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Der Bock vom Unterland

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In meinem herrlichen Bergrevier, das ich damals in Pacht hatte, gab es ein kleines Problem, wirklich ein kleines, sozusagen ein „Luxus-Problem“. Denn während ich dort mit freudvollen Erfolgen – im bescheidenen Rahmen natürlich – auf Rotwild und Gams, Birkhahn und Murmel und sogar auf den großen Hahn jagen konnte, war der Rehwildbestand lausig. Vom Sepp, meinem guten Freund und Besitzer dieser Eigenjagd, wusste ich, dass mein Vorgänger als Pächter darauf gar keinen Wert gelegt und auf die Rehwildhege vollkommen verzichtet hatte. Ich erhielt dann zwar die Erlaubnis, eine sorgsam eingezäunte Rehfütterung zu errichten, doch um den Bestand nachhaltig zu verbessern, musste man sich schon einige Jahre gedulden. Und mein Jägerherz, das sich so sehr danach sehnte, einmal einen richtig guten Bock zu erlegen, wurde auf eine harte Geduldsprobe gestellt.

Doch wie so oft im Leben, wenn eine Tür klemmt, dann geht zuweilen eine andere auf. Und Jägerstammtische gibt es ja auch nicht ganz umsonst. Von so einem Stammtisch kannte ich den Fritz, einen sogenannten „Landler-Bauern“ (wir nannten sie so, weil sie ihre Höfe unten „am Land“ hatten, meist viel größer und viel leichter zu bearbeiten als die Bergbauernhöfe bei uns heroben). Fritz hatte seine Eigenjagd da unten, mit prächtigen, ebenen Wiesen und Äckern, dafür aber nur mit einem kleinen Waldanteil. Er hatte auch keine Alm, denn die Berge, die es dort gab, waren weit niedriger und über ihre Rücken hinweg bewaldet. Und so gab es in seinem Revier natürlich keine Gämsen!

Der eine möchte also für sein Leben gern einmal eine Gams schießen, der andere sehnt sich danach, einmal auf einen guten Rehbock zu gehen. Was tut also St. Hubertus? Er führt die beiden zusammen und lässt sie einen Handel abschließen. „I lod di ein auf an guaten Rehbock ba mir im Revier, dafür derf i im Spotherbst ba dir a Gams schieaßn, wos sogst dazua?“, meinte Fritz eines Tages bei einem sonntäglichen Frühschoppen beim Pfandlwirt. Dagegen war nun wirklich nichts zu sagen, eine wunderbare Idee, wir gaben uns die Hand drauf, und der Austausch war zu beider Zufriedenheit besiegelt.

Ende Juli rief mich Fritz an, er hätte bereits einen sehr guten Bock bestätigt, die Brunft wäre schon in vollem Gange und ich könnte jederzeit kommen. Wir vereinbarten für den kommenden Freitag den Abendansitz. Ich teilte es mir so ein, dass ich auch Samstag und Sonntag noch als Jagdtage zur Verfügung hatte, für alle Fälle.

„Eine knappe Autostunde trennt mich noch von meinem kapitalen Rehbock“, dachte ich, als ich meine Jagdsachen sorgfältig in den Kofferraum packte. Ich sollte so gegen 17 Uhr am Hof von Fritz gestellt sein. Ich war pünktlich, Fritz hatte noch einige Dinge zu erledigen, wie das auf einem Bauernhof eben so ist, doch gegen 18 Uhr brachen wir auf.

Die Sonne stand noch hoch und drückte uns ihre brütende Hitze unbarmherzig ins Gesicht. Wir pirschten einen von Birken und Pappeln gesäumten Wiesenweg leicht bergan, erreichten einen Waldstreifen, durch den ein gerade noch erkennbarer Jägersteig führte, und kamen leicht verschwitzt zu einem Hochsitz am Rande einer geradezu märchenhaften Wiese, eingesäumt von dichtem und saftigem Mischwald, nur gegen Süden hin leicht geöffnet hinaus auf die wogenden Getreidefelder. „Vor drei Tog hot da Bock do a Gaoß über die gaunze Wiesn triebn“, raunte mir mein Pirschführer zu, wir setzten uns auf den etwas wackligen Hochsitz und harrten der Dinge, die da kommen würden.

Fast zwei Stunden lang wurden wir von Mücken und Gelsen umschwirrt, man konnte also nicht sagen, dass wir keinen Anblick gehabt hätten, aber jagdbares Wild war nicht zu sehen. Dann trat am südlichen Wieseneck doch noch eine Geiß mit einem starken Kitz aus, die beiden genossen sichtlich die würzigen Leckerbissen der üppigen Wiese, Bock war aber keiner zu sehen. Beim Abbaumen meinte Fritz, dass so etwas natürlich schon vorkommen könnte. Er zeigte mir noch einen Pirschsteig, der in nordwestliche Richtung weiterführte zu einer anderen, kleineren Blöße, wo sich der Bock auch herumtreiben könnte, dort müsste man vielleicht auch einmal Nachschau halten.

Zu Hause angekommen, musste ich natürlich noch mit hinein in die Stube auf einen Schnaps und ein Bier, ich lernte seine fesche und resche Bäuerin Cilli kennen, und wir plauderten ein Weilchen. Fritz eröffnete mir schließlich, dass ich ab sofort alleine auf Ansitz gehen könne, ich wisse ja jetzt schon Bescheid. Auf die Wiese und den kleinen Schlag dahinter solle ich mich konzentrieren und natürlich auf den starken Bock, den er mir noch einmal beschrieb, so gut er konnte. An der linken Stange hätte er ein zusätzliches Ende nach hinten, das mache ihn unverwechselbar. Er selbst hätte gerade jetzt sehr viel Arbeit am Hof und am Feld, das möge ich verstehen. Freilich verstand ich das, und ich freute mich über das Vertrauen, das er mir damit entgegenbrachte. Ich kündigte an, schon am nächsten Morgen wieder hinauszugehen und verabschiedete mich nach einem gemütlichen Plauderstündchen frohgelaunt.

Es war bereits nach Mitternacht, als ich nach Hause kam, meine liebe Ehefrau war noch wach, sie hatte schon befürchtet, mich abholen zu müssen, weil ich beim Bock-Feiern versackt war. Nein, aber im Sommer ist der Tag halt so lang, man sitzt fast bis halb zehn am Hochsitz, und bis dann alles besprochen ist und die lange Heimfahrt …

Um halb 4 Uhr rasselte der Wecker, um halb 5 Uhr saß ich wieder auf dem Hochsitz. Unten am offenen Teil der Wiese meinte ich im diffusen Grau der langsam zurückweichenden Nacht die Umrisse von zwei oder drei Rehen zu erkennen, doch sie entschwanden, bevor mir das Licht des heraufdämmernden Tages erlaubt hätte, sie anzusprechen. Etwas später stand dann im rechten Eck der Wiese auf einmal ein junger Bock, suchte ein wenig nervös herum und drückte sich bald wieder ins Holz.

Die Sonne hob sich hinter meinem Rücken in den stahlblauen Himmel, ein prachtvoller Tag zog herauf, nur die Wiese vor mir blieb leer. Also pirschte ich bedächtig zurück, sah im großen Feld hinter dem Bauernhof weit entfernt noch drei Rehe, dann setzte ich mich ins Auto und rauschte nach Hause. Am Abend wollte ich etwas früher hinaus und nahm mir vor, auch meinen Rehfiep mitzunehmen (damit war ich damals allerdings noch sehr ungeübt).

Es war wirklich ein sehr heißer Tag, die Luft flimmerte noch, als ich es mir wieder gemütlich machte „im vorderen Winkel“, wie Fritz diesen Revierteil nannte. Und es dauerte tatsächlich nicht lange, ich drohte gerade ein wenig einzudösen, da stürmte eine Geiß daher, getrieben von einem Bock, den ich rasch als den bereits gestern gesehenen ansprechen konnte. Die beiden jagten über die Wiese, dass es eine Freude war, einmal fingen sie sich auch tatsächlich in einem Art „Hexenring“, doch so schnell wie sie gekommen waren, verließen sie die Bühne auch wieder. Ich war sicher, dass sich der Dreijährige darüber im Klaren war, dass er sich auf gefährlichem Terrain bewegte, nämlich im Einstandsgebiet eines viel stärkeren Bockes. Aber der zeigte sich nicht. Ich fiepte ein paarmal ein wenig zaghaft, die gewünschte Wirkung blieb aus. Ein malerischer Sonnenuntergang half mir über die erste leichte Enttäuschung hinweg.

Sonntag früh setzte ich mich wieder auf den Hochsitz, wieder sah ich den jungen Bock, diesmal ganz unten an der Wiesenöffnung, wie er seine Geiß ins Getreidefeld trieb. Kurz meinte ich, einen zweiten Bock gesehen zu haben, zum Ansprechen reichte es aber nicht.

Am Abend erinnerte ich mich an den Steig, den mir Fritz bei unserem ersten Ansitz gewiesen hatte, und pirschte ihn mit äußerster Vorsicht entlang, bis ich den kleinen Kahlschlag erreicht hatte, den der Fritz „hinterer Winkel“ nannte. Die Himbeerstauden waren gerade dabei, von der kleinen freien Fläche Besitz zu ergreifen, für einen Hochsitz hatte Fritz wohl noch keine Zeit gehabt. Ich kauerte mich an einen alten Wurzelkörper und konnte den Schlag ganz gut überblicken, also beschloss ich, sitzen zu bleiben. Vielleicht hatte der Bock seinen Einstand ja tatsächlich bis hierher ausgeweitet.

Nach einigen Minuten versuchte ich es mit dem Lockruf der Geiß. Nichts! Doch kurz bevor das Büchsenlicht zu schwinden drohte, stakste tatsächlich ein Reh aus dem Altholz. Es war ein Bock! Sehr starker Körperbau, aber doch irgendwie jugendlich, das Krickel massig und stark vereckt, aber kaum über Lauscher hoch. Das war nicht der Bock, den mir Fritz beschrieben hatte, das war ein junger, gut veranlagter, dem man jedenfalls noch ein paar Jahre geben sollte. Ich schaute ihm eine Zeit lang zu, wie er sich ein paar Blätter von den frischen, saftigen Stauden zupfte und schließlich verschwand, wie er gekommen war.

Als ich um die Stadlecke des stattlichen Bauernhofes einbog, stand der Fritz vor der Haustüre und rief mir von weitem schon ungläubig zu: „Wos is lous, wou is da Rehbock?“ Ich erzählte ihm wahrheitsgetreu, wie es mir ergangen war, und Fritz schüttelte ungläubig den Kopf. „Aber der Bock is do, deis is gaunz sicher, do muasst hiaz draubleibn, du kaust jederzeit ausigeih, wias’d holt Zeit host!“ Er zog mich mit hinein in die Stube, wo Cilli bereits eine zünftige Jause für mich aufgetischt hatte. „Mia hätt ma uns schou denkt, dass du heit mit’n Bock hoamkimmst“, grinste mich die Bäuerin an und stellte mir auch noch ein Bier auf den Tisch.

Nun hatte ich leider neben der Bockjagd auch noch etwas anderes zu tun und musste die nächsten Tage aussetzen. Am Mittwoch zum Abendansitz war ich aber wieder zur Stelle, eine kurze Besprechung mit Fritz ergab keine neuen Erkenntnisse, also setzte ich mich wieder auf den Hochsitz im „vorderen Winkel“. Das Wetter hatte umgeschlagen, der Himmel war bedeckt, und es war erheblich kühler, doch der Wind stand gut. Nur der Bock kam nicht. Auch am darauffolgenden Morgen saß ich drei Stunden vergebens auf dem Hochsitz. Ich muss gestehen, dass mich bereits die ersten Zweifel beschlichen, doch am Abend kam die Wende. Ich wagte ein paar zaghafte Fieplaute, und nach ein paar Minuten stand er da! Tatsächlich ein kapitaler Bock, so wie Fritz ihn mir beschrieben hatte, mit dem auffälligen, zusätzlichen Ende auf der linken Stange. Zur gleichen Zeit erschien allerdings von mir unbemerkt in der anderen Ecke der Bühne eine Geiß, und da war es um den Bock natürlich geschehen. In hohen Fluchten jagte er über die ganze Wiese, erreichte seine Angebetete und verschwand mit ihr im Unterholz, so schnell konnte ich gar nicht schauen.

Ich wartete bis zum allerletzten Büchsenlicht, doch sie kamen nicht mehr zurück. In der Bauernstube beim Fritz und bei der Cilli erzählte ich freudestrahlend von meinem Anblick und Fritz schmunzelte vor sich hin: „Na jo, auf an guaten Bock muass ma schou a poarmol geihn, sunst hot man neit vadient, deis is a oide Haubn.“ Ich nahm das zur Kenntnis, fuhr nach Hause und plante auch das kommende Wochenende jagdlich.

Am Freitagabend erschien im unteren Wieseneck gegen das Getreidefeld hin wieder der Dreijährige. Am Samstag blieb ich den ganzen Tag unten im „Unterland“, streifte auch über Mittag durchs Revier, fiepte da und dort, bekam noch einen weiteren jungen Bock in Anblick, der ebenfalls mit einer Geiß beschäftigt war. Am Sonntag in der Früh regnete es in Strömen, da trat mein Kapitaler ganz unten kurz aus dem Getreidefeld, für einen weidgerechten Schuss war es jedoch viel zu weit. Am Abend packte ich nach weiteren drei Hochsitzstunden meine Sachen und fuhr nach Hause, ein bisschen enttäuscht war ich schon. Fritz sprach mir unermüdlich Mut zu, ich solle nur ja nicht verzagen, ich würde ihn schon kriegen, versprach er mir.

Meine allerliebste Ehefrau, die verständnisvollste von allen, konnte nicht umhin, ihrem Befremden darüber Ausdruck zu verleihen, dass ich so unglaublich viel Zeit dafür verwendete, einem Rehbock nachzujagen. Meine Erklärungsversuche scheiterten erwartungsgemäß. Aber immerhin erkämpfte ich mir das Recht, auch das folgende Wochenende noch einmal jagdlich zu planen.

Mit Optimismus, der allerdings durchwachsen war von einem Hauch von Verzagtheit, das muss ich gestehen, machte ich mich auch am folgenden Freitag wieder auf den Weg ins Unterland. Mein Freund Fritz versicherte mir, dass er den bewussten Revierteil die ganze Woche über in Ruhe gelassen hätte und dass er nach wie vor sicher wäre, dass der Bock im vorderen Winkel seinen Einstand hätte. Das Wetter war gut, der Wind mäßig, als ich mich am Hochsitz einrichtete, stand er mir im Gesicht, also beste Voraussetzungen.


Eine gute Stunde tat sich nichts, ich genoss den lauschigen Abend und ließ mich von Vogelgezwitscher und Grillengezirpe verzaubern. Den Rehfiep packte ich nicht mehr aus, Fritz hatte gemeint, ich solle das lieber bleiben lassen. Und dann auf einmal: der Bock! Da stand er, dicht am Waldrand rechts oben, mit dem Stich zu mir, ich hatte das Gefühl, er äugte mir direkt in meine Augen! Langsam, wirklich ganz langsam hob ich das Glas, um mich zu vergewissern, der Bock stand da wie angewurzelt. Er war es, ohne Zweifel. Und wieder ganz langsam griff ich zur Büchse, der Bock konnte mich nicht im Wind haben, irgendetwas schien ihm aber doch nicht ganz zu passen.

Er begann zu äsen, warf aber immer wieder in kurzen Abständen auf. Er stand immer noch spitz, zog herein auf die Wiese, wurde immer schneller und sprang schließlich flüchtig gegen das Altholz zurück. Ich hatte ihn im Zielfernrohr. Jetzt sprach ich ihn nicht mehr an, sondern ich schrie ihn an. Und da machte er das „Haberl“, das sein Schicksal besiegeln sollte. Der Schuss krachte hinaus in die abendliche Dämmerung, so laut, kam mir vor, dass ihn auch meine Frau oben am Tauern gehört haben musste. Und wenn nicht den Schuss, dann den Jauchzer, der mir gleich darauf entfuhr, denn der Bock lag im Feuer! Es war bei Weitem der beste Bock, den ich bis dahin erlegt hatte.

Das war dann natürlich ein großes Hallo beim Fritz, der rief gleich noch ein paar Nachbarn zu sich ins Haus, und die emsige Cilli trug Jause und Getränke auf, dass sich der alte Bauerntisch bog, eine Bockfeier der zünftigen Art nahm ihren Lauf. Von Fritz bekam ich dann noch so eine Art Orden: Er hätte schon vielen Jägern einen Bockabschuss in seinem Revier ermöglicht, ich wäre derjenige gewesen, der mit Abstand am längsten dazu gebraucht hatte! Ich habe nachgerechnet, es waren 16 Pirschgänge gewesen. „Zache Jaga mochn Wüdbrat!“, lobte mich der Fritz und klopfte mir anerkennend auf die Schulter. Und meine liebe Frau oben am Tauern war auch nicht sonderlich böse darüber, dass ich die Nacht im gastlichen Haus von Fritz und Cilli verbrachte, an ein Nachhausefahren war nicht zu denken.

Als wir im November das erste Mal ins Stierkar aufstiegen und Ausschau hielten nach einem passenden Gamsbock für Fritz, dachte ich kurz darüber nach, ob ich es ihm nicht auch ein wenig schwerer machen könnte und ihn zumindest beim ersten Mal auf gar keinen Fall zu Schuss kommen lassen sollte. Aber den Gedanken verwarf ich gleich, denn so etwas rächt sich meistens. Ich sah an diesem kalten und klaren Novembertag die Gämsen schon von Weitem in den Wandeln stehen, wir kamen bei passendem Wind gut heran, und Fritz erlegte mit sicherem Schuss seinen Gamsbock. Und die Freundschaft eines Gebirgsjägers mit einem Landler-Bauern, die mit einem jagdlichen (Bock-)Handel begonnen hatte, war für lange Zeit gefestigt.

Die Wilderer von der Schinderleit'n

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