Читать книгу Eine neue Göttin für Myan - Sigrid Jamnig - Страница 7

Kapitel 4

Оглавление

Die Probe dauerte zwei Stunden. Ally hatte Christopher danach nicht wiedergesehen. Die Gefühle, die sie in seiner Gegenwart verspürte, sollte sie nicht haben.

Die junge Frau war nun auf dem Weg nach Hause. Manche Mitglieder des Chors gingen nach der Probe noch etwas trinken. Ally hatte sich dem noch nie angeschlossen. Sie hätte viel zu viel Angst vor einer längeren Unterhaltung, weil sie nach wenigen Minuten schon nicht mehr wissen würde, was sie sagen sollte.

Es war dunkel, und die spärlichen Straßenlaternen spendeten nur wenig Licht. Aus einigen Fenstern der umliegenden Wohnungen fiel Licht auf die Straße. Alle Parkplätze an den Seiten waren belegt. Ally war mit ihren Gedanken bei Christopher. Sie achtete nicht auf ihre Umgebung. Es waren sonst keine Menschen in dieser Gasse. Doch in diesem Moment tauchten hinter ihr drei Männer auf.

Aber davon bekam Ally nichts mit. Sie ging einfach weiter die Straße entlang. Einer der Männer hob die rechte Hand. Es schien, als ob er etwas werfen würde, aber seine Hand war leer. Kurz darauf löste sich jedoch eine leuchtend rote Kugel aus seiner Hand. Der brennende Ball flog auf Ally zu.

Im nächsten Moment wurde Ally umgeworfen. Sie krachte gegen die Hausmauer und rutschte auf den Boden. Instinktiv hatte sie die Hände gehoben. Auf der Handfläche und dem Handgelenk hatte sie Schürfwunden. „Hey!“, war das erste, das ihr in den Sinn kam. Direkt gefolgt von: „Aua!“

Die brennende Kugel traf stattdessen eines der parkenden Autos. Mit einem lauten Knall flog das Fahrzeug in die Luft. Teile des Autos wurden weggeschleudert. Ally riss ihre Hände vor das Gesicht – aber keines der Teile erreichte sie. Stattdessen prallten sie an einer unsichtbaren Wand ab. Immer wenn ein Teil die Wand berührte, leuchtete diese kurz hellrosa auf. Durch die Explosion waren auch die benachbarten Autos beschädigt worden. Fensterscheiben waren zu Bruch gegangen. Aber dennoch rührte sich nichts. Nirgendwo liefen panische Menschen auf die Straße. Kein Fenster wurde geöffnet, und weder die Polizei noch die Feuerwehr war im Anmarsch.

Die Hitze des brennenden Autos schlug ihr entgegen.

Ally stand mühsam auf und drehte sich um. Hinter ihr stand eine Frau. Sie war weiß gekleidet. Ally vermutete, dass es sich um einen Engel oder eine Göttin handeln musste. Die Frau hatte blonde Locken. Ihr Gesicht konnte sie nicht sehen.

Erst jetzt entdeckte Ally die Männer. Einer von ihnen war noch sehr jung, trug Jeans, Turnschuhe und ein T-Shirt einer Musikgruppe, von der Ally noch nie etwas gehört hatte. Seine langen Haare waren zu einem Pferdeschwanz gebunden. Ein weiterer hatte kurze und ebenso schwarze Haare. Auch er trug Jeans, dazu aber ein schwarzes Hemd. Der letzte von ihnen, mit kurzen schwarzen Locken, welche bis zu den Ohren reichten, trug einen dunklen Anzug, aber ohne Krawatte. Durch die gleichen markanten Gesichtszüge war zu erkennen, dass sie miteinander verwandt sein mussten. Ihre Augen lagen im Schatten, und so konnte man sie nicht sehen.

Einen Augenblick war es still. Es war nur das Knistern des brennenden Autos zu hören. Die drei Männer starrten den Engel an.

„Lucy!“, knurrte der Mann im Anzug.

„Jaaa?“, meinte die Frau. Lucy. Sie zog das Wort in die Länge. „Ian, Alex und Florian McNail!“, sprach sie die Männer nacheinander streng, geradezu autoritär, an. Wieder machte sie eine kleine Pause. Als sie das nächste Mal sprach, passte dies überhaupt nicht mehr zu dem strengen Tonfall, den sie eben verwendet hatte. Nun klang ihre Stimme eher verwundert und locker.

„Was macht ihr denn hier?“ Lucy trat einen Schritt auf sie zu. „Habt ihr gerade tatsächlich Alyssa einfach angegriffen?“ Sie schüttelte den Kopf. „Das passt so gar nicht zu euch!“ Aber keiner der drei Männer antwortete ihr. Sie starrten sie einfach weiter an. Gerade als Ally sich wieder wunderte, warum immer noch keine Polizei aufgetaucht war, richtete der Mann mit den kurzen Haaren die Hand auf den Engel. Irgendwie wirkten die Männer nicht so, als wären sie freiwillig hier. Sie wirkten eher wie Marionetten. Aus seiner Hand löste sich wieder einer dieser Feuerbälle, aber Lucy war darauf vorbereitet. Der Engel hatte die Hände erhoben, fast so, als wollte sie den Ball fangen. Der Feuerball wurde langsamer, und wenige Zentimeter vor Lucy hielt der Ball einfach an. Sie griff danach, aber sie berührte den Ball nicht wirklich. Stattdessen hielt sie die Hände über und unter dem Ball. Um die Kugel schien es zu flackern, und der Ball war von leichtem Nebel umgeben. Und dann verpuffte er einfach ins Nichts, aus dem er gekommen war.

„War das schon alles?“, fragte Lucy. Anscheinend kannte sie die Angreifer. So als hätte Lucys Aussage in den Köpfen der drei Männer irgendeinen Schalter umgelegt, gingen alle drei plötzlich gleichzeitig auf sie los. Die Magie schien vergessen. Ally fragte sich, warum Lucy sie nicht einfach in eine Starre versetzen oder sie einschlafen lassen konnte. Einen Augenblick wollte Ally ihr das auch raten, aber Lucy hatte keine Probleme mit der handgreiflichen Auseinandersetzung. Die Brüder wollten den Engel packen, doch sie schien die Bewegungen kommen zu sehen. Sie duckte sich unter Ians Arm hinweg und schubste Alex ein klein wenig, sodass er über seinen Bruder stolperte. Alex und Ian waren hingefallen und standen sich gegenseitig beim wieder Aufstehen im Weg. Lucy stand nun direkt zwischen Florian und dem Knäuel aus seinen Brüdern, die aussahen, als müssten sie sich nach einer Partie Twister wieder entknoten. Florian drehte sich zu Lucy und wollte sie wieder packen. Er machte einen weiteren Schritt nach vor. Lucy sah ihn kommen, stand jedoch still und wartete bis zum letzten Moment, ehe sie ihm einfach aus dem Weg trat. Florian konnte nicht mehr rechtzeitig anhalten und stürzte nun ebenfalls über seine Brüder. Lucy schüttelte den Kopf.

„Was ist nur in euch gefahren?“ Wieder antworteten ihr die Brüder nicht. Mühsam standen sie nacheinander auf. Immer noch starrten sie den Engel an, bevor sie im nächsten Moment sie einfach in einem Lichtblitz verschwanden.

Ally hatte sich in der Zwischenzeit aufgerichtet und kam nun mit wackeligen Schritten auf den Engel zu.

„Ist es vorbei?“, fragte sie leise. Der Engel drehte sich zu ihr um. Lucy lächelte breit.

„Ich denke schon!“ Ally schaute von dem nur mehr leicht rauchenden Auto zu der Stelle, wo eben noch die Brüder gestanden hatten.

„Was war das gerade?“

„Das, Ally, waren Dämonen!“ Lucy hatte freundliche, helle Augen und wirkte sehr fröhlich.

„Dämonen?“ flüsterte Ally verwundert. „Aber was wollen denn Dämonen von mir?“ Auf diese Frage hatte Lucy keine Antwort.

„Es ist für die Brüder absolut ungewöhnlich, dass sie überhaupt jemanden angreifen“, meinte sie. Da es auf ihre drängendste Frage keine Antwort gab, wollte Ally das nächste höchst Merkwürdige wissen.

„Warum ist keine Polizei oder so aufgetaucht?“

„Sie hätten nur gestört und ohnehin nicht helfen können“, erklärte Lucy und wandte sich dann den zerstörten Autos zu. Wieder hob sie die Hände. Ein Wind kam auf. Magie lag in der Luft. Der Rauch verzog sich. Die zersprungenen Scheiben setzten sich von alleine wieder zusammen. Das Auto, gerade noch ein Wrack, sah plötzlich wieder aus wie vorher. Überhaupt sah es nach wenigen Minuten auf der Straße so aus, als wäre nie etwas geschehen.

„Siehst du? So gut wie neu!“ meinte Lucy zufrieden. „Ich heiße übrigens Lucy“, fügte sie hinzu. Das hatte Ally zwar bereits mitbekommen, aber auch sie stellte sich vor.

„Bist du ein Engel?“, platzte es dann aus ihr heraus. Sofort war es ihr unangenehm. „Es tut mir leid, ich wollte ...“

Aber Lucy winkte ab. „Schon gut! Ja, ich bin ein Engel.“ Ally war nun etwas mulmig zumute. Heute war ein ungewöhnlicher Tag. Zuerst wurde ihr mitgeteilt, dass sie eine Göttin war und Unterricht besuchen musste, dann hatte sie höchst unpassende Gefühle für einen Priester. Und jetzt wurde sie auch noch von Dämonen angegriffen.

Lucy schien zu merken, dass sie etwas bedrückte. „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich werde mit Tina und Christine darüber reden. Es werden dich keine Dämonen mehr angreifen. Du bis vollkommen sicher. Wir werden dich beschützen.“

Ally lächelte dankbar. „Es ist nicht nur das“, sagte sie leise. „Der ganze Tag war schon unglaublich!“

„Ich weiß, was du meinst. Als ich gestorben bin und mir gesagt wurde, dass diese Welt existiert und ich ein Engel sein kann, hat es mich umgehauen.“

„Du bist gestorben?“

„Ja.“ Lucy schaute etwas verträumt. „Kaum zu glauben, dass das schon zweihundert Jahre her ist.“

Als Lucy Allys verdutzten Blick sah, musste sie lächeln. „Die meisten Engel sind Menschen, die gestorben sind und dann als Engel weiterleben“, erkläre sie ihr.

„Also gibt es doch ein ewiges Leben?“

Lucy schüttelte den Kopf. „Man muss ein gutes und anständiges Leben geführt haben, dann kann man ein Engel werden. Ansonsten wird man einfach wiedergeboren.“ Für Ally ergab das viel Sinn. Im Vergleich zur Erde war Myan sehr klein. Wo sollten denn sonst die ganzen Leute hin?

Trotz der vielen Fragen, welche in Allys Kopf herumgeisterten, wusste die junge Frau nicht, was sie als nächstes sagen sollte. Sie hatte, wie so oft, ein beklemmendes Gefühl, dass jedes weitere Wort nicht passend wäre. Also schwieg sie. Sie schaute sich um. Es war noch relativ früh, und dennoch fühlte sie sich so unglaublich müde.

„Ich bringe dich nach Hause“, sagte Lucy schließlich.

Ally aber winkte ab. „Ich wohne doch gleich hier!“ Mit der Hand wies sie auf ein zweiflügeliges Haustor mit Drahtglasscheiben wenige Meter weiter.

„Das weiß ich doch!“ Lucy lächelte. „Aber ich muss doch einen Schutzzauber über deine Wohnung legen.“

Zusammen betraten sie das Haus. Allys Wohnung lag im ersten Stock. Den Weg dorthin legten sie schweigend zurück. Der Flur lag dunkel vor ihnen. Die wenigen Lampen spendeten nur spärliches Licht. Die meisten Sandsteinstufen waren teilweise ausgebrochen, und auch an den Wänden bröckelte der Verputz ab.

Erst als die Tür zu Allys Wohnung hinter ihnen ins Schloss fiel, ergriff Lucy wieder das Wort: „Du wohnst nicht gerade in einem hübschen Haus.“ Sie schaute sich in der kleinen Wohnung um, welche nur aus einer großen Küche, einem winzigen Kabinett und einem noch kleineren Bad besand. „Aber hier ist es richtig nett!“

Ally dankte ihr schüchtern und führte Lucy in die Wohnküche. Die Möbel passten allesamt nicht zusammen. Aber Ally fühlte sich in diesem kreativen Chaos, wie sie es nannte, sehr wohl. Sie war neugierig. Bis auf das Beamen oder … wie hieß das noch gleich ... das Taylen hatte sie noch kaum Magie gesehen, und sie war gespannt, wie Lucy ihre Wohnung sicherer machen wollte. Zuerst schaute Lucy sich um. Sie warf sogar einen Blick in das Bad und das Schlafzimmer.

„Das ist einfach“, erklärte Lucy ihr. „Deine Wohnung ist nicht groß!“

Ally stand immer noch in der Mitte ihres Wohnzimmers. Lucy kam wieder zu ihr.

„Gib mir deine Hand!“ Unsicher streckte Ally die Hand aus. Lucy ergriff sie und fragte: „Gibt es irgendwelche Zeichen oder Symbole, welche dir besonders gut gefallen?“ Ally wusste nicht, was die Frage zu bedeuten hatte, und natürlich fiel ihr in genau diesem Moment nichts ein. Daher schüttelte sie den Kopf.

„Na gut, wenn das so ist … was hältst du von einem Stern?“

„Okay!“, sagte Ally leise. Lucy hielt ihre Hand und schloss einen Augenblick die Augen. Es dauerte nur wenige Sekunden. Wärme pulsierte in ihrer Hand. Ein paar Lichtfunken tanzten um die Hände herum. Lucy sagte beschwörend: „Nocram ora est“. Die Lichtpunkte bündelten sich über Lucys Hand und bildeten einen kleinen goldenen Stern. Lucy ließ Allys Hand los und nahm den Stern mit beiden Händen. Es sah aus, als würde sie den Stern in einer Glaskugel tragen. Sie ging zur Eingangstür und drückte den Stern auf die rechte obere Ecke der Tür. Dort leuchtete er einen Moment auf und heftete sich dann an die Tür. Es sah aus, als hätte jemand einen goldenen Sticker in die Ecke geklebt.

Ally war Lucy in den kleinen Flur gefolgt. „Was ist das?“, wollte sie schließlich wissen.

„Ein Schutzzauber“, erklärte ihr Lucy. „Es werden nur mehr jene Menschen und andere Wesen deine Wohnung betreten können, welchen du den Zutritt erlaubst.“

„Und woher weiß der Stern das?“ Ally betrachtete den kleinen goldenen Stern skeptisch. „Nicht der Stern, der Zauber kann jede Form haben.“

„Na gut, und woher weiß der Zauber das?“

„Er kann es fühlen.“ Mit dieser Antwort konnte Ally nicht wirklich etwas anfangen. Lucy lächelte, als sie Allys fragendes Gesicht sah. „Jeder und alles um uns herum sendet Wellen aus. Man kann sie nicht sehen, aber diese Wellen beinhalten alles, was es über dich zu wissen gibt“, erläuterte sie.

„Und der Zauber kann das lesen?“ Während Ally so darüber nachdachte, kam ihr ein unguter Gedanke. „Können auch andere Menschen diese Wellen lesen?“

Lucy schüttelte den Kopf. „Nur Götter und Engel können die Wellen lesen. Manche können die Wellen spüren oder sehen, aber nicht entziffern. Sie nennen es dann Aura.“

Ally dachte über das Gehörte nach. Irgendwann würde sie auch lernen, wie sie diese Wellen lesen konnte.

„Du bist jetzt vollkommen sicher!“, erklärte Lucy. „Ich muss jetzt weiter. Es gibt noch andere Dämonen, welchen ich in den Hintern treten muss!“ Sie lächelte und verschwand in einem hellen Lichtblitz.

„Wiedersehen!“ Ally bezweifelte, dass Lucy die Verabschiedung gehört hatte. Sie schaute sich in ihrer kleinen leeren und dunklen Wohnung um. Sie hatte das Licht gar nicht eingeschaltet. Mit einem Mal fühlte sie sich ganz alleine und trotz des Schutzzaubers überhaupt nicht sicher. Sie hatte noch nie Angst davor gehabt, dass jemand in ihre Wohnung einbrechen könnte. Aber die Dämonen verursachten in ihr doch ein mulmiges Gefühl.

Ally atmete tief durch und ging in die Wohnküche zurück. Während sie den Fernseher einschaltete, nahm sie sich fest vor, diesen Abend so zu verbringen wie jeden anderen auch. Selbst wenn sie wusste, dass sie die Erlebnisse nicht loslassen würden. Heute war der letzte Tag ihres alten Lebens. Morgen würde ein neues beginnen.

Eine neue Göttin für Myan

Подняться наверх