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Kapitel 4

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Jäh schreckte sie aus dem Schlaf, als jemand mit den Fäusten gegen die Tür trommelte. „Fräulein Sandy, wachen Sie auf. Fräulein! Etwas Schreckliches ist passiert.“

Schlaftrunken richtete sich Sandy auf, fast gelähmt vor Schreck rief sie mit schwacher Stimme: „Kommen Sie herein.“

Das alte Dienstmädchen, welches sie gestern empfangen hatte, stürzte mit angstverzerrtem Gesicht in das Zimmer. „Die Pflegerin!“, keuchte sie. „Sie ist vom Balkon gefallen. Sie schien kurzsichtig zu sein und hat übersehen, dass das Geländer abgebrochen war. Sie war auf der Stelle tot. Und Ihr Vater … oh, mein Gott … ich kann es nicht glauben.“

„Was ist mit meinem Vater?“, stieß Sandy heiser hervor und war mit einem Satz aus dem Bett.

„Sagen Sie doch was, so reden Sie“, schrie Sandy.

„Ihr Vater saß unten an seinem Schreibtisch im Büro und muss gesehen haben, wie die Pflegerin auf den Boden geschlagen war. Direkt danach war er zusammengebrochen, er lag steif da und redete wirres Zeug. Ich glaube, er hat den Verstand verloren. Er stammelt etwas von einer Frau, die wie ein Geist aussah.“

Von einem Gespenst? Von einer Geisterfrau? Sandy fuhr zurück, als hätte sie einen Stoß erhalten.

„Mein Vater hat noch nie an Gespenster geglaubt. Sie müssen sich verhört haben“, zweifelte Sandy das soeben Gehörte an.

Das Dienstmädchen beugte sich leicht zu Sandy vor. „Sie wissen doch sicher, was über den Besitz ihrer Großmutter erzählt wird? Es soll Unglück bedeuten, wenn jemand der Geisterfrau begegnet. Ihr Vater muss sie gesehen haben und kurz darauf brach sich die Pflegerin den Hals.“

„Aber Sie sind ja verrückt“, rief Sandy. Das Grauen, das sie spürte, mühsam verdrängend. „Wo ist mein Vater jetzt? Ich will zu ihm.“

„Sie haben ihn ins Wohnzimmer getragen, aber ich gehe nicht hinein. Ich habe die tote Pflegerin gesehen und mir ist immer noch ganz übel. Wenn Ihr Vater auch noch stirbt, nein Sandy das halte ich nicht aus. Meine Kollegin ist schon weggelaufen, uns beide sehen sie auch nie wieder.“

„Hören Sie mit dem Unsinn auf“, befahl Sandy. Sie war über den Klang ihrer eigenen Stimme erstaunt, wie hoch und schrill sie war.

Bevor sie zu ihrem Vater ging, stellte sie sich vor dem Dienstmädchen hin. „Wenn sie dieses Grundstück verlassen wollen, kann ich Sie nicht daran hindern. Gehen Sie und bestellen Sie meiner Tante, dass ich jetzt hier bin und ich werde mich um alles kümmern. Sie soll sich keine Sorgen machen.“

Sandys Vater lag reglos auf dem Sofa im Wohnzimmer, der neue Verwalter hatte es geschafft, ihn alleine auf das provisorische Lager zu betten. Mitfühlend nickt er ihr zu, als sie den Raum betrat. „Ich fürchte, Ihr Vater hatte einen Schlaganfall, der Arzt müsste aber gleich hier sein.“

Sandy schossen Tränen in die Augen, als sie ihren Vater so hilflos vor sich liegen sah.

Er schien das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. Das Herz krampfte sich ihr zusammen, als er den Mund öffnete und schloss, ohne dass ein Ton über seine Lippen kam. Nur seine großen, braunen Augen schienen in seinem Gesicht noch lebendig.

Offenbar wollte er ihr etwas Wichtiges sagen, aber er war zu kraftlos, um sich zu verständigen. Sandy kniete nieder und führte ihr Ohr dicht an den Mund ihres Vaters.

Sie hörte ein paar gurgelnde Laute, aus denen sie mit Mühe das Wort ‚Tote‘ heraushörte.

„Soll ich mich um die Beerdigung der verunglückten Pflegerin kümmern?“, fragte sie.

Die Augen Ihres Vaters wanderten von links nach rechts, was sie als nein deutete.

„Soll ich den Pfarrer kommen lassen?“

Wiederum wanderten seine Augen von links nach rechts, was sie erneut als nein deutete.

„Vielleicht möchte ihr Vater erst einmal auf den Arzt warten“, sagte der Verwalter.

Sandy konzentrierte sich auf das Gestammel ihres Vaters, um es zu verstehen. Dann richtete sie sich mit bleichem Gesicht auf. „Er will, dass ich das Gut sofort verlasse, er sagt, ich sei in Lebensgefahr.“

Der Verwalter nickte ernst, gab dem Mädchen einen Wink und zog es in eine Fensternische. Dort sagte er halblaut: „Ich glaube, sein Gehirn hat bei dem Schlaganfall gelitten, ich würde seinen Worten nicht allzu große Bedeutung beimessen.“

Sandy dachte einen Moment nach. „Das Dienstmädchen, das ihn gefunden hat, sagte mir, er habe etwas von einer Geisterfrau gestammelt, die er gesehen haben will und von der es heißt, sie gehe hier manchmal um.“

„Da haben sie die Bestätigung meiner Annahme, Fräulein“, sagte der Verwalter. „Der Schlaganfall hat sein Gehirn getrübt. Ich schlage vor, sie gehen zum Schein auf den Vorschlag Ihres Vaters ein, damit er beruhigt ist und dann warten sie auf dem Arzt.

„Ich verstehe nicht, wie mein Vater davon sprechen konnte“, sagte Sandy nachdenklich, „die Geschichte der Geisterfrau gehörte zum Dienstbotengerede. Von meiner Großmutter, die hier aufgewachsen ist, wurde sie auch hin und wieder erzählt.“

„Und was war das für eine Geschichte, Fräulein?“, fragte der Verwalter mit neugierigem Blick.

„Eine wunderschöne Witwe, die mit den Vorfahren meines Vaters verheiratet war, soll ihre Kinder vergiftet haben. Das nur, um ihren Geliebten nach dem Tod Ihres Mannes heiraten zu können. Das Verbrechen wurde aufgedeckt und die Mörderin zum Tode verurteilt. Seitdem heißt es, ihr ruheloser Geist irrt hier umher und wer ihm begegnet, muss mit einem Unglück rechnen. Das letzte Mal wurde sie angeblich im letzten Jahrhundert gesehen. Damals brach hier auf dem Besitz ein Feuer aus und ein Teil ist bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Aber das Ganze ist nur Aberglaube und mein Vater muss sehr krank sein, wenn er so fantasiert“, erklärte Sandy die Geschichte der Geisterfrau.

„Sie sind wohl sehr stolz auf ihren Vater?“, fragte der Verwalter mit wohlwollendem Lächeln.

Sandy nickte. „Oh ja, ich bin stolz auf ihn. Er ist der wunderbarste Mensch.“

Spuk im Gutshof

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