfragen.“ [Ü.d. A., Quellenangaben im Originaltext] 3.2.4/1 Orešič et al.
Toxikologie des 21. Jahrhunderts
Mit dieser „Toxikologie des 21. Jahrhunderts“ können sogenannte Toxizitätspfade aufgespürt werden. Die neuen Technologien erlauben differenzierte Chemikalienbewertungen und Prüfverfahren ohne Tierversuche.
„Die Kopplung chromatographischer Analysen mit modernen massenspektrometrischen Verfahren erlaubt den Nachweis immer geringerer Substanzmengen, während „Omics“-Ansätze, komplexe Zellkultursysteme und Stammzellen die Grundlagen geschaffen haben, toxikologische Effekte in einer bisher nicht zugänglichen molekularen Tiefe, auch über Speziesgrenzen hinweg, zu adressieren. Zudem sind viele dieser Methoden hochdurchsatztauglich. Dies ermöglicht die Testung einer Vielzahl von Substanzen in verhältnismäßig kurzer Zeit und schafft somit auch Zugang zu neuen Fragestellungen wie z. B. Mischungstoxizitäten, endokrinen Effekten, möglichen Niedrigdosiseffekten und im Bereich der Nanotoxikologie.“ 3.2.4/2 Tralau
Wir werden in TEIL 7 sehen, dass insbesondere die Bewertung von Mischungstoxizitäten und Niedrigdosiseffekten weitreichende gutachterliche Folgen für umweltbedingt Erkrankte haben.
Jeder Nachweis einer Kausalität bedeutet einen Meilenstein für die Anerkennung und Versorgungsqualität umweltbedingter Erkrankungen. |
Erweiterung des Symptomforschungsmodells
2020 wurde eine bemerkenswerte US-amerikanische Studie veröffentlich, die darauf abzielt, das Symptomforschungs-Modell der National Institutes of Health um umweltbedingte Gesundheitskonzepte zu erweitern. Das Autorenteam beschreibt Umweltfaktoren als Schlüsseldeterminanten für die Gesundheit und informiert über konkrete Maßnahmen zu Kapazitätsaufbau/Infrastruktur, Methoden/Effekte, translationale/klinische Forschung und Grundlagen-/mechanistische Forschung. 3.2.4/3 Castner et al.
3.2.5 Umweltbedingte Krankheitslasten
Die kollektive, multifaktorielle Grundbelastung
Die Datenlage zu umweltbedingten Krankheitslasten ist lückenhaft, obwohl Umweltfaktoren, bzw. -Schadstoffe in allen Bevölkerungsgruppen eine Rolle spielen, an allen Orten auftreten – Indoor und Outdoor, urban und ländlich – und wir diesen Substanzen Tag und Nacht ausgesetzt sind.
Inzwischen dürfte es in Deutschland kaum noch Menschen geben, in deren Organismus keine Mikroplastikpartikel, keine Schwermetalle oder synthetische hormonaktive Substanzen nachweisbar sind. Das betrifft auch vulnerable Gruppen wie Kinder, Schwangere oder Ältere. |
Für manche Materialgruppen, z. B. Feinstaub ist nachgewiesen, dass sie zu vorzeitigem Versterben führen oder zur Entstehung von Krankheiten beitragen. In der Standard-Diagnostik spielt die Untersuchung auf Schadstoffe dennoch keine Rolle.
Umweltschadstoffe und Multisystemische Erkrankungen
Aus Sicht der Systemischen Epimedizin können Umweltschadstoffe die Suszeptibilität erhöhen, Betroffene reagieren in der Folge empfindlicher auf Risikofaktoren, wie z. B. eine virale Infektion. Entwickelt sich z. B. eine postvirale ME/CFS-Erkrankung, bleibt eine potenziell vorausgegangene Schwächung durch Umweltschadstoffe üblicherweise unentdeckt. Ohne die Schadstoffbelastung hätte der Organismus jedoch möglicherweise über die notwendige Immunkompetenz verfügt, die Virenlast zu bewältigen.
Schadstoffe können also direkt oder indirekt ein Puzzleteil sein, das zur Entstehung einer multisystemischen Erkrankung beiträgt.
Bei ungünstiger genetischer Disposition der Entgiftungsenzyme kann die oben beschriebene kollektive Grundlast an Schadstoffen bei Individuen toxischer wirken, als wenn die Entgiftung voll funktionsfähig ist. Das kann z. B. ein wichtiges Puzzleteil bei der multifaktoriellen Entstehung der Multiplen Chemikalien-Sensitivität /MCS sein.
Die Wirkung von Umweltbelastungen wird zunehmend in Bezug auf die klassischen Zivilisations-Erkrankungen untersucht und als Gesundheits-Gefahr bestätigt.
Umweltbedingte Krankheitslasten
Umweltbedingte Todesfälle in Europa
„Ein Fünftel aller Todesfälle in der Europäischen Region, insbesondere infolge von Herz-Kreislauf-, Atemwegs- und Krebserkrankungen, ist auf Umwelteinflüsse wie Luftverschmutzung oder chemische und physikalische Agenzien zurückzuführen.“ 3.2.5/1 WHO
Dies ist dem Aktionsplan zur Prävention und Bekämpfung nichtübertragbarer Krankheiten in der Europäischen Region der WHO, 2016 zu entnehmen. Seit den 90er Jahren untersucht die Weltgesundheitsorganisation WHO, wie sich schädliche Umwelteinflüsse auf das Krankheitsgeschehen in verschiedenen Ländern auswirken. Dazu entwickelte die WHO in Zusammenarbeit mit anderen Institutionen das Konzept der „Umweltbedingten Krankheitslasten“ (engl. Environmental Burden of Disease, kurz: EBD). Im Rahmen von EBD-Studien werden Umwelt- und Gesundheitsdaten verknüpft und statistisch ausgewertet.
Eine 2014 veröffentlichte EBD-Studie untersuchte, wie sich neun verschiedene schädliche Umwelteinflüsse (Benzol, Dioxin einschließlich Furane und Dioxin-ähnliche PCBs, Passivrauchen, Formaldehyd, Blei, Lärm, Ozon, Feinstaub und Radon) auf die öffentliche Gesundheit in sechs Ländern (Belgien, Finnland, Frankreich, Deutschland, Italien und die Niederlande) auswirken.
Diese neun schädlichen Umwelteinflüsse waren für 3 % bis 7 % der jährlichen Krankheitslast in den sechs europäischen Ländern verantwortlich. 3.2.5/2 Hanninen et al. |
Am 14.04.2016 gab das Umweltbundesamt bekannt:
„Nach Berechnungen des Umweltbundesamtes können in Deutschland jährlich im Durchschnitt ca. 40.000 vorzeitige Todesfälle aufgrund akuter Atemwegserkrankungen, kardiopulmonaler Erkrankungen und Lungenkrebs auf die Feinstaubbelastung der Bevölkerung zurückgeführt werden. Dies entspricht einem Verlust von acht Lebensjahren pro 1.000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Im Rahmen weiterer Studien werden derzeit EBD-Analysen für die Umwelteinflüsse Feinstaub, Ozon und Benzol in der Atemluft, Lärm, Tabakrauch in der Raumluft sowie Cadmium durchgeführt.“ 3.2.5/3 UBA
Feinstaub und Diabetes
„Feinstaub kann offenbar den Stoffwechsel aus dem Gleichgewicht bringen, er kann den Appetit erhöhen, zu Fettleibigkeit führen und das blutzuckersenkende Hormon Insulin unwirksam werden lassen. ,Es gibt weltweit mehr und mehr Daten, die den Zusammenhang erhärten‘, sagt Gerad Hoek, Umweltepidemiologe an der Universität Utrecht. Auch die führende deutsche Feinstaubforscherin Annette Peters am Helmholtz Zentrum München bekräftigt: ,Es sieht ganz danach aus, dass insbesondere Feinstaub und verkehrsbedingte Schadstoffe Diabetes begünstigen können.‘“ 3.2.5/4 Welt.de
Macht die Luft in der Großstadt tatsächlich dick? war der Artikel von Susanne Donner auf Welt.de überschrieben, dem dieses Zitat entnommen wurde.
Aus Sicht der Systemischen Epimedizin gibt es keine rationale Begründung, warum einerseits zunehmend wissenschaftlich anerkannt wird, dass Umweltschadstoffe bei Krebs- und bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder bei Diabetes mellitus als Teil eines multifaktoriellen pathologischen Geschehens eine wichtige Rolle spielen – diese Anerkennung aber andererseits als Teil der Gemengelage für die Krankheitsentstehung der EmKE meist in Frage gestellt wird.
3.2.6 Die Europäische Initiative für Humanes Biomonitoring/HBM4EU
European Human Biomonitoring Initiative/HBM4EU ist ein auf fünf Jahre angelegtes europäisches Forschungsprojekt, das vom deutschen Umweltbundesamt koordiniert wird. Es ist 2017 gestartet und wird bis Ende 2021 laufen. Um die Datenlage zum Human-Biomonitoring in den Mitgliedstaaten der EU zu erfassen und die gesundheitlichen Folgen der Schadstoffbelastung besser zu verstehen fördert die EU-Kommission das Projekt mit über 74 Millionen Euro im Rahmen des Förderprogramms Horizon 2020. Ziel ist es, ein EU-weites Exzellenzzentrum für Forschung und Innovation zu schaffen und die europäischen Kapazitäten für die Risikobewertung von Chemikalien zu stärken. Das Umweltbundesamt informiert:
„Auf europäischer Ebene fehlen harmonisierte Informationen über die Schadstoffbelastung von Bürgern durch Umweltchemikalien und deren Zusammenwirken mit anderen gleichzeitig auftretenden Umweltbelastungen sowie den Auswirkungen auf die Gesundheit. Dies erschwert eine zuverlässige Risikobewertung und -steuerung von Umweltchemikalien. Jeder von uns ist im Alltag einem komplexen Mix von Chemikalien ausgesetzt – durch Umwelteinflüsse, Produkte, Kosmetika, Lebensmittel, Trinkwasser und am Arbeitsplatz. Für viele Umweltchemikalien sind die gesundheitlichen Auswirkungen, die mit einer lebenslangen Exposition einhergehen, unbekannt. Zudem ist das Wissen über gesundheitliche Auswirkungen von Chemikalienmixturen begrenzt.“ 3.2.6/1 UBA
Mit Hilfe von Human-Biomonitoring werden die Belastung der Menschen in Europa durch Schadstoffe untersucht und deren Auswirkungen auf die Gesundheit erforscht, um die politische Entscheidungsfindung zu unterstützen. Unter anderem sollen Referenzwerte für die Belastung der Bevölkerung erarbeitet werden. Gemessen werden Umweltchemikalien, deren Stoffwechselprodukte und Wirkungs-Marker in Blut und Urin. Ziel ist die Verbesserung der Risikobewertung von Chemikalien. Die HBM4EU-Partner arbeiten mit politischen Entscheidungsträgern zusammen, um z. B. Maßnahmen zur Risikominderung zu entwickeln und bestehende Regulierungen und Richtlinien zu prüfen. 30 Partnerländer sind an dem Projekt beteiligt. 3.2.6/2 HBM4EU Für erste Substanzen liegen bereits wissenschaftliche Monografien vor. Fact-sheets mit Informationen für die Bevölkerung werden derzeit vorbereitet. 3.2.6/3 HBM4EU
Was ist Human-Biomonitoring?
Messung der Konzentration von Schadstoffen bzw. deren Stoffwechselprodukte in humanbiologischem Material (Blut, Serum, Muttermilch, Harn, Haare, Zähne, Ausatmungsluft, Sektionsmaterial etc.). Die Bewertung der Messergebnisse geschieht auf Basis von Referenzwerten sowie umweltmedizinisch-toxikologisch abgeleiteten, so genannten Human-Biomonitoring-Werten (HBM-Werte).
Was ist Effektmonitoring?
Messung von biologischen Parametern, die auf Belastungen durch chemische, physikalische oder biologische Faktoren reagieren bzw. deren Wirkungen anzeigen (Wirkungsparameter). Die Bewertung der Messergebnisse geschieht anhand von Referenzwertvergleichen bzw. vergleichbarer Untersuchungen an einem Kontrollkollektiv.
Europaweit Chemikalien im Blut
Der World-Wide-Fund WWF und The Co-operative Bank nahmen im Dezember 2003 47 Personen aus ganz Europa, darunter 39 Mitgliedern des Europäischen Parlaments, Blut ab und analysierten es auf beachtliche 101 Chemikalien aus fünf Gruppen: Chlororganische Pestizide einschließlich DDT, PCBs, bromierte Flammschutzmittel, Phthalate und perfluorierte Verbindungen. Insgesamt wurden 76 verschiedene der 101 untersuchten Chemikalien im Blut der Probanden gefunden.
„Die Ergebnisse zeigen weiter, dass die höchste Anzahl von Chemikalien in einer Person 54 betrug, während der Medianwert der gefundenen Chemikalien bei 41 lag. Mindestens 13 der gleichen Chemikalien wurden in jeder einzelnen getesteten Person gefunden, darunter Chemikalien, die in Europa vor mehr als 20 Jahren verboten wurden, aber auch Chemikalien, die heute weit verbreitet sind, wie Phthalate und perfluorierte Verbindungen.“ [Ü.d.A., Hervorhebung durch die Autorin] 3.2.6/4 Panda
3.3 Chemikalien, Schwermetalle, Feinstaub und Elektrosmog
Von was sprechen wir beim Thema Umweltschadstoffe? In diesem Unterkapitel werden exemplarisch einige Umweltschadstoffe beschrieben, ihre (toxischen) Eigenschaften, ihr Aufkommen und ihre Wirkung auf unsere Gesundheit. Die vorgestellten Schadstoffe sind Teil der alltäglichen kollektiven Grundbelastung in der Bevölkerung.
3.3.1 Chemikalien und Kunststoffe
Synthetische Substanzen
1907 wurde „Bakelit“ erfunden, das war der erste Kunststoff, der keine in der Natur bekannten Moleküle enthielt, also vollständig synthetisch hergestellt wurde. Synthetische Kunststoffe bestehen aus Erdöl, das aufbereitet wird. Nach dem zweiten Weltkrieg begann mit der Erfindung von Polyvinylchlorid/PVC, das aus den Abfällen der chemischen Industrie hergestellt wurde, ein rasanter Anstieg der Produktion, der bis heute anhält.
Die Langzeit- und Kombinationswirkungen synthetischer Materialien werden nicht ansatzweise systematisch untersucht. Das Design solcher Studien würde dem Lottospiel gleichen, allerdings nicht mit 49 Komponenten, sondern mit Millionen. Das ist unüberschaubar. Dennoch befinden sich Chemikalien heute in unseren Alltagsprodukten.
Der menschliche Organismus wird zum Versuchslabor der Langzeit- und Kombinationswirkungen. |
Der US-amerikanische Chemical Abstract Service/CAS gilt als klassische Referenzdatenbank für chemische Substanzen. Jeden Tag werden etwa 12.000 neue Substanzen in die CAS-Registry Datenbank aufgenommen. Derzeit sind insgesamt über 140 Millionen Substanzen registriert, darunter auch genbiologisch relevante Stoffe, wie DNA-Sequenzen und Eiweißstoffe.
Heute werden weltweit jedes Jahr ca. 500 Millionen Tonnen Chemikalien produziert.Chemikalien können krebserregend, erbgut- oder fortpflanzungsschädigend sein, hormonelle Ampeln von Rot auf Grün schalten, oder umgekehrt (fachsprachlich: endokrine Disruptoren), sie können persistierend (langlebig) sein und sich in der Umwelt ansammeln (bioakkumulativ). |
Abb. 3.3.1/1 Chemikalien: Schädlichkeit kaum untersucht
Prof. Dr. Martin von Bergen, Helmholtz-Institut München, im Erklär-Video: „Exposom“:
„Weltweit sind über 140 Millionen künstliche Chemikalien bekannt, nur 22.000 davon sind im Rahmen der europäischen Chemikalienzulassung REACH seit 2008 registriert worden. Schätzungsweise 70.000 Substanzen befinden sich im täglichen Gebrauch, darunter sind Gifte wie Pestizide und Herbizide, aber auch Stoffe wie Weichmacher, sogenannte Phtalate, die zur Verbesserung der Haptik von Gebrauchsgegenständen dienen.“ 3.3.1/1 (Abb.) Von Bergen
Zum Beispiel: Mikroplastik
Als Mikroplastik werden Plastikteilchen von mikrometrischer Größe bezeichnet. Zu finden sind die Teilchen überall: In den Ozeanen (ca. 70 Millionen Tonnen), im Boden und in der Luft, in Lebensmitteln, u.a. in Salz und in Fischen, selbst in der menschlichen Plazenta.
Charles Rolsky von der Arizona State University und Kollegen untersuchten 47 menschliche Gewebeproben auf Mikro- und Nanoplastik – sie wurden zu 100 Prozent fündig, wie sie auf der virtuellen Jahrestagung der American Chemical Society 2021 berichten.
Zuvor hatte Kieran Cox von der Universität in Victoria/Kanada mit seinem Team schon 2019 gezeigt, dass erwachsene Amerikaner durchschnittlich zwischen 39.000 und 52.000 Plastikpartikel jährlich mit der Nahrung aufnehmen, wobei die Anzahl auf 74.000 bis 121.000 Partikel pro Jahr anstieg, wenn die Aufnahme über die Atmung hinzugerechnet wurde. 3.3.1/1 Cox et al.
Die Gesundheitsgefahr potenziert sich durch die Tatsache, dass Nanoplastik eine extrem große spezifische Oberfläche hat, an der Giftstoffe oder Schwermetalle binden können und so in den Organismus gelangen. Studien mit Wildtieren zeigten bereits, dass Mikro- und Nanoplastik Krebs, Unfruchtbarkeit und Entzündungen auslösen können.
Zwei Physiker, Jean-Baptiste Fleury von der Universität des Saarlandes und Vladimir Baulin von der Universität Tarragona, haben nun eine sehr beunruhigende entzündliche Wirkung an Lipidmembranen nachgewiesen, die die letzte Schutzbarriere der Zellen gegenüber der Umwelt darstellen. Mikroplastik dehnt die Membrane der roten Blutkörperchen und reduziert dadurch signifikant deren mechanische Stabilität.
„Anscheinend entzündet sich die Membran der roten Blutkörperchen des Menschen spontan“ erklärt Jean-Baptiste Fleury. 3.3.1/2 Uni Saarland
Zum Beispiel: Pestizide
Als Pestizide werden chemische Stoffe bezeichnet, die Organismen (Tiere, Pilze, Pflanzen, Mikroorganismen) abtöten oder lebenswichtige Funktionen blockieren. Im Jahr 2016 waren 1.453 Pestizidprodukte in Deutschland zugelassen. Auf einem Hektar Ackerland werden jährlich durchschnittlich 2,5 Kilogramm Pestizide eingesetzt.
Man unterscheidet:
„Pflanzenschutzmittel“: Im Agrar-, Forst- und Gartenbereich werden sie in Form von Saatgutbeizung, Spritzung oder als Granulat eingesetzt. Dazu gehören: Herbizide („Unkraut“vernichtung) als quantitativ stärkste Gruppe, sowie Fungizide (gegen Pilzbefall), Insektizide (gegen Insekten) und Akarizide (gegen Spinnen).
Biozide: Substanzen und Produkte, die im nicht-agrarischen Bereich gegen Insekten, Mäuse oder Ratten, aber auch Algen, Pilze oder Bakterien eingesetzt werden.
Die Zulassung von Pestiziden wird vom Landwirtschaftsministerium koordiniert, das sich mit weiteren vier Behörden abstimmt. Das schwerfällige Verfahren führt zu erheblichen, teils jahrelangen Verzögerungen der Überprüfungen.
Pestizidbelastung durch Abdrift
Im September 2020 wurde eine Studie zur Pestizidbelastung durch Luftverfrachtung (fachsprachlich: Abdrift) veröffentlicht, die das Umweltinstitut München gemeinsam mit dem Bündnis für eine enkeltaugliche Landwirtschaft (dem 45 Bio-Unternehmen, die Bürgerinitiative Landwende und die Schweisfurth-Stiftung angehören) in Auftrag gegeben hatte. An 116 Standorten in ganz Deutschland wurde die Luft auf Pestizide untersucht, darunter auch Schutzgebiete. Gesammelt wurde in u.a. durch Passivsammler und mit Hilfe von Luftfiltermatten aus Passivhäusern. Das Umweltinstitut informierte:
In nahezu allen Proben wurden Rückstände von mehreren Pestiziden gefunden – egal, ob auf dem Land, in Schutzgebieten oder in der Stadt untersucht wurde. |
Insgesamt fanden sich in den verschiedenen Sammelmedien 124 unterschiedliche Pestizidwirkstoffe sowie 14 Abbauprodukte von Pestiziden.
Darunter waren auch fünf Substanzen, für die – nach Einschätzung der für die Bewertung von Pestiziden zuständigen Europäischen Lebensmittelsicherheitsbehörde EFSA – die Luftverfrachtung nicht zu erwarten war.
30 % der nachgewiesenen Pestizidwirkstoffe waren in Deutschland zum jeweiligen Messzeitpunkt nicht mehr (DDT, Lindan) oder noch nie zugelassen.
Die Studie und Informationen zum Thema finden Sie auf den Webseiten des Umweltinstituts München. 3.3.1/3 Umweltinstitut München
Und die Behörden?
Von staatlicher Seite gibt es – bei einer jährlichen Verwendung von mittlerweile jährlich durchschnittlich mehr als 30.000 Tonnen an Pestizid-Wirkstoffen – keine umfassenden behördlichen Untersuchungen zur Luftverfrachtung. Am 6. August 2020 – im Jahr 128 nach der Ausbringung des ersten synthetischen Pestizids Dinitrocresol im Jahr 1892 – informierte das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit BVL, dass ein Gutachten zur Darstellung und Erörterung der Verfrachtungsproblematik geplant sei. 3.3.1/4 BVL Vorgeschlagen wird ein bundesweites Monitoring zur Verfrachtung von Pflanzenschutzmittel-Wirkstoffen über die Luft. Am 28.08.2020 kam das BVL dem mehrfach geäußerten Wunsch nach einer Veröffentlichung der Machbarkeitsanalyse nach. 3.3.1/5 BVL
⇒ Weitere InformationenDie EU-Chemikalienverordnung REACH2007 trat die EU-Chemikalienverordnung REACH in Kraft. REACH steht für Registration, Evaluation, Authorisation and Restriction of Chemicals/Deutsch: Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe, die von der Europäischen Chemikalienagentur ECHA umgesetzt wird. Derzeit können in einem Zeitraum von fünf Jahren die Unterlagen von ca. 1.000 Chemikalien geprüft werden. Informationen z. B. vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit. 3.3.1/6 BMUEine „Kandidatenliste“ der als „besonders besorgniserregende Stoffe“/„Substances of Very High Concern/SVHC“ identifizierten Chemikalien kann bei der Europäischen Chemikalienagentur/ECHA eingesehen werden. Stand am 11.11.2020: 209 SVHC. 3.3.1/7 ECHAPestizidfreie KommuneDas Umweltbundesamt hat internationale Informationen und weiterführende Links zum Thema „pestizidfreie Kommune“ zusammengestellt. 3.3.1/8 UBASchadstoffe als Ursache oder Auslöser endokriner StörungenSchulte-Uebbing, C., Landenberger, M., Pfab, F., Antal, L.: Schadstoffe als Ursache oder Auslöser endokriner Störungen und chronischer Erkrankungen. Aminosäuren in der Prävention oder Therapie dieser durch Schadstoffe (mit) ausgelösten Erkrankungen. 3.3.1/9 Schulte-Uebbing et al. |
⇒ Tipps für VerbraucherUmweltinstitut MünchenDas Umweltinstitut München fordert ein europaweites Komplettverbot chemisch-synthetischer Pestizide. Sie können ein „Pestizid-Infopaket“ anfordern und sich über die Europäische Bürgerinitiative Bienen und Bauern retten informieren. 3.3.1/10 Umweltinstitut MünchenAsk REACH„Hersteller und Händler müssen Verbraucherinnen und Verbraucher auf Anfrage über „besonders besorgniserregende Stoffe“ in Produkten informieren. Die UBA-App Scan4Chem wurde im Rahmen des EU-LIFE-Projektes AskREACH mehrfach überarbeitet. Die neueste Version steht seit Oktober 2020 in Deutschland zum Download bereit. Die App ist mittlerweile in insgesamt 15 europäischen Ländern verfügbar.“ Zitat aus der Webseite. 3.3.1/11 UBABUNDDer Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland/BUND hat mit Unterstützung des Umweltbundesamts ein Internetportal entwickelt, auf dem man beim Anbieter eines Produktes nachhaken kann, ob gefährliche Chemikalien enthalten sind. Dort kann die Artikelnummer eines Produkts in ein Online-Formular eingegeben werden. Der entsprechende Hersteller wird dann automatisch ermittelt und eine Anfrage wird erstellt. Hersteller und Händler sind verpflichtet, Auskunft zu geben. 3.3.1/12 BUND Der BUND hat zur Vermeidung gefährlicher Chemikalien im Alltag zehn Tipps veröffentlicht. 3.3.1/13 BUNDThe ECOTOXicology Knowledgebase/ECOTOXECOTOX ist eine US-amerikanische öffentlich zugängliche Wissensdatenbank. Die ECOTOX-Datenbank enthält die über 30 Jahre archivierten Daten zu gemeldeten chemischen Auswirkungen auf ökologische Arten. 3.3.1/14 ECOTOX |
3.3.2 Schwermetalle
Schwermetalle gelangen hauptsächlich durch menschliche Aktivitäten in die Umwelt. Der natürliche Eintrag, z. B. durch Verwitterung oder durch Vulkane ist relativ gering.
Unter dem Begriff „Schwermetall“ werden im allgemeinen Sprachgebrauch schädigende Metalle verstanden, streng chemisch gesehen sind auch Leicht- oder Halbmetalle darunter. Metalle wie Zink, Selen, Magnesium, Kupfer, Mangan und Kobalt sind essenzielle Spurenelemente, d.h. wir sind darauf angewiesen, sie in kleinsten Mengen aufzunehmen. Viele Schwermetalle wirken jedoch toxisch, manche schädigen uns hormonell und/oder wirken neurotoxisch. Für elf Substanzen ist eine hirnschädigende Wirkung eindeutig belegt. Dazu gehören Blei, Mangan, Quecksilber, Fluor- und Chlorverbindungen, sowie mehrere Pestizide und Lösungsmittel. Für weitere 214 Substanzen gibt es starke Hinweise, dass sie neurotoxisch wirken. Davon wird mindestens die Hälfte in großen Mengen produziert. Ob und wie diese Faktoren unser Erbgut verändern, wissen wir nicht. Die Hinweise mehren sich, dass Umweltfaktoren bei manchen Genen eine zunehmende Methylierung nach sich ziehen und so die Aktivitäten dieser Gene drosseln.
Schwermetalle schädigen uns doppelt: sie sind hochgiftig und sie entziehen uns lebenswichtige Mikronährstoffe. Der Einfluss von Schwermetallen wird unterschätzt, weil er, außer bei akuten Vergiftungen, nicht unmittelbar wahrgenommen werden kann.Schwermetalle können, einmal in das Körperinnere gelangt, über Jahrzehnte gespeichert werden. Sie reichern sich lebenslang vor allem in Fettzellen an und sind durch die üblichen Urin- oder Serumblut- Untersuchungen kaum nachweisbar. |
Ein makabres Detail am Rande: Krematorien müssen mit Spezialfiltern ausgestattet werden, weil die Toten schadstoffbelastet sind. Das hochtoxische Gemisch aus Schwermetallen, Dioxinen, Quecksilber und (Chemo-)Medikamenten, das sich am Ende eines Lebens im Körper angehäuft hat und bei der Verbrennung des Leichnams übrigbleibt, muss in Salzstöcken endgelagert werden.
Zum Beispiel: Blei
Exemplarisch für die Toxizität von Schwermetallen wird hier Blei beschrieben. Die organische Bleiverbindung Tetraethylblei wurde bis Ende der 1980er Jahre als Antiklopfmittel Benzin beigemischt und auch heute noch wird das Weichmetall Blei aus vielen Quellen in die Umwelt entlassen. Die Umweltprobenbank des Bundes fasst zusammen:
„Für viele Bleiverbindungen gelten folgende umweltrelevante Merkmale:
Toxisch für Menschen
Toxisch für aquatische und terrestrische Organismen
Im Tierversuch kanzerogen, teratogen und reproduktionstoxisch
Eventuell endokrin wirksam
Bioakkumulationspotenzial: Blei wird von einigen aquatischen und terrestrischen Organismen und dem Menschen angereichert.“
Der Umweltgiftreport 2015 der Schweizer Stiftung Green Cross und der international tätigen Non-Profit-Organisation Pure Earth (New York) stufte Blei als das weltweit verheerendste Umweltgift ein. |
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft/DFG stuft Blei und seine anorganischen Verbindungen seit 2006 als krebserzeugend ein. Auch bei der Internationalen Agentur für Krebsforschung/IARC werden Blei und seine Verbindungen als möglicherweise/wahrscheinlich krebserregend eingestuft. In hohen Konzentrationen sind Bleivergiftungen tödlich. Blei und seine Verbindungen sind lungengängig, es wird jedoch vor allem über die Ernährung aufgenommen. Anders als z. B. Zink erfüllt Blei (wie auch Aluminium) keine Funktion im menschlichen Organismus.
Gesundheitliche Auswirkungen von Blei sind:
Störung der Biosynthese von Hämoglobin, Anämie, Blutdruckanstieg, Nierenschäden, Fehl- und Frühgeburten, Schäden des Nervensystems, Hirnschäden, verminderte Fruchtbarkeit bei Männern durch Schädigung der Spermien.
Bei chronischer Einwirkung üben selbst geringe Dosen eine schädigende Wirkung auf das Nerven- und Blutbildungssystem sowie auf die Nieren aus. Blei gelangt über die Plazenta in den Fötus und kann massive Schäden im Nervensystem und im Gehirn des Ungeborenen verursachen. Bei Kindern sind Intelligenzdefizite und psychomotorische Störungen bei einem Bleigehalt im Blut von 100 bis 300 Mikrogramm pro Liter bekannt. Von verminderter Lernfähigkeit und von Aggressionen, impulsivem Verhalten und Hyperaktivität durch Bleibelastungen wird berichtet.
3.3.3 Luftschadstoffe/Feinstaub
Gemäß der Definition des Vereins Deutscher Ingenieure ist ein Luftschadstoff
„eine Beimengung der Luft, die sowohl die menschliche Gesundheit als auch die Biosphäre gefährden kann. Die Herkunft eines Luftschadstoffes kann sowohl natürlich (z. B. Schwefeldioxid, SO2, aus Vulkanen) als auch anthropogen (vom Menschen verursacht) bedingt sein.“ 3.3.3/1 VDI
Zu den wichtigsten vom Menschen verursachten Schadstoffen in der Luft zählen: Stickoxide (NOx), Kohlenstoffdioxide (CO2), Feinstaub und Rauch.
Zum Beispiel: Feinstaub
Feinstaub besteht aus Partikeln mit einem Durchmesser von maximal 100 Nanometern. Zum Vergleich: Ein menschliches Haar ist 100.000 bis 200.000 Nanometer dick. Das Bundesumweltamt/UBA informiert:
„Feinstaub ist ein Teil des Schwebstaubs. Als Schwebstaub oder englisch „Particulate Matter“ (PM) bezeichnet man Teilchen in der Luft, die nicht sofort zu Boden sinken, sondern eine gewisse Zeit in der Atmosphäre verweilen. Je nach Korngröße der Staubpartikel wird der Schwebstaub in verschiedene Fraktionen unterteilt. […] Die kleinsten von ihnen, mit einem aerodynamischen Durchmesser von weniger als 0,1 Mikrometer (das sind 100 Milliardstel Meter), sind die ultrafeinen Partikel. Feinstaub ist mit bloßem Auge nicht wahrzunehmen. Lediglich während bestimmter Wetterlagen kann man Feinstaub in Form einer „Dunstglocke“ sehen.“ 3.3.3/2 UBA
Weiter informiert das UBA, dass der Feinstaub in der Außenluft sowohl global als auch in Deutschland der Risikofaktor sei, dem nach heutigem Kenntnisstand die höchste Krankheitslast zugeschrieben werden könne.
„Bereits vorhandene Berechnungen des Umweltbundesamtes zeigen zum Beispiel für das Jahr 2015 eine Krankheitslast von circa 41.500 attributablen Todesfällen und etwa 406.500 verlorenen Lebensjahren.“ 3.3.3/3 UMID
Europäische Grenzwerte oder WHO-Richtwerte?
2013 wurde eine Studie internationaler Autoren (Frankreich, Italien, Irland, Schweden, Österreich, Spanien) zu gesundheitlichen Auswirkungen der städtischen Luftverschmutzung in Europa veröffentlicht. In den 25 untersuchten Städten war die größte gesundheitliche Belastung auf die Auswirkungen der chronischen Belastung mit Feinstaub-PM 2,5 (PM = „Particulate Matter“) zurückzuführen.
Die Autoren errechneten, dass eine Absenkung des Feinstaub-PM 2,5-EU-Jahresmittelwertes auf 10 μg/m3 (das ist der WHO-Richtwert) bei der Hälfte der Städte die Lebenserwartung der damals 30jährigen Personen um durchschnittlich mehr als 6 Monate erhöhen würde, bzw. je nach Stadt bis zu 22 Monate. Das entspricht insgesamt 19.000 verzögerten Todesfällen. |
Der damit verbundene monetäre Gewinn würde sich auf etwa 31 Mrd. € jährlich belaufen, einschließlich Einsparungen bei den Gesundheitsausgaben, Fehlzeiten und immateriellen Kosten wie Wohlbefinden, Lebenserwartung und Lebensqualität. 3.3.3/4 Pascala et al.
Die Zahl der Menschen, die aufgrund der Feinstaubbelastung nicht versterben, sondern über Jahre- oder Jahrzehnte chronisch krank sind, übertrifft vermutlich mehrfach die Zahl der Verstorbenen. |
Im Vergleich: WHO-Richtwerte und EU-Grenzwerte
WHO | EU: Air Quality Directive | |
PM 2,5 Feinstaubpartikel (aerodynamischer Durchmesser kleiner als 2,5 μm) | 10 μg/m3 Jahresmittelwert.25 μg/m3 24-h-Maximum (max. 3 Überschreitungen) | 25 μg/m3 Jahresmittelwert |
PM 10 Feinstaubpartikel (aerodynamischer Durchmesser kleiner als 10 μm) | 20 μg/m3 Jahresmittelwert.50 μg/m3 Tagesmittelwert(max. 3 Überschreitungen) | 40 μg/m3 Jahresmittelwert50 μg/m3 Tagesmittelwert(max. 35 Überschreitungen) |
Durch das Abbrennen von Feuerwerkskörpern während der Silvesterfeiern entstehen ca. 15 Prozent der Menge an Feinstaub, die vom Verkehr und der Industrie während des gesamten Jahres ausgestoßen werden.
Das Positionspapier der DGP
Atmen: Luftschadstoffe und Gesundheit war das Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin e.V./DGP überschrieben, das im November 2018 veröffentlicht wurde. 3.3.3/5 DGP Experten vom Helmholtz Zentrum München, von der Charité – Universitätsmedizin Berlin, der Universität Bielefeld und der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf fassten, unter der Federführung des Helmholtz Zentrums München, den aktuellen Stand der epidemiologischen Studien zu den Gesundheitseffekten von Luftschadstoffen zusammen – unter Berücksichtigung der Evidenz } Siehe Kapitel 30.1 aus experimentellen bzw. kontrollierten Studien.
Das Dokument informiert über folgende Luftschadstoffe: Stickoxide (NOX, NO2), Ozon (O3), Feinstaub (unter besonderer Berücksichtigung der Größenfraktionen PM10 und PM2.5), Kohlenstoffmonoxid (CO) und Schwefeldioxid (SO2).
Anhand einer Vielzahl von Studien zeigen die Autoren, dass durch chronische Mikroentzündungen auf den Oberflächen, die sie durchlässiger machen für schädliche Umweltfaktoren, nicht nur die Lunge geschädigt wird – auch Herzinfarkt und Schlaganfall, Diabetes Typ-2 und Schwangerschafts-Diabetes, Demenz und weitere Erkrankungen gehen auf dieses Konto. Besonders betroffen sind vulnerable Gruppen: Ältere oder chronisch/multisystemisch erkrankte Menschen sowie kleine Kinder.
Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO ist Luftverschmutzung der wichtigste umweltbedingte Risikofaktor für Erkrankungen – und das, obwohl der Schadstoffausstoß in den letzten Jahrzehnten bereits stark gesenkt wurde. Die gesundheitlichen Auswirkungen sind jedoch nach wie vor hoch, so dass das Positionspapier sich vor allem mit der Fragestellung der Gesundheitsgefährdung bei geringerer Schadstoffbelastung befasste. Das Autorenteam betonte (auf Seite 9 des Dokuments):
„Negative Gesundheitseffekte treten auch unterhalb der derzeit in Deutschland gültigen europäischen Grenzwerte auf. Bisher konnte für die wissenschaftlich gut untersuchten Schadstoffe keine Wirkungsschwelle identifiziert werden, unterhalb derer die Gefährdung der Gesundheit ausgeschlossen ist.“
Die Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin forderte von der Politik, der Industrie und der Bevölkerung ein Umdenken und stellte vier Forderungen zu Maßnahmen zur Luftreinhaltung auf (auf Seite 7 des Dokumentes), von denen viele, so die Autoren, zu erheblichen Co-Benefits durch die gleichzeitige Reduktion von Klimagasen, Lärm, Landverbrauch und innerstädtischer Aufheizung führen würden. Der Schirmherr der Veranstaltung, bei der das Positionspapier vorgestellt wurde, Michael Hennrich (MdB), betonte in seiner Eröffnung die Bedeutung der DGP-Initiative für Deutschland und Europa:
„Umweltschadstoffe verursachten allein in Europa jährlich Kosten von 280 Milliarden Euro, 5,2 Millionen Lebensjahre gingen verloren. Gesunde Luft für alle sei ein zentrales Ziel. Hierfür gelte es, vom isolierten Betrachten einzelner Luftschadstoffe und Maßnahmen wegzukommen und stattdessen die Zusammenhänge in den Fokus zu nehmen.
Professor Klaus Rabe, Präsident der DGP, kritisierte die bislang eher schwache Lobby für Umweltmedizin und wies auf die vielfältigen gesundheitlichen Folgen von erhöhter Luftschadstoffbelastung hin. In der Diskussion käme zudem der Aspekt der Prävention bislang zu kurz.“ 3.3.3/6 Helmholtz
Pollen, Klima und Luftschadstoffe
Unter der Überschrift Klimawandel beeinflusst Pollenflugzeit verwies Prof. Traidl-Hoffmann, die Direktorin der Hochschulambulanz für Umweltmedizin am Universitätsklinikum Augsburg, in einem Interview auf weitere Zusammenhänge zwischen Umweltschadstoffen, Klimawandel und steigender Allergiehäufigkeit.
„Erstens beeinflusst der Klimawandel die Pollenflugzeit. Pollen wie die Hasel fliegen deshalb früher im Jahr, andere über einen längeren Zeitraum. Zweitens produzieren einige Pflanzenarten bei höherem CO2-Gehalt der Luft deutlich mehr Pollen. Und drittens steigern Umweltschadstoffe wie Ozon selbst die Allergenität der Pollen.“
Prof. Traidl-Hoffmann weist darauf hin, dass verschiedene Effekte sich gegenseitig verstärken.
„In mehreren Versuchen konnten wir zeigen, dass Umweltschadstoffe, wie Ozon, Feinstaub oder Stickoxide, den Pollen selbst verändern. Allergieauslösende Proteine und andere proentzündliche Substanzen werden vermehrt darin produziert und sogar neuartige Allergene gebildet. Pollen beherbergen außerdem ein spezifisches Mikrobiom auf ihrer Oberfläche, also ein eigenes Ökosystem aus Mikroorganismen. Auch das Mikrobiom wird durch Umweltschadstoffe negativ beeinflusst. Die Summe dieser Faktoren bewirkt letztlich eine erhöhte Pollenallergenität.
Andererseits wissen wir, dass die Umweltschadstoffe nicht nur auf die Pollen wirken, sondern auch auf uns selbst, den Menschen. Sie machen zum Beispiel die Lunge empfänglicher für allergische Reaktionen wie das allergische Asthma.“ 3.3.3/7 Helmholtz-Gemeinschaft 2021
In der Live-Sendung ARD alpha-demokratie plädierte die Professorin dafür, die individuelle Belastung durch Luftschadstoffe messbar zu machen. Notwendig sei der Einsatz intelligenterer Kraftstoffe und neuer Technologien, z. B. persönliche Apps für Radler, die anzeigen, wo die Luftbelastung gerade besonders hoch ist. Des Weiteren müsse, wie bereits im Koalitionsvertrag festgeschrieben, die Prävention von Krankheiten gefördert und die Wissenschaftskommunikation verbessert werden. 3.3.3/8 ARD
3.3.4 Elektromagnetische Felder/„Elektrosmog“
Was versteht man unter EMF?
Die Gesamtheit unterschiedlicher elektromagnetischer Felder/EMF wird umgangssprachlich als „Elektrosmog“ bezeichnet. Häufige Quellen elektromagnetischer Felder (EMF) sind z. B.:
Hochfrequente elektromagnetische Strahlung oder kurz Hochfrequenz (3 MHz bis 300 GHz).
Niederfrequente elektrische und magnetische Felder im sogenannten ELF-Bereich (3 Hz bis 3 kHz).
Strahlung im VLF Bereich (very low frequencies: im Allgemeinen von 3 kHz bis 3 MHz), werden durch Oberschwingungen und Verzerrungen von Spannung und Strom verursacht.
Technische Quellen der EMF sind allgegenwärtig, z. B.:
Rundfunk- und Fernsehantennen, WLAN-Access Points (auch z. B. in öffentlichen Verkehrsmitteln), WLAN-Router und WLAN-Clients (z. B. Computer, Tablets, Fernseher), Schnurlos- und Mobiltelefone einschließlich ihrer Mobilfunkbasisstationen, Bluetooth-Geräte, intelligente Zähler („smart meter“) und Baby-Monitore, die hochfrequente Strahlen aussenden.
Beleuchtungsmittel (z. B. Energiesparlampen), Elektrische (Haushalts-)Geräte wie Induktionsherde, medizinische Geräte z. B. in Ambulanzen und Krankenhäusern, smarte Klimaanlagen, smarte Autos.
Infrastrukturen zur Bereitstellung von Elektrizität, Hochspannungsleitungen.
Möglicherweise krebsverursachend
Die Internationale Agentur für Krebsforschung/IARC schätzt hochfrequente elektromagnetische Felder (RF-EMF) als möglicherweise beim Menschen Krebs verursachend (Gruppe 2B) ein.
„Aufgrund der weit verbreiteten Nutzung von schnurlosen Telefonen (Mobil- und Schnurlostelefone) war eine Bewertung der wissenschaftlichen Evidenz zum Hirntumorrisiko notwendig. So wertete die International Agency for Research on Cancer (IARC) bei der WHO im Mai 2011 die damals veröffentlichten Studien aus. Das wissenschaftliche Gremium kam zu dem Schluss, dass hochfrequente (HF) Strahlung von Mobiltelefonen und anderen Geräten, einschließlich Schnurlostelefonen, die ähnliche nichtionisierende elektromagnetische Feldstrahlung (EMF) im Frequenzbereich von 30 kHz-300 GHz aussenden, eine Gruppe 2B, d.h. ein „mögliches“ Humankarzinogen ist. Die Entscheidung der IARC zu Mobiltelefonen basierte hauptsächlich auf Fall-Kontroll-Studien am Menschen durch die Hardell-Gruppe aus Schweden und die IARC Interphone-Studie. Diese Studien lieferten unterstützende Hinweise auf ein erhöhtes Risiko für Hirntumore, d.h. Gliome und Akustikusneurinome [gutartiger Tumor des Ohres, die Autorin].“ [Ü.d.A.] [Wissenschaftliche Belege in der angegebenen Quelle] 3.3.4/1 Carlberg, Hardell
2017 lässt die Meta-Analyse der oben zitierten schwedischen Wissenschaftler Carlberg und Hardell keinen Zweifel über die Korrelation von Mobiltelefonnutzung und dem Risiko der Entstehung von Gehirnkrebs:
Die Meta-Analyse ergab OR = 1,90, 95 % CI = 1,31–2,76. Die Ergebnisse sind konsistent mit einem statistisch signifikant erhöhten Risiko für Gliome. [Ü.d.A.] 3.3.4/2 Carlberg, Hardell
Dennoch geht die Weltgesundheitsorganisation WHO weiterhin davon aus, dass die vorliegenden Beweise nicht ausreichen, um eine quantitative Senkung der Grenzwerte zu rechtfertigen.Hochfrequenzstrahlung (HF) in Zusammenhang mit Mobiltelefonnutzung wird auch vom Bundesamt für Strahlenschutz/BfS nicht als Karzinogen der Kategorie 1 eingestuft. |
Zum Thema „Einstufung hochfrequenter elektromagnetischer Felder durch die IARC“ informiert das Bundesamt für Strahlenschutz/BfS (Stand 25.04.2020):
„Nach Einschätzung der IARC gibt es nach gegenwärtigem Kenntnisstand begrenzte Hinweise auf eine krebserregende Wirkung hochfrequenter elektromagnetischer Felder auf den Menschen. Die Hinweise konnten in den vom BfS im Rahmen seines Deutschen Mobilfunk Forschungsprogramms und danach initiierten Studien nicht bestätigt werden. Das BfS hat daher festgestellt, dass nach dem wissenschaftlichen Kenntnisstand keine gesundheitlichen Beeinträchtigungen durch hochfrequente Felder – etwa aus dem Mobilfunk – zu erwarten sind, wenn die Grenzwerte eingehalten werden.“ 3.3.4/3 BfS
Diese Argumentation beruht auf Studien, die lediglich sogenannte thermische (wärmebezogene) – nicht aber biologische EMF-Wirkungen als relevant einschätzen. |
Nicht untersucht, bzw. als relevant erachtet werden biologische Faktoren wie: Veränderung des Herzrhythmus, der Gen-Expression, im Stoffwechsel, in der Entwicklung der Stammzellen, DNA-Schäden, erhöhte Anzahl freier Radikale, Lern- und Gedächtnisdefizite, beeinträchtigte Spermienfunktion und -qualität.
Ein Wissenschaftskrimi – der „Wiener Fälschungsskandal“
Die sogenannte REFLEX-Studie war ein von der Europäischen Union gefördertes Projekt, das von der Stiftung für Verhalten und Umwelt durchgeführt wurde. Untersucht wurden mögliche Schädigungen des Erbguts durch hochfrequente elektromagnetische Felder (HF-EMF). Die von 2000 bis 2004 durchgeführte Studie zeigte, dass Mobilfunkstrahlung in isolierten menschlichen Zellen die Gene schädigen könne. 3.3.4/4 REFLEX
Die Studie war über Jahre dem Vorwurf der Fälschung ausgesetzt, das führte zu einem Rechtsstreit vor dem Hanseatischen Oberlandesgericht Bremen. Auf der Webseite der Interessenvertretung diagnose:funk, die über gesundheits- und umweltschädigende Wirkungen elektromagnetischer Felder informiert, wird die ausgelöste Kontroverse geschildert:
„Die Reflexstudie ist gefälscht – Handystrahlung löst keine Tumore aus!“ – konsterniert lasen wir 2008 im Spiegel, der Süddeutschen, in nahezu der gesamten Presse diese Meldung. Politiker beteten diese Entwarnung beruhigt hoch und runter. Schnell wussten wir aber aus Berichten der beteiligten Wissenschaftler, dass die Studien sauber durchgeführt wurden. Aber die Deutungshoheit hatten damals die Mobilfunkindustrie und Medien, die nicht richtig hingeschaut haben. Dass daraus ein Wissenschaftskrimi wurde, mit Rufmord, Prozessen, Zerstörung von Existenzen, der zwar gleich als Skandal entlarvt, aber erst 2020 juristisch abgeschlossen werden wird, ahnten wir nicht. [...]
Im Dezember 2020 fiel das endgültige Urteil: Die Fälschungsbehauptungen gegenüber der REFLEX-Studie dürfen nicht mehr wiederholt werden. Anders gesagt: Die Ergebnisse der REFLEX-Studie von 2004, dass die Mobilfunkstrahlung ein gentoxisches Potential [auf isolierte menschliche Zellen] hat, sind richtig. [...] Das wurde inzwischen direkt und indirekt durch weitere groß angelegte Studien bestätigt, zuletzt durch die NTP-, Ramazzini-, die AUVA-Studien und viele Einzelstudien, bestätigt in vielen Reviews.“ [Ergänzung durch die Autorin; Studien sind im Originaltext verlinkt] 3.3.4/5 diagnose:funk
Nationale und internationale Appelle
Es gibt eine lange Reihe nationaler und internationaler Appelle, initiiert v.a. von Ärzten und Wissenschaftlern, die ein Umdenken im allzu sorglosen Umgang mit EMF forderten und fordern, z. B. Scientists call for Protection from Non-ionizing Electromagnetic Field Exposure. (Stand März 2018: 237 Wissenschaftler aus 41 Nationen hatten unterzeichnet.) Die Wissenschaftler erklärten unmissverständlich:
„Zahlreiche aktuelle wissenschaftliche Veröffentlichungen haben gezeigt, dass elektromagnetische Felder lebende Organismen bereits bei Werten beeinflussen, die weit unterhalb der meisten internationalen und nationalen Richtlinien liegen“. [Ü.d.A.] 3.3.4/6 International appeal
⇒ Weitere InformationenLyon, Bordeaux, Marseille: Die Bürgermeister von 11 Großstädten fordern ein Moratorium für 5GOriginalartikel (französich) Lyon, Bordeaux, Marseille : les maires de 11 grandes villes demandent un moratoire sur la 5G. 08.10.2020. 3.3.4/7 lejddDer Große Rat des Kantons Genf fordert Moratorium für die 5G- (und 4G+-)Technologie in der gesamten Schweiz von der Bundesversammlung. Eingereicht: 3.3.2020. 3.3.4/8 diagnose:funkProf. J. C. Lin zur NTP-Studie: Eindeutige Beweise für das Krebsrisiko der Mobilfunkstrahlung. Ein ehemaliges ICNIRP-Mitglied (International Commission on Non-Ionizing Radiation Protection/ICNIRP), fordert Revision der Mobilfunk-Grenzwerte. 4.9.2018. 3.3.4/9 diagnose:funkDiagnose: Funk„Das Ziel von diagnose:funk ist, über gesundheits- und umweltschädigende Wirkungen elektromagnetischer Felder, wie sie durch Handys, Smartphones, Mobilfunkantennen, WLAN, DECT und weitere Elektrosmogquellen verursacht werden, sowie über die psycho-sozialen Auswirkungen digitaler Medien aufzuklären.“ Zitat aus der Webseite. 3.3.4/10 diagnose:funkKomptenzinitiative„Die Kompetenzinitiative zum Schutz von Mensch, Umwelt und Demokratie e.V. ist eine internationale, interdisziplinäre und überparteiliche Fachvereinigung insbesondere von Wissenschaftlern, Ärzten, Juristen und Technikern. Sie engagiert sich für einen zeitgemäßen Gesundheits- und Umweltschutz vor allem auf dem Gebiet des Mobil- und Kommunikationsfunks.“ Zitat aus der Webseite. 3.3.4/11 KompetenzinitiativeWirkungen des Mobil- und KommunikationsfunksEine Schriftenreihe der Kompetenzinitiative zum Schutz von Mensch, Umwelt und Demokratie e.V. Herausgeber: Prof. Dr. rer. nat. Klaus Buchner et al. Heft 11. Elektrohypersensibilität Risiko für Individuum und Gesellschaft. Mit Beiträgen von Franz Adlkofer, Christine Aschermann, Frank Berner, Bernd Irmfrid Budzinski, EUROPAEM Arbeitsgruppe EMF, Karl Hecht, Lebrecht von Klitzing, Wilfried Kühling, Peter Ludwig, Werner Thiede. Saarbrücken, 1. Auflage August 2018. 3.3.4/12 diagnose.funk |
Was erwartet uns in naher Zukunft?
Die 5. Mobilfunkgeneration/5G soll schon bald „das smarte Internet der Dinge“ ermöglichen: wie z. B. autonomes Fahren, digitale Industrie, digitale Landwirtschaft und digitale Logistik. Die flächendeckende Infrastruktur mit vollständiger Abdeckung auch des ländlichen Raums soll durch Millionen neuer 5G-Basisstationen auf der Erde und durch ein Netzwerk aus Kleinsatelliten erreicht werden. Der Satelliten-Schwarm wird die Erde in 1.000 km Höhe umkreisen.
Menschen, Tiere und Pflanzen werden sich somit schon bald global und unausweichlich in einem Strahlenmeer befinden. |
3.4 Die Summenbelastung – ein Menschheitsexperiment
Ein melting pot an StressfaktorenWir haben gesehen, dass sowohl wahrnehmbare wie auch nicht wahrnehmbare Faktoren unsere Gesundheit beeinflussen, bzw. schädigen. Das Ausmaß dieser synergistisch wirkenden Einflüsse wird unterschätzt und führt zu einer unangemessenen Sorglosigkeit. |
Es gibt mehrere Gründe für diese Sorglosigkeit:
Es handelt sich vorwiegend um allmähliche Veränderungen.
Es geht immer um mehrere Faktoren, die systemisch zusammenwirken.
Viele Faktoren liegen unter der Wahrnehmungs-Schwelle.
Reizüberflutung, Ereignisdichte, Innenweltverschmutzung
Reizüberflutung und Ereignisdichte üben permanent Einfluss auf unseren Organismus aus. Auch in Phasen ohne akute Belastung kehren wir kaum mehr auf ein normales Ruhe- und damit Regenerationsniveau zurück. Diese eher wahrnehmbaren Einflüsse wurden in Kapitel 3.1 beschrieben, sie sind Thema vieler Forschungsarbeiten. Viel weniger untersucht sind die Wirkungen von Umweltschadstoffen, Strahlung und Partikeln, die als „Innenweltverschmutzung“ unabhängig von wahrnehmbaren Stressoren schon allein und erst recht in Kombination nachhaltige körperliche und psychische Veränderungen nach sich ziehen können.
Die kollektive, multifaktorielle GrundbelastungJeder Einzelne ist heute mehr oder weniger diesem Grundrauschen von wahrnehmbaren und unterschwelligen Stressfaktoren ausgesetzt. Die Synergie dieser Faktoren fördert subklinische Entzündungen und damit chronisch-entzündliche Erkrankungen.Chronisch entzündliche Erkrankungen sind in den vergangenen fünf Jahrzehnten um das zehn- bis 15-fache angestiegen. |
Zu den chronisch-entzündlichen Krankheitsbildern zählen z. B. Asthma, Typ 1 Diabetes, Multiple Sklerose und die diversen Formen von chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen (CED). Dieser Anstieg ist nicht durch genetische Faktoren erklärbar. Es sind primär Umwelteinflüsse, die zur Entstehung chronisch-entzündlicher Erkrankungen führen, zunehmend auch bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen.
Das bedeutet, dass Merkmale, die vorindustriell eine Variante des menschlichen Lebens darstellten, z. B. eine genetisch bedingte Minderleistung der Entgiftung, der Entzündungs- oder der Stress-Antwort, unter den heutigen Lebensbedingungen zu einem Krankheitsgenerator werden. |
Antwort auf Zellgefahren
In Kapitel 27.3 wird die von Prof. Robert K. Naviaux erforschte „Antwort auf Zellgefahren“ (Englisch: Cell-Danger-Response/CDR) beschrieben. Die CDR ist eine archaische und universelle Antwort auf Bedrohung, Stress oder Verletzungen.
Leben auf SparflammeProf. Naviaux fasst zusammen, dass Mitochondrien durch chronische Stressbelastungen mit der Zeit ihre natürliche Fähigkeit zur Homöostase und zur Selbstregulation verlieren. Die synergistische Summenbelastung führt zur Entstehung unterschiedlichster Stressoren-bedingter Erkrankungen, weil der Organismus nicht mehr regeneriert. |
Die Antwort auf Zellgefahren, Cell-Danger-Response/CDR
„Wenn die CDR ausgelöst wird, werden die Prioritäten eines mehrzelligen Organismus zurückgesetzt, um das Überleben zu optimieren. Die CDR ist so grundlegend für das Überleben aller Lebewesen, dass die gleichen Kernverteidigungen von Stoffwechsel, Entzündung, Immunität, Mikrobiom, Gehirnfunktion, Schlafmuster und Verhaltensänderungen durch viele verschiedene Arten von Bedrohungen aktiviert werden. Das können vielfältige Bedrohungen sein wie eine Infektion, Vergiftung, physische oder psychische Traumata, die immer das gleiche stereotype Krankheitsverhalten auslösen. Diese stereotype Reaktion auf Gefahr umfasst Rückzug aus sozialem Kontakt, Aktivierung der angeborenen Immunität, verminderte Verständigung, unterbrochener Schlaf, Kopf-, Muskel- und Bauchschmerzen, Veränderungen im Darmmikrobiom und erhöhte Empfindlichkeit gegenüber Berührung, Klang und Licht, die viele Menschen erleben, wenn sie die Grippe haben, oder sich von einer schweren Verletzung erholen.
Es ist die CDR, die diese bekannten Zeichen und Symptome produziert. Auf zellulärer Ebene kann die Reaktion auf die Zellgefahr erst ausgeschaltet werden, wenn die Zelle das endgültige „alles in Ordnung“ Signal empfängt. Bis dahin bleibt die CDR in einer sich wiederholenden Schleife stecken, die weitere Heilung blockiert, um die wahrgenommene Gefahr auszumerzen. Dies kann zu Langzeitleiden, Behinderungen und chronischen Krankheiten führen. Nur wenn eine Zelle Sicherheit wahrnimmt, kann sie vollständig heilen.“ [Ü.d.A.] [Quellenverweise im Original] 3.4/1 Naviaux
Abb. 3.4/1 Schutz und Schadfaktoren
3.4.1 Cocktail-Effekte
Kombinationseffekte sind real. Sie relativieren jegliche Aussagen über „unbedenkliche“ Grenzwerte. |
Fukushima: Systemische Effekte
Im März 2011 wurde Japan von einem Erdbeben mit darauffolgendem Tsunami getroffen. Die Kühlung im Atomkraftwerk fiel aus und es kam zum Super-GAU. Das Risiko eines Erdbebens war berechnet worden, ebenso das Risiko eines Tsunami. Das Auftreten beider Faktoren gleichzeitig und die systemischen Folgen – dafür waren die Vorsorgemaßnahmen nicht ausgerichtet.
Der Fukushima-Effekt im ImmunsystemDerzeit werden Grenzwerte z. B. von Schadsubstanzen linear berechnet, d.h. es wird erforscht, welche Folgen eine Substanz im Organismus erzeugt. Systemische, kumulative, synergistische Effekte werden ausgeblendet. |
Wirkformen von Substanzen, Gasen, Strahlung
Synergistische Wirkung:
Die Wirkung der Noxen ist unterschiedlich, sie wirken interaktiv und verstärken einander: Die potenzielle Schädigung „im Team“ ist stärker.
Antagonistische Wirkung:
Noxen wirken gegenläufig, sie schwächen einander: Die potenzielle Schädigung ist geringer.
Additive, kumulative Wirkung:
Die Wirkung der Noxen ist identisch und summiert sich.
Unabhängige Wirkung:
Die Wirkung der Noxen ist unterschiedlich, aber es kommt nicht zu Wechselwirkungen.
Pestizid-Cocktail
Eine der wenigen Studien, die die sogenannten „Cocktail-Wirkungen“ von Chemikalien erforschten, wurde von einem französischen Autorenteam 2018 veröffentlicht. Dabei wurden zehn trächtige Ratten einer Mischung aus acht Pestiziden ausgesetzt, denen Menschen in der Bretagne üblicherweise ausgesetzt sind. Die Metabolomik-Analyse zeigte mehrere Unterschiede zwischen den Muttertieren der Versuchsgruppe gegenüber der unbelasteten Vergleichsgruppe, insbesondere im Plasma, in der Leber und im Gehirn. Die modifizierten Metaboliten waren am TCA-Zyklus, an der Energieproduktion und -speicherung, am Lipid- und Kohlenhydratstoffwechsel sowie am Aminosäuren-Stoffwechsel beteiligt. Die Autoren vermuten, dass die Pestizidmischung oxidativen Stress induzieren kann, der mit mitochondrialen Funktionsstörungen und der Beeinträchtigung des Glukose- und Lipidstoffwechsels einhergeht – auch wenn keine einzelne Chemikalie in Konzentrationen vorhanden war, die als „toxisch“ definiert ist. 3.4.1/1 Bonvallot et al.
Cocktail Studie
Eine weitere „Cocktail-Studie“, die im August 2020 als Preprint veröffentlicht wurde, untersuchte die Auswirkungen einer Mischung von sechs Pestizidwirkstoffen, die jeweils in der gesetzlich zulässigen Tagesdosis an Ratten verabreicht wurden. Offensichtliche Veränderungen wie z. B. beim Körpergewicht konnten nicht festgestellt werden. Veränderungen zeigten sich aber in der Zusammensetzung des Mikrobioms sowie bei der Expression von 257 Genen. Bei der Methylierung von Genen zeigte sich ein Unterschied zu unbehandelten Ratten von 10 %. 3.4.1/2 Mesnage et al.
Joghurtbecher und Co.
2019 wurde in der Zeitschrift Environmental Science & Technology eine Laborstudie der Forschungsgruppe PlastX unter der Leitung des Instituts für sozial-ökologische Forschung veröffentlicht. Die Untersuchung von 34 Alltagsprodukten aus acht verschiedenen Kunststofftypen wie Joghurtbecher, Trink- und Shampoo-Flaschen ergab, dass drei Viertel der Produkte schädliche Chemikalien enthielten. Je nach Typ und Anwendung werden dem Basismaterial auf Erdölbasis Zusatzstoffe wie Weichmacher, Stabilisatoren oder Farbstoffe zugesetzt, während des Produktionsprozesses entstehen zudem zahlreiche Neben- oder Abbauprodukte.
„In dem komplexen Herstellungsprozess von Kunststoffen entsteht ein regelrechter Cocktail an Substanzen, von denen wir einen Großteil überhaupt nicht kennen“,
sagte die Leiterin der Forschungsgruppe PlastX, Carolin Völker.
Von 1.400 Substanzen konnten im Labor nur 260 identifiziert werden. Die Autorengruppe konnte, außer für Bisphenol A, dessen schädliche Wirkung belegt ist, keine Aussagen über potenzielle Gesundheitsrisiken für Verwender der Kunststoffprodukte machen. |
„Etwas mehr als 80 Prozent aller nachgewiesenen Substanzen konnten wir mithilfe chemischer Analysen nicht identifizieren“, sagt Zimmermann. „Das heißt, wir wissen zum Großteil nicht, womit wir es in den Kunststoffprodukten zu tun haben. Und wenn wir die Chemikalien nicht kennen, können wir auch nicht bestimmen, ob sie sicher für Mensch und Umwelt sind“. 3.4.1/3 Zimmermann et al.
Arzneimittel-Rückstände im Wasser
Laut der OECD-Studie Pharmaceutical Residues in Freshwater von 2019 wurden über 150 pharmazeutische Spurenstoffe in Wasser nachgewiesen. Deutschland nimmt dabei neben den USA, Frankreich, Spanien und Großbritannien einen Spitzenplatz ein. |
Jährlich gelangen Hunderte Tonnen von Medikamenten in die Umwelt. Es gibt mehr als 4.000 arzneiliche Wirkstoffe, bei den meisten (bei Humanarzneimitteln: 88 %) sind die Auswirkungen auf die Umwelt nicht erforscht. Stoffgemische aus Arzneimittelrückständen und anderen Mikroverunreinigungen haben komplexe Wirkungsweisen. Unser Trinkwasser gilt für Menschen als sicher – aber schon sehr geringe Konzentrationen dieser Substanzen (im Nanogrammbereich) können fatale Folgen für Wasserlebewesen haben. Informationen über Herbizid-Rückstände im Grundwasser finden Sie auf den Webseiten des Umweltbundesamtes.
Siebzehn Stressoren
Multisystemischen Komplex-Erkrankungen basieren stets auf einem biochemischen Ungleichgewicht, das von Prof. Martin L. Pall als „Nitrosativer Stresszyklus“ beschrieben wurde. } Siehe Kapitel 5.5 Prof. Pall weist darauf hin, dass 17 Stressoren bekannt sind, die synergistisch eine Schlüsselrolle bei der Krankheitsentstehung spielen:
„Es sind insgesamt 17 unterscheidbare kurzfristig auftretende Stressoren bekannt, die Fälle einer oder mehrerer der besprochenen Krankheiten [ME/CFS, MCS, FMS und PTBS, die Autorin] einleiten. Es ist auch bekannt, dass alle 17 Zykluselemente stimulieren können, was bekanntermaßen oder vermutlich zu einem Anstieg von Stickoxid und Peroxynitrit führt. Sie können also den Zyklus über diese Mechanismen einleiten.“ 3.4.1/4 Pall
Synergistische Wirkungen
Dr. rer. nat. Heike Sommer erforschte 2006 im Rahmen ihrer Dissertationsarbeit synergistische Kombinationswirkungen durch Gemische aus 2–8 Komponenten unspezifisch wirksamer Chemikalien in untoxischen Konzentrationen der Einzelsubstanzen an menschlichen Fibroblasten.
„Die Ergebnisse dieser Untersuchungen zeigten, dass alle Kombinationen auch unterhalb der Toxizitätsschwellen (NOEC-Werte) der sie enthaltenden Komponenten eine toxische Gesamtwirkung verursachten. [...] Gemische aus 2 Komponenten verstärkten die Toxizität der Einzelsubstanzen, und es zeigte sich, dass die Gemische deutlich toxischer waren als die jeweilige Substanz allein. [...] Je mehr Komponenten das Gemisch enthielt, umso geringer waren die erforderlichen Konzentrationen der einzelnen Komponenten, um einen bestimmten Effekt zu erzielen.“ 3.4.1/5 Sommer
Umweltrisiken durch Pestizid-Cocktails werden unterschätzt
lautete die Überschrift eines Artikels des Umweltbundesamtes zu einer 2021 veröffentlichten Studie über Pestizid- Mischungen:
„Auf unseren Äckern werden oft mehrere Pestizide gleichzeitig oder nacheinander verwendet. Wie die einzelnen Mittel zusammenwirken, wird vorher in der Zulassung nicht überprüft. Dort werden Mittel nur einzeln bewertet. Die Folge: Unerwünschte Kombinationswirkungen von Pestiziden auf die Umwelt bleiben oft unentdeckt. Laut einer neuen Studie für das UBA muss sich das rasch ändern.“ 3.4.1/6 UBA
⇒ Weitere InformationenKühling, WilfriedMehrfachbelastungen durch verschiedenartige Umwelteinwirkungen. 3.4.1/7 Kühling |
3.4.2 Die Synergie der multisystemischen Gesamtlast
In der Botanik gibt es eine Klasse von Erregern, die als Schwächeparasiten bezeichnet werden, also Parasiten, die z. B. Bäume nur dann schädigen können, wenn durch vorangegangene Wirkung anderer Faktoren deren Widerstandskraft geschwächt wurde. Derzeit schädigen hohe Tagestemperaturen, massive Niederschlagsdefizite und die daraus resultierende geringe Luftfeuchtigkeit die Wälder massiv und machen sie anfällig.
Auch im menschlichen Organismus hinterlassen Stressfaktoren Schäden, die die Widerstandskraft schwächen. Jetzt können, vor allem bei ohnehin vulnerabler Disposition, auch weniger virulente Erreger zu systemsprengenden Faktoren werden. |
Es sollte gesamtgesellschaftlicher Konsens sein, dass wir unverzüglich und gemeinsam Maßnahmen ergreifen, um einen „Zell-, bzw. Mitochondriengesunden“ gemeinsamen Lebensraum zu schaffen – und zwar „von der Wiege bis zur Bahre“. Mehr Aufklärung über Lebensstilfaktoren, mehr Prävention und eine beherzte Eindämmung kollektiver Stressfaktoren sind keine realitätsfremden Forderungen. Wie viele Erkrankungen, Operationen, Medikamente, Pflegekosten sowie kostenintensive Untersuchungen wären vermeidbar?
Abb. 3.4.2/1 Die Gesundheitsausgaben steigen von Jahr zu Jahr
Die Gesundheitsausgaben steigen Jahr für Jahr. Im Jahr 2017 überschritten sie erstmals die Marke von einer Milliarde Euro pro Tag. Wie werden die Gesundheitsausgaben für die Corona-Jahre 2020/2021 aussehen? Quelle: Pressemitteilungen des Statistischen Bundesamtes: Nr. 109, 21. März 2019, Nr. 164, 12. Mai 2020; Nr. 167, 6. April 2021.
Abb. 3.4.2/2 100-Milliarden-Euro-Sprünge
Die Abstände der jeweiligen 100 Milliarden-Grenze werden geringer: Während zwischen 1998 bis 2012 14 Jahre lagen, verminderte sich die Zeitspanne zum nächsten 100 Milliarden Schritt im Jahr 2019 schon auf sieben Jahre. Quelle } Siehe Abb. 3.4.2/1
Blick in die USA
Prof. Naviaux erforscht nicht nur wissenschaftlich die Reaktion auf Zellgefahren, er weist in dem lesenswerten Artikel Perspective: Cell danger response Biology—The new science that connects environmental health with mitochondria and the rising tide of chronic illness auch darauf hin, dass eine Gesellschaft sich chronische Erkrankungen nicht nur aus humanistischer und ethischer Sicht nicht leisten kann, sondern dass ein „Weiter so“ auch wirtschaftlich zu einem Desaster führt:
„Die wirtschaftlichen Kosten chronischer Krankheiten
Die Vereinigten Staaten geben heute jährlich 2,8 Billionen Dollar für die medizinische Versorgung von Kindern und Erwachsenen mit chronischen Erkrankungen aus. Dies entspricht 86 % des US-Haushalts in Höhe von 3,3 Billionen US-Dollar für das Gesundheitswesen. Wenn die steigende Flut chronischer Krankheiten der letzten 30 Jahre unvermindert anhält, werden die Kosten der Gesundheitsversorgung in den USA bis 2025 voraussichtlich 5,5 Billionen Dollar übersteigen, was negative Auswirkungen verursacht, die den wirtschaftlichen Wohlstand nicht nur in diesem Land, sondern in vielen Ländern auf der ganzen Welt entgleisen lassen werden.
Was wäre, wenn ein neuer Ansatz in der Medizin in der Lage wäre, das Leiden und die Notwendigkeit einer teuren medizinischen Versorgung für nur 10 % der Menschen mit einer chronischen Erkrankung zu lindern? Dieser neue Ansatz würde jährlich 280 Milliarden US-Dollar (10 % mal 2,8 Billionen Dollar) in die US-Wirtschaft zurückbringen. Diese Einsparungen in einem einzigen Jahr würden die jährlichen Budgets der National Institutes of Health (NIH; 37 Milliarden Dollar), der Environmental Protection Agency (EPA; 8,7 Milliarden Dollar), der Food and Drug Administration (FDA; 5,1 Milliarden Dollar) und des US Department of Agriculture (USDA; 151 Milliarden Dollar) zusammen übersteigen.“ [Ü.d.A.] [Quellenhinweise im Originaltext] 3.4.2/1 Naviaux
Anmerkung: Das amerikanische „trillion“ im Originaltext entspricht der deutschen Billion, die amerikanische „billion“ entspricht der deutschen Milliarde.
⇒ Weitere InformationenThe 28th Amendment ProjectProf. Naviaux hat eine Initiative ins Leben gerufen, die sich für eine Verfassungsänderung einsetzt, die das Recht, in einem Umfeld geboren zu werden, das keine chronischen Krankheiten verursacht, formuliert. Die bereitgestellten Grundlagen können auch als „Blaupause“ für andere Nationen verwendet werden. 3.4.2/2 Naviaux |
3.5 Eine Herausforderung, der wir nicht gewachsen sind
Präventionsmaßnahmen basieren auf den Erfahrungswerten aus vergangenen Missständen oder Katastrophen. An Gefahren, die man erlebt hat, kann man sich erinnern und ist dadurch gewarnt. Gute Prävention trägt dazu bei, künftige Katastrophen vorausschauend zu verhindern.
Was aber, wenn menschheitsgeschichtlich neue, katastrophale Missstände auftauchen, für die keine tradierte Erfahrung vorliegt? |
Christian Pfister, Prof. Emeritus für Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte am Oeschger Zentrum für Klimaforschung, Universität Bern, Schweiz, beschreibt, dass Menschen durch häufige Erfahrungen von Naturgefahren eingespielte Praktiken zur Risikominimierung in ihre Lebensgewohnheiten integrieren. Sie verfügen dadurch über Praktiken zur Bewältigung von außerordentlichen Lebenslagen und stehen solchen Ereignissen nicht hilflos gegenüber.
„Zeit ist bei der Bewältigung von Katastrophen der alles entscheidende Faktor. Es kommt darauf an, ob das relevante Handlungswissen rasch genug abgerufen werden kann oder ob es erst durch Erinnerungsleistung aktiviert werden muss. Dies ist hauptsächlich abhängig von der Häufigkeit von Katastrophen.“ 3.5/1 Pfister
Die derzeitige Flutkatastrophe [Stand Juli 2021] zeigt, dass Warnungen nicht ernst genommen, bzw. weitregegeben wurden. Die britische Hydrologin Hannah Cloke konstatierte „Monumentales Systemversagen“, so Bernhard Junginger in der Augsburger Allgemeinen:
„Die Professorin der Universität Reading ist eine der Entwicklerinnen des europäischen Hochwasser-Warnsystems, über das die Regierungen Belgiens und Deutschlands bereits vier Tage vor Beginn des Hochwassers an Rhein und Meuse [deutsch: Maas] gewarnt worden seien. 24 Stunden vorher sei den deutschen Stellen dann nahezu präzise vorhergesagt worden, in welchen Gegenden schwere Überflutungen drohten. Genannt worden seien dabei auch jene Gebiete an der Ahr, in denen mehr als 110 Menschen als Folge der Überschwemmungen ihr Leben verloren. „Irgendwo ist diese Warnkette dann gebrochen, so dass die Warnungen nicht bei den Menschen angekommen sind“, sagte Cloke.“ 3.5/2 Augsburger Allgemeine
Am 13. Juli hatte der Deutsche Wetterdienst eine „Amtliche Gefahrenmeldung“ verschickt. Auch das European Flood Awareness System/EFAS warnte am selben Tag vor extremen Überflutungen.
Krise? Welche Krise?
Je präsenter eine vergangene Katastrophe als Risikobewusstsein in der Bevölkerung vorhanden ist, desto kompetenter ist der Umgang mit einer auftretenden Gefahr. Dann kann die Zeitspanne zwischen den ersten Hinweisen und dem Eintreten einer Gefahr optimal genutzt werden. Im besten Fall gibt es dazu von behördlicher Seite einen Krisenstab, ein ausgearbeitetes Schutzkonzept, Risikogruppen oder -zonen sind bekannt und Strategien für deren Rettung vorbereitet. Bei neuartigen Gefahren kann weder das individuelle noch das kollektive Gedächtnis auf Erfahrungen zurückgreifen. Die Corona-Pandemie und die Hochwasser der kleinen Flüsse legen derzeit national und international zahlreiche strategische Schwachstellen in der Katastrophenbewältigung offen.
Die Krise des ImmunsystemsWas die Krise des Immunsystems betrifft, liegen menschheitsgeschichtlich auch dazu keine Erfahrungen vor. Die Zunahme chronischer/multisystemischer Erkrankungen wird nicht in angemessenem Ausmaß als bedrohlich wahrgenommen. Die notwendige Gegensteuerung ist unzureichend. |
Außerdem sind wir derzeit so vielen Krisen ausgesetzt – Klimakrise, Corona-Pandemie, Artensterben – dass wir nicht noch von einer weiteren erfahren wollen! Menschen fühlen sich in unsicheren Zeiten überfordert – das Bedürfnis nach Sicherheit, Klarheit und Überschaubarkeit wächst. Diese (verständliche) Haltung lässt die immunologische Krise nun aber leider nicht verschwinden.
„Zwar hat der technologische Wandel die Lebensbedingungen für die allermeisten Menschen enorm verbessert. Gleichzeitig bedroht dieser jedoch die Grundlage dieses Wohlstands, weil es so schwer ist, sich der Konsequenzen bewusst zu werden und heute Entscheidungen zu treffen, die kurzfristig übertrieben und unnötig erscheinen mögen, aber langfristig existenziell sein können.“ 3.5/3 Fratschner
Marcel Fratzscher kommentierte mit diesen Worten in der Wochenzeitschrift Die Zeit unsere mangelnde Weisheit im Umgang mit Katastrophen.
Mit jedem Land, das den westlichen Lebensstil mit der Vielzahl an Reizen und Stressfaktoren übernimmt, wird absehbar auch die Anzahl der NCD-Patienten und der EmKE-Patienten steigen.
Notwendig sind sofortige, beherzte Präventiv- und weitreichende Versorgungs-, bzw. Vorsorge-Maßnahmen und Aufklärung.
Wenn Katastrophen sich schleichend entwickeln, geht es uns wie dem Frosch, der nicht aus dem Kochtopf springt, wenn das Wasser langsam erwähnt wird. Er passt sich an – das ist sein Todesurteil. |
„Diese Katastrophe war vermeidbar“
Ein unabhängiges Expertengremium, das eingesetzt worden war, um den Verlauf der Corona-Pandemie kritisch zu untersuchen, veröffentlichte im Mai 2021 das erarbeitete Gutachten. Das Ergebnis des Berichts war, dass ein „toxischer Cocktail“ aus Zaudern, fehlender Vorbereitung sowie unsachgemäße Reaktionen auf die Krise für das dramatische Ausmaß der Corona-Pandemie verantwortlich war. Bei der Vorstellung des Berichtes sagte die Co-Präsidentin des Gremiums, die Friedensnobelpreisträgerin und ehemalige liberianische Präsidentin Ellen Johnson Sirleaf:
„Es gab eine Spirale von Versagen, Lücken und Verzögerungen bei der Vorbereitung und der Reaktion.“ zitierte die Berliner Zeitung am 13.5.2021. 3.5/4 Berliner Zeitung
„Wir haben in jeder Phase Versäumnisse festgestellt und wir glauben, dass es möglich gewesen wäre, diese Pandemie zu verhindern.“ [...] „Der Februar war ein vergeudeter Monat. Trotz eindeutiger Warnungen glaubten viel zu viele Länder, es würde sie nicht treffen und sie nahmen eine unwirksame, abwartende Haltung ein. Man werde keiner Einzelperson oder einzelnen Nationen die Schuld geben, aber letztlich war die Welt nicht vorbereitet auf die Krise. Man müsse daraus Lehren ziehen, um die Pandemie erfolgreich zu bekämpfen, so die Kommission.“
zitierte Dietrich Karl Mäurer Frau Sirleaf weiter in einem Audio-Beitrag in der Tagesschau am 12.05.2021. 3.5/5 Mäurer Dadurch habe sich die „humanitäre Krise“ entwickelt, die die Experten als „Tschernobyl des 21. Jahrhunderts“ bezeichneten.