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PEPITA 1968

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„Die Kinder schlafen“, sagt der Mann freundlich, „wenn Sie nur ab und an nach ihnen sehen würden. Sie können sich in der verbleibenden Zeit mit Ihrer Arbeit befassen.“ Er lächelt. Marga forscht in seinem Gesicht. „Gönnerhaft, gönnerhaft ist das Lächeln“, hatte Eberhard gesagt, ohne es je gesehen zu haben. Sie sucht in diesem Lächeln. „Ist noch was?“, fragt der Mann und zögert. Irritiert greift sie nach ihrer Mappe, legt die Arbeitsbücher auf den Küchentisch. Sein Lächeln ist verschwunden, ohne dass sie das Gönnerhafte gefunden hätte.

„Ich werde für das Examen lernen“, sagt sie leise und blättert in einem ihrer Bücher.

„Und nehmen Sie sich etwas zu trinken, wir werden heute länger ausbleiben.“

Seine Frau hat die Küche betreten, ihre Absätze klappern auf den Fliesen. Als die Haustür ins Schloss fällt, steht ein Parfümduft in der Küche, der sich mit den Küchengerüchen mischt.

Nach den Kindern sehen. Das ist ihre Aufgabe. Marga zieht ihre Schuhe aus, stellt sie seitlich der Küchentür auf den Flur, ordentlich und nebeneinander. Sie hätte direkt vom Flur aus über die Treppe in das obere Stockwerk der Villa gehen können, um nach den Kindern zu sehen. Sie benutzt den Umweg über das Wohnzimmer, greift nach dem Lichtschalter, der große Deckenleuchter erhellt den Raum. Kristall an der Zimmerdecke. „Echte Teppiche sind es“, hatte die Frau bei ihrem ersten Besuch in der Villa gesagt, als sie sah, dass Margas Blick an den Teppichen hängen blieb. Was sind echte Teppiche? Marga weiß, es sind weiche Teppiche mit schönen Mustern und sanften Farben. Jetzt, allein in der Villa, stellt Marga einen Fuß in ein Muster hinein, rollt die Zehen zusammen. Dort, wo sie die Zehen gerollt hat, wird das Rot des Teppichmusters ein wenig dunkler. In der Mitte des Raumes liegt der größte und weichste Teppich, Marga weiß, dass es eine Fransenbürste gibt für diesen Teppich. Vielleicht wird sie später die Fransen bürsten. Einfach so, weil es schön ist. Marga hat sie gezählt: acht Teppiche liegen dicht nebeneinander in dem großen Wohnraum, hohe Fenster, edle, dunkle Möbel, alte Möbel. Marga zieht den Geruch des gewachsten Holzfußbodens ein und schließt die Augen.

„Hast du dich mal gefragt, woher das alles kommt?“, hatte Eberhard gesagt, als sie ihm von der Villa erzählte. Eberhard hatte sie bei den Schultern gepackt, sie geschüttelt. „Konfisziert natürlich, konfisziert! Und von wem? Denk nach!“ Eberhard war sehr aufgeregt gewesen, aufgebracht. „Eisengießerei, gegründet 1938! Überlege, wessen Kinder du hütest!“

Sie hatte damals geschwiegen, wollte das alles nicht hören. Es war schön in dem Haus, die Leute freundlich und die Bezahlung gut. Schließlich bekam sie keine Schecks von zu Hause. Der alte Trotz wegen der Schecks, den sie auch damals im Streit empfunden hatte, kriecht wieder hoch.. „Du bist unser Aushängeschild, Marga! Arbeiterklasse und klug! Du darfst dich nicht verkaufen, du verrätst unsere Idee! Das ist Establishment pur!“ – beschwörend hatte er sie angesehen.

Erst hatte sie geschwiegen, was sollte sie dazu sagen? Dann hatte sie versprochen, nicht wieder in die Fabrikantenvilla zu gehen. Es war ganz einfach, er hatte ihr sofort geglaubt.

Die Füße auf dem Teppich! Keiner darf es wissen! Es ist so gut, die Füße in dem weichen Teppich zu spüren! Und es ist gut, dass es keiner weiß.

Die Kinder schlafen, auf dem Küchentisch die Bücher: Mittelhochdeutsche Grammatik. Sie gießt sich Wasser aus der Leitung in einen Becher. Hier lernt es sich gut, es ist ruhig hier, Konzentration ist möglich. Und die braucht sie für die grammatischen Regeln. Sie muss das Examen schaffen. Hier sieht keiner, wenn sie für die Klausur lernt. Keine Rechtfertigungen. Mittelhochdeutsche Grammatik für das Examen. Sie will es schaffen. Drei Stunden bis jetzt, sie schaut auf die Küchenuhr. Das wird ein guter Verdienst. Sie ist zufrieden. Und die anderen müssen es ja nicht wissen. „Ich bin das Aushängeschild“, denkt Marga. So hatte Eberhard gesagt.

Ihre Füße werden kalt auf dem Fliesenboden der Küche. Sie gönnt sich eine Pause, steht auf. Im Flur der schicke Mantel an der Garderobe, sie schlüpft in die zierlichen Schuhe, die unter der Garderobe stehen, hoher Absatz, edles Leder. Der Mantel dazu, Pepitamuster, schwingender Saum. Sie dreht sich vor dem hohen Garderobenspiegel, aus dem Mantel steigt leichter Parfümgeruch. Im Bad sind Kämme, sie steckt ihre Haare hoch, Lippenstift, Pepita. Sie dreht sich seitlich zum Spiegel, das Kragenrevers schlägt sie hoch, neigt den Kopf mit der gesteckten Frisur über die Schulter, versucht verführerisch in den Spiegel zu schauen. Ein Schmollmund gehört dazu. Das kennt sie aus Filmen. So. Ja, so einer.

Sie verharrt vor dem Spiegel – sie gefällt sich in Pepita. Die Schuhe tänzeln, Fuß vor Fuß auf hohen Absätzen, vom Flur in die Küche, dort ist es heller. Das Klacken der Absätze auf den Fliesen folgt ihr. Sie hört es gern, dieses Klacken. Im Lichtschein der Deckenlampe wird das Fensterglas zum Spiegel. Sie schreitet zur Wohnzimmertür, der Pepitamantel wippt, sie greift den Wasserbecher, hält ihn wie ein Sektglas, kokett mit abgespreiztem Finger, von der Wohnzimmertür zurück zum Fenster, das jetzt ein Spiegel ist. Her und hin, Fuß vor Fuß. Pepita in der Scheibe.

Sie schreckt auf. Ein Geräusch hinter dem Fenster. Hinter dem spiegelnden Glas erkennt sie Eberhards Gesicht. Pepita auf der Scheibe, darin sein Gesicht – ein Pepitagesicht. Was hat er gesehen? Er soll nichts gesehen haben! Hastig flüchtet sie aus der Küche, schiebt die zierlichen Schuhe mit den hohen Absätzen zurück unter die Garderobe, hängt den Pepitamantel auf den Bügel, wartet atemlos. Hat sie sich getäuscht? Hinter der Haustür dann: „Also doch!“ Stille jetzt. Sie schleicht zur Tür. Durch den Türspion sieht sie Eberhards Gesicht. „Also doch!“ Sein heißer Atem kondensiert, er kommt näher an den Türspion. So nahe, dass die kleine runde Scheibe beschlägt und sie nichts mehr erkennt. „Mach auf!“, bestimmt er.

Dann steht Eberhard in der Küche. „Bürgerlicher geht’s wohl nicht.“ Er sieht sich um, seine Finger trommeln auf dem Küchentisch, er schnauft geräuschvoll durch die Nase, beugt sich vor, schiebt mit der flachen Hand die Bücher vom Tisch, sein Gesicht ist dem ihren ganz nahe, sie riecht den Alkohol: „Spießig!“ Marga weicht zurück, als Eberhard das Wort ausspuckt. Wegen des Geruchs weicht sie zurück und wegen des Klangs in seiner Stimme. Und wegen der Bücher auf dem Küchenboden.

„Sekt aus dem Wasserbecher?“ Er greift nach dem Becher, hält ihn unter seine Nase. „Hätte ich mir doch denken können, Wasser für die Bürgerliche“, sagt er wie zu sich selbst und geht auf den Kühlschrank zu. Er öffnet ihn und zieht eine Flasche Sekt hervor. „Gläser, aber feine Gläser für den Sekt und die Bürger!“ Laut ist seine Stimme. Marga steht auf, zögert, erschrickt, als der Sektkorken mit lautem Knall an die Decke der Küche schießt. „Eberhard“!

„Eberhard, die Kinder!“ Hilflos sieht sie zu, wie er die Wohnzimmertür öffnet, das Licht anschaltet, ihm ein zynisches ‚Ah’ entfährt, er mit zwei Kristallgläsern zurückkommt. Seine Schuhe hat er nicht ausgezogen. Marga fühlt ihre kalten Füße auf dem Fliesenboden der Küche. Sie stellt sich vor, wie er mit seinen Straßenschuhen auf die weichen Teppiche im Wohnzimmer getreten ist.

Sie hört das Sprudeln des Sekts in den Gläsern, und sie hört den Schlüssel in der Haustür.

Marga will nach den Sektgläsern greifen, will sie verstecken, irgendwo in der Küche will sie sie verstecken, sie fallen vom Tisch, der Sekt zischt. Wie Diamanten gleiten die Kristallstückchen glitzernd über die Küchenfliesen.

„Und wer sind Sie?“, die Frage steht im Raum. Eberhard sitzt vorn auf der Stuhlkante, den Oberkörper nach hinten gegen die Lehne geschoben. Ein Bein hat er lässig ausgestreckt, das andere hält ihn auf dem Stuhl. Langsam zieht er den Reißverschluss seines Parkas auf, schiebt ebenso langsam den Parka auseinander, während er unverwandt auf den Mann im Türrahmen der Küche starrt. Marga sieht, wie sein violettes Shirt unter dem Olivgrün des Parkas sichtbar wird, darauf die gelben Buchstaben, einer nach dem anderen, bis der Schriftzug lesbar ist. Der gelbe Schriftzug flirrt auf dem Violett. Alle tragen das Shirt mit der gelben Schrift. „Enteignet Springer!“ Sie kennt diesen Spruch.

„Für vier Stunden zwanzig Mark. Verlassen Sie jetzt mein Haus! Beide!“

Sie hätte erklären wollen, die Scherben auffegen, nachsehen, ob seine Schuhe Schmutz auf dem Teppich zurückgelassen hatten, die Fransen kämmen wollen.

Aber sie hebt ihre Bücher von den Fliesen auf und schiebt sie in die Mappe.

Der Mann lächelt, als er ihr den Geldschein entgegenhält.

Marga sucht etwas in diesem Lächeln.

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