Читать книгу Eine neue Göttin für Myan - Sigrid Jamnig - Страница 8
Kapitel 5
ОглавлениеDie Zeit war bereits weit fortgeschritten, als Ally am nächsten Morgen die Augen aufschlug. Im ersten Moment dachte sie, dass sie zu spät nach Myan kommen würde, aber dann fiel ihr die Zeitverschiebung wieder ein. Sie starrte an die Decke und dachte an die Geschehnisse vom Vortag. Sie konnten doch nicht wirklich sie gemeint haben? Ally konnte nun wirklich keine Göttin sein. Sie war doch einfach nur ein Niemand. Ganz allein. Und sie hatte keinen Platz in dieser Welt. Aber Myan? Vielleicht war ihr Platz auf diesem fremden Planeten? Sie versuchte positiv zu denken, aber das Gefühl, dass alles in einer großen Enttäuschung enden würde, drängte sich auf. Nun gab es noch mehr Leute, die sie enttäuschen konnte. Und wenn sie jetzt einen Fehler machte, dann könnte dies auch Auswirkungen auf die gesamte Menschheit haben. Vielleicht nicht jetzt sofort, aber dann, wenn sie ihre Kräfte erst einmal beherrschte. Auf der einen Seite konnte sie es gar nicht erwarten, damit anzufangen. Auf der anderen Seite fürchtete sie sich vor der Zukunft und den möglichen Konsequenzen.
Ein Blick auf ihr Handy sagte ihr, dass es jetzt neun Uhr war. Dafür, dass sie ziemlich früh ins Bett gegangen war, hatte sie doch lange geschlafen. Aber Ally hatte stundenlang nicht einschlafen können. Zu viele Gedanken waren ihr durch den Kopf gegangen. Warum hatten diese Dämonen sie angegriffen? Warum sollte ausgerechnet sie eine Göttin sein? Warum empfand sie die Gefühle, nach denen sie sich so lange gesehnt hatte, ausgerechnet für einen Priester? Warum hatte das Leben so ein schlechtes Timing? Es konnte ja nicht eines nach dem anderen kommen, nein, es musste ja unbedingt alles auf einmal sein.
Ally überlegte, was sie die nächsten vier Stunden machen sollte, bevor sie sich mit Tina treffen würde, um etwas über Magie zu lernen. Aufstehen oder im Bett bleiben? Beides reizte sie nur wenig. Nach einigen Minuten entschied sie sich, aufzustehen und eine Zeitung zu holen. Sie wollte wissen, was auf der Welt los war und ob sie vielleicht erkennen konnte, wo die Götter und Engel ihre Hände im Spiel hatten. Ally war neugierig. Also schwang sie ihre Beine aus dem Bett und setzte sich auf. Es war kühl in der Wohnung, und Ally trug nur ein kurzes seidenes Nachthemd. Ursprünglich wollte sie ihr sexy Negligé für besondere Momente aufheben, aber dann erkannte sie, dass das Leben zu kurz war und sie nicht einmal wusste, ob es überhaupt irgendwann einen Mann in ihrem Leben geben würde, welchem sie diese Gewänder zeigen wollte. Rasch schlüpfte sie in Jeans und T-Shirt und ging ins Bad.
Wenig später verließ Ally ihre Wohnung. Der Weg zur nächstgelegenen Trafik führte wieder an der Kirche vorbei. Wie jedes Mal, wenn Ally die Wohnung verließ, hatte sie auch jetzt ihre Kopfhörer auf. Beim Gehen und von der Musik begleitet konnte sie gut nachdenken. Sie überlegte gerade, wie ihre Zukunft aussehen würde, als sie plötzlich jemand ansprach. Erschrocken sah sie auf. Vor ihr stand Herr Baily. Ally hatte nicht erwartet, ihn so schnell wiederzusehen.
„Guten Morgen!“, sagte sie leise und zog sich dabei die Ohrstöpsel aus den Ohren.
„Ich wollte Sie nicht erschrecken.“ Er lächelte sie an. Ally kam nicht umhin zu bemerken, dass er ein schönes Lächeln hatte.
„Haben Sie nicht!“ winkte Ally ab und lächelte ebenfalls. Sie wurde noch um einiges nervöser als sonst, wenn sie mit jemandem sprach.
„Wie geht es Ihnen?“, fragte er höflich. Ally schluckte. Für sie war es neu, dass jemand sie auf der Straße ansprach. Mit dem letzten Priester hatte sie kaum ein Wort gewechselt.
„Gut und Ihnen?“ Ally mochten keinen Smalltalk. Diese Gespräche fühlten sich immer so gezwungen an. Aber sie redete auch sonst nicht wirklich gern.
„Auch gut!“
In Ally kämpften im Moment zwei Gefühle. Das eine waren die Fluchtgedanken, welche sie immer hatte, wenn sie mit jemandem redete und nicht mehr wusste, was sie als nächstes sagen sollte. Das andere war das komplett entgegengesetzte Gefühl: Sie würde gern bleiben. So etwas war ihr noch nie passiert.
Letztendlich entschied sie sich für die Flucht. Sie verabschiedete sich, wünschte noch einen schönen Tag und ging weiter.
Christopher sah der ungewöhnlichen Frau hinterher. Sie schien sehr nervös. In ihrer Gegenwart hatte er plötzlich Gefühle, welche er seit Jahren nicht gehabt hatte. Diese Gefühle lagen weit vor seiner Priesterweihe. Im Grunde waren diese Gefühle nicht unbedingt schlecht, nur hatte er eben auch dieses Verlangen, seine Hand auszustrecken und ihre Wange zu berühren. Christopher versuchte, diese Gefühle abzuschütteln. Dann drehte er sich um und machte sich auf den Weg in den Pfarrhof. Heute Nachmittag fand ein Vorbereitungskurs für die Erstkommunion statt. Frau Konrad würde ihm dabei zur Hand gehen. Es war spannend für ihn, in die neue Gemeinde zu kommen. Seine Weihe lag erst ein Jahr zurück. Bisher hatte er seine Tage in einem Kloster nicht weit von hier verbracht, aber dann war der zuständige Priester im hohen Alter friedlich entschlafen, und er wurde dazu auserwählt, seinen Platz einzunehmen.
Im Pfarrhof angekommen, stellte Christopher fest, dass die Kinder noch nicht hier waren. Frau Konrad stand jedoch bereits in dem großen Raum im Erdgeschoss. Sie stellte weiße Kerzen und bunte Blätter aus Wachs bereit. Frau Konrad hatte ihm gestern bereits gesagt, dass sie geplant hatte, heute Kerzen zu verzieren.
Als er eintrat, sah sie auf und begrüßte ihn. „Guten Tag!“ grüßte er zurück. Frau Konrad lächelte beruhigend und fragte: „Nervös?“
„Ein wenig. Ich mache das zum ersten Mal!“
„Die Kinder sind alle reizend. Kein Grund, nervös zu sein.“
Eigentlich hatte Christopher gerade gar nicht mehr daran gedacht, dass er etwas aufgeregt war. Er hatte nur an die junge Frau gedacht, die ihm gerade über den Weg gelaufen war.
„Auf dem Weg hierher habe ich Frau Sullivan getroffen“, meinte er beiläufig. Christopher befürchtete, seine Gefühle würden auf seiner Stirn geschrieben stehen.
„Sie ist ein nettes Mädchen, aber etwas schüchtern“, erwiderte Frau Konrad, während sie Scheren und Messer bereitlegte.
„Ja“, sagte er schlicht und versuchte, nicht daran zu denken, dass ihm auch andere Beschreibungen zu ihr einfallen würden, etwa sinnlich und sexy. In den letzten Jahren, in denen er im Zuge seiner Ausbildung viele Jahre in Rom und anderen Teilen der Erde verbrachte und viele Leute kennenlernte, hatte er nie auf diese Art an eine Frau gedacht. Aber jetzt bekam er diese Gedanken einfach nicht aus seinem Kopf. Jetzt musste er sich aber auf seine Aufgabe konzentrieren und daher fragte er nach den Kindern und was bisher gemacht worden war. Bevor Frau Konrad anfing, ihm davon zu berichten, glaubte er, bei ihr einen wissenden Blick zu bemerken, den er jedoch nicht recht zuordnen konnte.
Nun wusste Ally wieder, warum sie so ungern die Zeitung las oder Nachrichten im Fernsehen ansah. Da sie aber warten musste, bis sie sich nach Myan aufmachen konnte, wollte sie irgendwie die Zeit totschlagen. Doch es stand wieder einmal nichts Gutes in der Zeitung: nur traurige Meldungen oder düstere Prognosen, die das Bild des heutigen Tages prägten. Und natürlich der Promiklatsch, welcher Ally aber auch nicht sonderlich interessierte. Sie war zwar eine leidenschaftliche Kinogeherin bzw. Filmeguckerin, aber es war ihr egal, was die Schauspieler in ihrer Freizeit machten. Von den meisten Schauspielern wusste sie nicht einmal die Namen.
Seufzend blätterte Alyssa um. Sie saß in ihrer Wohnung am Küchentisch. Vor ihr stand ein leerer Kaffeebecher. ‚Wie kann jemand nur so etwas tun?’, fragte sie sich zum wiederholten Male, während sie einen ausführlichen Artikel über die Entführung einiger Geistlicher aus verschiedenen Religionen verstreut über den gesamten Erdball las. Die Religion war die einzige Verbindung. Es wurde vermutet, dass es sich um denselben Täter handelte. Aber ansonsten gab es keine Spuren. Sie waren einfach weg. Im einen Moment hielten sie eine Predigt, alles schien normal – und eine Stunde später waren sie einfach weg. Keine Zeugen. Keine Spuren.
Ally konnte nicht verstehen, warum jemand oder eher eine Gruppe von Menschen Priester entführen sollte. Was versprachen sie sich davon?
Obwohl ... Ally wusste ganz genau, was sie mit einem bestimmten Priester machen würde. Ihr wurde ganz heiß bei dem Gedanken, Christopher zu küssen. Seine Hände auf ihrem Körper zu spüren. Natürlich war das lächerlich. Er war ein Priester und mit Sicherheit nicht an ihr interessiert. Aber Gedanken waren harmlos. Nur hatte sie ein Verlangen danach, ihren Gedanken Taten folgen zu lassen. Trotz der Tatasche, dass sie ganz alleine in der Wohnung war, grinste sie peinlich berührt und versuchte, die Gedanken abzuschütteln. Bis jetzt war sie immer zu schüchtern und ängstlich gewesen, um einen Mann näher an sich heranzulassen. Warum fühlte es sich jetzt so anders an? Sie hatte Herr Baliy erst zweimal gesehen und nur wenige Worte mit ihm gewechselt. Allmählich glaubte Ally, dass das Schicksal es nicht gerade gut mit ihr meinte. Angesichts ihrer bisherigen Leistungen konnte Ally darauf vertrauen, dass sie diese Göttersache ganz fürchterlich in den Sand setzen würde. Sollte sie jemals den Mut dazu aufbringen, dann würde sie Sharon oder Shila davon erzählen.
Und dann waren da auch noch die Dämonen, welche sie gestern umbringen wollten. Lucy hatte nichts dazu gesagt, was sie von Ally wollten. Nur dass es untypisch für diese drei Männer war. Das half ihr aber nicht weiter. Der neue Schutzzauber an ihrer Wohnungstür trug nicht dazu bei, ihr ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. Was wollten sie von ihr? Möglicherweise war es ja eine Art Prestigesache, wenn Dämonen Götter tötetenn, und sie war ja immerhin noch neu im Geschäft.
Ally war überzeugt davon, dass etwas Schlimmes passieren würde. Diese ganze Göttinnensache musste irgendeinen Haken haben. Außerdem würde sie doch irgendwann auch gegen Dämonen kämpfen und Menschen helfen müssen. Dann wenn sie ihre Kräfte erst einmal beherrschen würde. Das nahm Ally zumindest an. Ob die Götter bei diesen Entführungen der Geistlichen etwas unternahmen? Es musste etwas Großes dahinterstecken. Schließlich passierten die Entführungen auf der ganzen Welt.
Ally hatte ihre Zeitung inzwischen zu Ende gelesen. Sie hatte sich nur schwer auf die Artikel konzentrieren können, da ihre Gedanken ganz durcheinander waren. Zudem war sie furchtbar nervös, was sie heute wohl erwarten würde. Heute würde klar werden, dass alles nur ein Missverständnis war. Inzwischen hatte Ally ziemliche Bauchschmerzen. Wenn ihre Ängste sehr groß waren, dann musste sie sich manchmal auch übergeben. So grenzte es an ein Wunder, dass sie den Schulabschluss überhaupt geschafft hatte.
Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es an der Zeit war aufzubrechen. Ally schloss ihre Wohnungstür ab. Dann nahm sie ihre Handtasche und den Tayler zur Hand. Mit zitternden Fingern wählte sie „Hauptquartier“ auf dem kleinen Apparat aus. Sie drückte den grünen Knopf. Wieder erfasste sie ein Gefühl der Leichtigkeit, und helles Licht umgab sie. Ally verlor den Boden unter den Füßen. Als das Licht sich wieder verzogen hatte, stand sie neben dem großen runden gelben Schild und schaute die breite Treppe zum großen Eingangstor hoch.
‚Na dann los!’ Ally atmete tief durch und schritt die Stufen hinauf. Zusammen mit einigen anderen betrat sie die Eingangshalle. Es schienen noch mehr Leute als gestern hier zu sein. Heute saß ein junger Mann mit kurzen blonden Haaren hinter der Rezeption.
Sie folgte der Treppe im Inneren nach oben und wandte sich dann nach links. Die Räume waren alle beschriftet. Auch der Flur war weiß gehalten und gefliest. Am Ende des Ganges war ein Fenster. Vor Raum 1.05 blieb Ally stehen und atmete tief durch. Sie hob die Hand und wollte klopfen. Da wurde die Tür aufgerissen und Tina stand vor ihr. Heute trug sie weiße Jeans und ein weißes T-Shirt mit einem hellblauen Muster. Ihre roten Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden.
„Hi Ally!“, sagte sie und lächelte.
Ally zuckte zusammen. „Hallo“, stammelte sie. Tina trat zur Seite und ließ sie einen kleinen Raum mit zwei Fenstern betreten. An den Wänden standen ein paar Tische, welche zur Seite gerückt waren. Die dazugehörigen Stühle waren übereinander gestapelt und ebenfalls an die Wand gerückt. Der Raum wirkte wie ein Klassenzimmer, nur dass vorne die Tafel fehlte. Die hintere Wand zierte ein großes Graffiti von einer roten Rose. Ansonsten war auch hier alles weiß. Ally stellte ihre Tasche auf einen der Sesselstapel direkt neben der Tür.
„Wie geht’s dir?“, fragte Tina und schloss die Tür hinter sich.
„Gut“, erwiderte Ally schlicht.
„Sehr gut, es war gestern wirklich viel auf einmal.“ Tina stellte sich in die Mitte des Raumes. „Wir fangen heute klein an“, erklärte sie dann. „Zuerst musst du die Magie in dir entdecken und anwenden. Da du bisher noch nie Magie benutzt hast, musst du die Sperre in dir überwinden. Wenn du Fragen hast, dann unterbrich mich einfach.“ Tina hob ihre rechte Hand und ließ sie langsam wieder sinken. Ihre Hand leuchtete wie eine Glühbirne. „Jeder sendet immer magische Wellen aus. Dieser einfache Zauber macht die Wellen sichtbar!“ Davon hatte Ally bereits gehört. Sie starrte das Licht verwundert an. „Das ist unglaublich.“
Tina ließ das Leuchten wieder verschwinden. „Das ist noch gar nichts“, lächelte sie. Eine kurze angedeutete Bewegung mit der Hand, und schon kam Bewegung in die wenigen Möbel. Die Tische hoben sich ruckelnd vom Boden ab und hielten in wenigen Metern Höhe. Einer der Tische hatte eine Schublade an der Vorderseite. Langsam öffnete sich die Lade, und ein kleiner roter Vogel flog zwitschernd hervor. Der kleine Vogel zog ein paar Kreise um die Deckenleuchte und ließ sich schließlich auf Tinas Schulter nieder. Die Möbel sanken wieder auf den Boden zurück.
„Kann ich das auch?“ Ally war beeindruckt, auch wenn alles wie ein Zaubertrick auf sie wirkte.
Tina nickte. „Jetzt bist du an der Reihe. Stell dich bequem hin und hebe deine Hand.“ Ally tat wie ihr geheißen. „Konzentriere dich auf deine Hand. Versuche, die Umgebung der Hand zu fühlen. Wie die Luft um deine Hände spielt.“ Tina tat es Ally gleich. „Überall um dich herum sind magische Wellen. Immer – zu jeder Zeit. Versuche, etwas zu fühlen, was nicht da ist. Stell dir dabei eine Kerze vor. Du fühlst die Wärme. Wie Luft kann man auch Wärme nicht sehen, nur fühlen. Bei magischen Wellen ist es genauso. Magie ist nichts anderes als die Manipulation dieser Wellen, damit der aussendende Gegenstand tut, was man möchte. Nun ist deine Hand dabei die Kerzenflamme, und die magischen Wellen sind die Wärme. Konzentriere dich auf diese Wärme und stell dir vor, sie würde leuchten wie eine Glühbirne.“ Tinas Hand fing wie auf Kommando an zu leuchten.
„Wie genau macht man dieses Leuchten sichtbar?“, wollte Ally daher wissen. Sie war in diesen Visualisierungen schon immer eher bescheiden gewesen. Ally konnte sich zwar alles vorstellen, aber nicht sehen. Nicht einmal vor ihrem inneren Auge.
„Du musst es wollen und an dich glauben, dass du es kannst. In der Magie hängt viel an Gefühlen und am Willen.“ Ally hatte noch nie wirklich Selbstvertrauen gehabt. Wie sollte sie also an sich glauben? Aber dennoch versuchte sie, diese Anregungen umzusetzen. Ihre Hand wurde auch tatsächlich ein wenig warm, aber Ally glaubte nicht, dass das etwas zu bedeuten hatte.
„Das ist ja mein Problem! Ich glaube nicht, dass ich das kann!“, sagte Ally leise. Es fiel ihr nicht leicht, das zuzugeben. „Gibt es keinen Zauber, welcher die Sperre einfach löst? Ich habe schon oft versucht, irgendetwas per Gedankenkraft zu bewegen, aber es hat sich noch nie etwas getan.“ Alyssa war verzweifelt. Und sie kam sich dumm vor, weil ihre Hand einfach nicht leuchten wollte. ‚Nun leuchte schon!’ Aber auch dieser gedankliche Befehl brachte ihre Finger nicht zum Glühen.
Tina schüttelte den Kopf. „Du hast es bestimmt schon oft versucht, aber noch nie geglaubt, dass du es tatsächlich kannst. Es war immer nur ein lustiger Versuch, oder?“ Wenn Ally so an ihre Versuche zurückdachte, dann musste sie Tina zustimmen. Es war immer nur ein Spaß gewesen. Ally hatte nie geglaubt, dass es wirklich funktionieren könnte.
„Wie ist es eigentlich zu dieser Sperre gekommen?“ fragte sie neugierig. Wenn man sie nicht mit Magie wegmachen konnte, dann hatte sie auch niemand verzaubert, sodass sie keine Magie anwenden konnte. Also musste es irgendeine andere Ursache geben.
„Das liegt nur daran, dass du in einer Welt aufgewachsen bist, welche nicht an Magie glaubt und deren Existenz abstreitet“, erklärte Tina. „Wenn ein Kind, welches auf Myan geboren wird, aus irgendwelchen Gründen auf der Erde bei Menschen aufwächst, welche diese Welt nicht kennen, dann würde es ihm genauso ergehen!“
Verwundert sah Ally auf. „Heißt das, die Sperre ist nur hier, weil alle sagen, dass es Magie nicht gibt?“ Tina nickte. „Aber ich glaube doch an Magie. Ich habe immer daran geglaubt, dass es irgendwo Magie gibt.“
„Ich weiß, aber du hast nie geglaubt, dass du Magie anwenden kannst“ Diese Unterhaltung machte Ally nachdenklich. Wenn das so einfach war, dann müsste es ja jeder können.
„Kann dann jeder einfach Magie anwenden, wenn er es will und daran glaubt?“, wollte sie daher wissen.
„Nein, man muss schon mit der Fähigkeit dazu geboren werden.“ Tinas Worte warfen die Frage auf, woher Ally die Fähigkeit dazu hatte. Ihre Eltern waren beide kein bisschen magisch begabt und – soweit sie wusste – auch niemand aus ihrer Familie. Diese Frage wollte Ally aber im Moment lieber nicht stellen. Stattdessen konzentrierte sie sich wieder auf ihre Hand. Sie versucht nur, daran zu denken, dass sie in der Lage war, solche Dinge zu vollbringen – aber ihre Hand schien das anders zu sehen.
Die Minuten strichen dahin. Es war still im Raum. Ab und zu hörte man ein leises Gezwitscher von dem Vogel. Aber das große Licht blieb aus.
„Manchmal wird so eine Sperre durch große Gefühle wie Wut, Liebe oder Angst eingerissen“, meinte Tina nach einigen Minuten. „Vielleicht sollten wir dich erschrecken?“
Jetzt musste Ally grinsen. „Mit Angst kenne ich mich aus!“, sagte sie dann skeptisch. „Aber bisher habe ich noch nie Magie angewandt!“ Die junge Frau hatte schon sehr oft mal mehr und mal weniger Angst gehabt, aber noch nie war etwas Merkwürdiges passiert.
„Was sind das für Ängste?“, wollte Tina schließlich wissen. Es fiel Ally nicht leicht, darüber zu sprechen. Stockend, schnell, leise und mit vielen Pausen erzählte sie Tina von ihren Problemen, sich mitzuteilen. Von der Angst, etwas Falsches zu sagen oder zu machen. Von der Angst, andere durch ihre Aussagen zu verletzen.
„Schlimm ist es vor allem, wenn ich vor vielen Leuten sprechen muss oder bei Vorstellungsgesprächen. Dann ist mir immer schlecht, ich habe Kopfschmerzen, und mir fällt noch weniger ein, was ich sagen soll. Daher habe ich auch immer noch keinen Job gefunden“, endete Ally ihre Erzählung. Tina schaute sie nachdenklich an. Einen Augenblick war es ganz still in dem kleinen Raum. Ally fühlte sich unter ihrem Blick schrecklich unwohl. Nervös spielte sie mit ihren langen schwarzen Haaren. Sie kam sich beobachtet vor.
„Ich glaube zu wissen, worin deine Sperre begründet ist“, sagte Tina langsam. Dann machte sie eine Pause. Immer noch sah sie Ally mit durchdringendem Blick an. „Wegen dieser Ängste glaubst du nicht an dich selbst, und du willst auch niemanden verletzen, weder emotional noch körperlich. Wenn man die Magie einmal freilässt, dann muss man lernen, sie zu kontrollieren, ansonsten wendet man immer Magie an, wenn man starke Gefühle hat, ohne es jedoch zu wollen.“ Das war im Grunde nichts Neues für Ally. Sie wusste, dass sie kein Selbstvertrauen hatte.
Um das Schweigen zu brechen, überwand sie sich zu sagen: „Und was machen wir jetzt?“
„Wir müssen eine Situation schaffen, wo die Angst um jemanden oder etwas stärker ist als die Angst, welche die Sperre zusammenhält“, erläuterte Tina kryptisch.
„Und wie genau wollen wir das anstellen?“
„Wir gehen jetzt Mittagessen, und ich erzähle dir etwas über Myan.“
„Inwiefern wird mir das helfen?“
„Gar nicht, nur kann man eine solche Situation nur schwer herbeiführen. Es bringt nämlich nicht wirklich etwas, wenn du weißt, dass ein solcher Umstand bewusst herbeigeführt wird.“ Nun wusste Ally erst recht nicht, wovon Tina sprach. Wenn sie einfach nur dasäßen und nichts täten, würde sie niemals Magie anwenden.
„Wie wollen wir die Sperre dann lösen?“ Ally war völlig verwirrt.
„Die Zeit wird unser Problem lösen.“ Noch so eine Aussage. aus der Ally überhaupt nicht schlau wurde.
„Und du weißt das woher?“ Tina blieb Ally eine Antwort schuldig.
„Ich denke. ich zeige dir Silenda, das ist die Hauptstadt, und ich weiß auch schon ganz genau, wo wir hingehen.“ Tina schien ziemlich sprunghaft zu sein. In dem einen Moment drehte sich alles um Allys Problem, und im nächsten Moment wollte Tina etwas ganz anderes machen.
„Also gut!“, meinte Ally dann und reichte Tina nach ihrer Aufforderung die Hand. Eigentlich hatte Ally keinen Hunger. Sie war viel zu nervös wegen der ganzen Sache, sodass sie nichts essen konnte. Aber dennoch ließ sie zu, dass Tina sie durch das vertraute weiße Licht und die Schwerelosigkeit an einen ganz anderen Ort brachte.