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Kapitel 6
ОглавлениеGroßmutter Isolde saß hoch aufgerichtet in ihrem Bett und las in einem Roman, als ihre Enkelin das Schlafzimmer betrat.
Um ihr immer noch schönes Gesicht kringelten sich weiße Löckchen. Ihre Augen hatten immer noch jenen Glanz, der sie zu einer schönen Frau machte.
„Meine liebe Sandy“, sagte sie und lächelte Sandy an.
„Wie schön, dich endlich wiederzusehen. Ich habe dich so sehr vermisst. Komm her und gib mir einen Kuss.“
Sandy eilte an das Bett und küsste ihre Oma herzlich auf die Wange.
Mit einem angestrengten Lächeln, versuchte sie, die schrecklichen Ereignisse des Morgens zu vergessen. Die alte Dame litt an Schwerhörigkeit und schien völlig ahnungslos zu sein.
„Tut dir dein Bein immer noch weh?“, fragte Sandy liebevoll.
„Nur wenn ich ungeschickte Bewegungen mache, Doktor Zander hat mich ganz gut zusammen geflickt. Ich kann sogar alleine vom Bett in den Rollstuhl, den er mir besorgt hat. Er ist ein ungewöhnlich guter Arzt. Doch nun lass dich erst mal ansehen.“ Sie legte ihren Kopf schief und musterte Sandy eingehend.
„Du wirst deiner Mutter immer ähnlicher“, stellte sie fest. „Deine Mutter war eine ungewöhnlich schöne Frau.“
Sandy errötete. Sie war noch sehr klein, als ihre Mutter starb, doch sie trug ein Medaillon, in dem ein Bild ihrer Mutter war. Dieses hütete sie wie einen Schatz.
„Sei so lieb und nimm das Tablett vom Beistelltisch, mein Liebling. Das Mädchen, welches mir heute Morgen das Frühstück brachte, hat vergessen, das Geschirr abzuräumen.“ Ihre Oma schüttelte ihre weißen Locken. „Ich weiß gar nicht, was hier heute Morgen los ist.“
Um die Kranke abzulenken, erwiderte Sandy rasch: „Vielleicht war das Mädchen etwas durcheinander. Ich nehme das Tablett nachher mit hinaus.“
„Das ist lieb von Dir, wann seid Ihr gestern Abend angekommen? Ich habe euch gar nicht gehört. Allerdings hat mein Gehör in letzter Zeit nachgelassen.“
„Wir waren kurz vor Mitternacht hier, du hast schon geschlafen“, gab Sandy zur Antwort.
„Unsinn, ich schlafe nie vor zwei Uhr Nachts.“
„Aber das Mädchen das uns empfing meinte, du hättest eine Tablette genommen, Oma.“
Die alte Frau dachte einen Moment nach: „Das mag schon stimmen, aber diese Mittel helfen mir schon lange nicht mehr. Eigentlich ist es sinnlos, welche zu nehmen. Habt Ihr schon Ferien?“, wechselte die Großmutter plötzlich das Thema.
„N… nein, aber das Schulgebäude wird renoviert, deshalb hat man uns schon eher frei gegeben.“ Sandy dankte dem Himmel, dass ihr diese Ausrede eingefallen war. Sie hatte sich vorgenommen, ihre Oma nicht durch Schreckensnachrichten zu beunruhigen.
Ohne zu ahnen, welche Sorgen ihre Enkelin bedrückten, plauderte sie über Gott und die Welt.
„Unser Haus scheint im Augenblick unter keinem guten Stern zu stehen“, stellte sie bedauernd fest. „Zuerst der plötzliche Tod unseres langjährigen Verwalters und dann hat seine Frau ihre Stellung gekündigt. Seitdem geht hier alles Drunter und Drüber.“
„Ich weiß, Oma. Tante Susanne hat mir in einem Brief alle Ereignisse geschildert.“
„Ach ja, meine liebe Sandy.“ Die Oma wiegte ihren Kopf hin und her. „Sie kränkelt in letzter Zeit. Sie hat ein schweres Leben hinter sich, und deshalb ist sie manchmal ungerecht.“
Sandy horchte auf. „Ungerecht? Wie meinst du das, Oma? Hattet ihr beide Streit?“
„Streit wäre zu viel gesagt, es geht vielmehr um deinen Cousin Jens. Er war ja schon immer ein schwieriges Kind. Ich finde aber, er hat sich in letzter Zeit gebessert. Die gute Susanne will es aber nicht anerkennen. Sie denkt, er könnte wieder in seinen alten Trott zurück fallen. Schuld sind das Kartenspielen und der Alkohol, aber wie gesagt er hat sich gebessert. Und er hat mir versprochen, dass das so bleibt.“
Sandy wusste, ihr Cousin Jens galt als schwarzes Schaf in der Familie. Tante Susanne hatte ihn als eigenes Kind angenommen, weil sie selbst keine Kinder bekommen konnte. In Wirklichkeit stammte Jens jedoch aus einer Verbindung ihres inzwischen verstorbenen Mannes und einer Tänzerin, die mit Zigeunern durch das Land gezogen war.
Sandy und Jens waren in den Ferien wie Geschwister aufgewachsen. Beide Kinder waren Halbwaisen. Sandy fehlte die Mutter, Jens der Vater. Der uneheliche Sohn ihres Mannes hatte Susanne mehr Kummer und Sorgen als Freude bereitet.
Die Streiche, die er als kleiner Junge verübte, waren manchmal recht makaber. Sandy erinnerte sich noch an einen ganz besonderen Scherz, den er seinen Angehörigen auf einem Gartenfest bereitete.
Ein Dienstmädchen störte die friedliche Feier der Gäste, indem Sie mit schriller Stimme rief: „Der Junge! Er hat sich umgebracht. Er liegt im Wintergarten. In seiner Brust steckt ein Messer und es ist alles voller Blut! Oh mein Gott!“
Die entsetzte Gesellschaft hetzte zum Schreckensort. Sie fanden Jens, so wie das Mädchen es beschrieben hatte. Einige Frauen fielen in Ohnmacht. Erst als ihr Vater zu dem leblosen Kind trat, stellte sich heraus, dass das Messer eine Attrappe war und das Blut in seinem Gesicht erwies sich als Erdbeermarmelade.
Bis auf seine Streiche verstanden sie sich jedoch recht gut. Er konnte sie immer zum Lachen bringen. Ihr Vater und Tante Susanne waren weniger gut auf ihn zu sprechen.
„Ich wünsche mir so sehr, dass die ganze Familie wieder vereint ist, bevor ich meine Augen für immer schließe“, hörte Sandy ihre Oma seufzen.
Sie erschrak, spürte die alte Frau ihr Ende nahen? Der Gedanke an ihren Tod erfüllte sie mit Entsetzen.
„Wie lange bleibst du, Sandy?“, fragte ihre Großmutter. „Oh, verzeih. Du bist gerade erst angekommen und schon will ich wissen, wann du wieder abreist. Nicht sehr höflich von mir. Ich glaube, ich bin schon ein wenig senil. Kein Wunder bei meinem Alter.“
„Du bist nicht alt, Oma. Persönlichkeiten wie du und Papa werden niemals alt“, war Sandys schnippische Antwort.
„Wo bleibt eigentlich dein Vater so lange? Will er seine Mutter nicht begrüßen, oder schläft er noch?“
Der gefürchtete Augenblick war gekommen. Fieberhaft überlegte Sandy, mit welchen Worten sie ihrer Großmutter die schrecklichen Tatsachen mitteilen sollte, da hörte sie eine Tür klappen. War das etwa dieser Doktor Zander, der seiner Patientin einen Krankenbesuch machen wollte?
Sie musste ihn draußen abfangen. Er durfte die alte Dame mit seiner ungehobelten Art nicht schockieren, dazu benötigte man Fingerspitzengefühl, das er bestimmt nicht besaß.
„Ich bin gleich wieder da, Großmutter“, sagte Sandy rasch, „ich bringe das Tablett hinunter. Bin gleich zurück!“