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ZWEI

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Fede hantierte am Gasherd, als Max aus dem Schlafabteil kroch. Sie hatte das Radio auf Zimmerlautstärke gestellt und sang zusammen mit Rihanna und Kanye West.

Wie machte sie das bloss? Frisch und ausgeschlafen schien sie, hatte sich ein langes ärmelloses Strandkleid übergezogen und die Haare hochgesteckt.

Der Campingtisch vor dem Zelt war aufgedeckt. Ein farbiges Tuch, darauf Teller, Tassen und Besteck nebst Butter und frischen Buttergipfeln. «Die Omelette kommt auch gleich.» Fede küsste ihn flüchtig, als er an ihr vorbeiging.

«Ich gehe duschen», sagte er und konnte ein Gähnen nicht vermeiden.

«Setz dich hin, das kannst du nachher tun. Wir müssen uns beeilen. Milagros hat mich angerufen. Die Chinesen wollen uns bereits um acht Uhr treffen, also eine Stunde früher als besprochen.»

«Und jetzt ist?»

«Viertel nach sieben. Ich weiss doch, wie sehr du ein Frühstück brauchst … nach dieser Nacht.»

Max setzte sich, überlegte, was Fede in der Nacht mit ihm angestellt haben mochte, entsann sich an nichts. Er strich sich durch das Haar, über das Gesicht und spürte die Bartstoppeln spriessen. Ohne Rasur konnte er unmöglich zu Milagros gehen. «Hat sie sonst noch etwas gesagt?»

«Dass du dir nicht immer so viele Sorgen machen sollst.» Fede brachte zwei Teller mit der Eierspeise an den Tisch. «Und wir im Hotel frühstücken können.»

«Dann verrate mir, warum du kochst.» Max setzte sich auf einen der Campingstühle, ohne das Tipi nebenan aus den Augen zu lassen. Die vier jungen Wilden, wie er sie insgeheim nannte, schliefen noch. Das Durcheinander an Badehosen und Badetüchern, leeren Slibowitzflaschen und Bierdosen war der stumme Zeuge eines nächtlichen Treibens, das ziemlich ausgeartet sein musste. Max erinnerte sich nicht genau, wie er vom Strand her zu ihrem Zelt gekommen war. Wann hatte er auch so ausgelassen gefeiert wie letzte Nacht? Es war Jahre her und er selbst Student gewesen.

«Magst du die Omelette nicht?» Fede setzte sich ebenfalls.

«Es ist in etwa das Einzige, was du im Kochen beherrschst.» Max hielt schützend die rechte Hand vors Gesicht. Prophylaktisch, dachte er. Sie lachte nur und schob sich eine gefüllte Gabel in den Mund. Später sagte sie, Milagros sei sehr enttäuscht, weil sie nicht im Hotel Victoria-Jungfrau übernachten würden.

Ich auch, dachte Max. Wenn er Fedes Vorhaben früher gekannt hätte, er hätte nicht gezögert und Milagros’ Angebot angenommen. Er war in Luxus aufgewachsen und tat sich schwer damit, sich mit einfachen Verhältnissen zu begnügen. Aber das sagte er nicht laut. Fede lebte auf einem Bauernhof, was alles andere als luxuriös war. Max’ Bemerkung wäre arrogant gewesen.

«Noblesse oblige.» Milagros gab sich heute noch Mühe, ihm diesen Leitsatz einzubläuen. Dass Fede auf dem Land wohnte, wusste sie nicht. Sie ging davon aus, dass sie als IT-Spezialistin einen angemessenen Lohn empfing und sich einige Extravaganzen leisten konnte. Fede war anpassungsfähig, wenn sie Milagros besuchten. Sie tat dann sehr gesittet. Dass sie gestern nur in einem ausgeschnittenen Sommerkleid vor seine Mutter getreten war, und das in einem Fünf-Sterne-Hotel, musste Milagros als einmaligen Ausrutscher verstanden haben. Es war Sommer und heiss. Die jungen Leute durften sich mehr erlauben als die ältere Generation. Zumindest nach Milagros’ Ansicht. Kaum hatte sich Fede nach dem Dinner von ihr verabschiedet, nahm sie Max zur Seite und fragte ihn, ob Federica keine eleganten Kleider eingepackt habe. Und diese abscheulichen Tattoos. So etwas Schlimmes habe sie noch nie gesehen.

«Woher hast du die Buttergipfel?» Max schnappte sich einen.

«Vorne beim Eingang gibt es einen Shop. Dort bekommt man alles, was es für einen angenehmen Campingaufenthalt braucht, auch Waschmittel … falls du mal was waschen willst.» Fede grinste über den Kaffeetassenrand hinweg.

«Hast du vor, dich hier für länger einzunisten?» Max verging der Appetit.

«So lange wie nötig.» Fede stellte die Kaffeetasse ab. «Ich habe die Brüder Xìngshì Lian und Dan gegoogelt.»

«Was hast du?» Max erhob sich. Er musste sich beeilen, wollten sie um acht Uhr im Hotel sein. «Wann schläfst du eigentlich?»

«Um fünf war ich hellwach. Ich liebe den Sommermorgen, dieses frühe Glimmen. Um fünf ist die Welt noch in Ordnung.»

«Und?» Max hatte kein Bedürfnis nach romantischem Geplänkel.

«War nicht so schwierig, sie zu finden. Sie sind altersmässig bloss ein Jahr auseinander. Hättest du nicht gedacht, oder? Lian ist der Ältere.»

«Und der Fettere», ergänzte Max.

Fede sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. «Ich fand sie im Archiv der Technischen Universität München. Aufgrund eines Studentenaustausches mit Peking kamen die Brüder nach Europa. Nachdem beide den Bachelor in ihrer Heimatstadt Peking gemacht hatten, bewarben sie sich für den Master im Maschinenbau respektive in der Informatik in Deutschland. 2004 schlossen sie ab und kehrten in ihr Land zurück.»

Für Max drängte die Zeit. «Warten wir ab, was sie uns über sich berichten werden.»

Fede räumte das Geschirr ab. «In Peking gelten sie als Pioniere beim Bau moderner Schienenbahnen.»

«Pioniere! Ha, dass ich nicht lache. Sie sind wohl eher Meister im Kopieren.»

«Du behauptest etwas, das du nicht weisst. Die Chinesen sind fleissig. Ohne konstantes Lernen schafft es niemand, von den jährlich zehn Millionen Prüflingen die nationale Zulassung oder eine Bestnote zu bekommen, die eine Chance auf einen der wenigen Plätze an den besten Hochschulen des Landes in Aussicht stellt. Ich habe gelesen, dass weniger selbstständiges Denken als abrufbares Wissen gefragt ist. Bereits im zarten Alter von zwei Jahren rückt Lernen für chinesische Kinder in den Vordergrund. Im Kindergarten müssen sie sich die komplizierten Schriftzeichen einprägen, lernen nebst Addieren und Subtrahieren auch Multiplizieren und Dividieren. Sie sind ihren westlichen Altersgenossen weit, sehr weit voraus. Die Xìngshìs hatten es mit ihrem Ehrgeiz geschafft, durften in Europa studieren, es in Peking umsetzen und kamen dadurch zu einem grossen Vermögen.»

«Und das steht auch in der Suchmaschine?», fragte Max mit einem sarkastischen Unterton. China war ihm so fremd wie einem Pinguin der Nordpol.

«In China wird alles erfasst, was das Volk betrifft. Nirgends auf der Welt werden die Menschen dermassen kontrolliert wie im Reich der Mitte.»

«Aber es muss nicht zwangsläufig im Netz breitgeschlagen werden.»

«Es ist nicht für jedermann einsehbar. Man muss wissen, wo suchen.» Fede grinste ihn an. «Ehrlich gesagt, mir gefällt dieses Land und wie es geführt wird.»

«Auf Kosten der persönlichen Freiheit.»

«Für den Fortschritt, die Wirtschaft und ihre Vision für die Zukunft. Peking ist die Stadt der Milliardäre und hat New York längst eingeholt.»

«China bleibt für mich die gelbe Gefahr.» Max beeilte sich, um zu den sanitären Einrichtungen zu gelangen.

«Max, du bist unmöglich», rief Fede ihm nach.

***

Das Grandhotel erschien wie einbalsamiert. Pastellfarben schimmerten die Fassaden, von den ersten Sonnenstrahlen wach geküsst.

Max hatte seinen Mustang gegenüber auf der Hauptstrasse geparkt, hinter einer Kutsche mit Einspänner, die für eine Rundfahrt durch Interlaken warb. Er stieg aus und ging zu Fede, die bereits ausgestiegen war und am Strassenrand auf ihn wartete.

«Hast du gewusst, dass das Hotel Victoria-Jungfrau aus zwei verschiedenen Hotels besteht?», fragte sie, derweil sie einen bewundernden Blick auf den Belle-Époque-Bau warf. «Eduard Ruchti liess 1865 aus der ehemaligen Pension Victoria einen Neubau errichten und erwarb später das nebenan stehende Hotel Jungfrau. 1899 verband er die beiden Gebäude durch einen Mittelbau miteinander und setzte eine Kuppel darauf.»

«Deshalb der Name.» Max griff nach Fedes rechtem Arm. Er zog sie über die Strasse, haarscharf hinter einem fahrenden Auto vorbei.

Milagros erwartete sie unter dem überdachten Eingang, wo gewöhnlich die Statussymbole anhielten. Heute war der Platz leer. Einzig ein silbergrauer Porsche 911 Carrera war neben der Blumenrabatte geparkt. Gäste des Hotels konnten ihn nach Bedarf mieten.

«Oh, ein reizendes Kleid, schöner als …» Milagros vermochte sich von Fedes Anblick kaum zu erholen. Offenbar hatte Fede ihren Geschmack getroffen. «Xìngshìs erwarten uns im Foyer. Bitte, tretet ein.»

Die Halle hinter dem Eingang repräsentierte eine Mischung zwischen kühler Eleganz und grosszügiger Architektur. Helle Säulen dominierten im Schein moderner Lichtquellen. Das Ende des Foyers schmückte eine Fensterfront mit dunklen Sprossen. Durch die Scheiben schimmerte das Blattgrün verschiedener Pflanzen. Der Boden war mit schwarzen und weissen Fliesen ausgelegt.

Die Chinesen sassen auf einem der schwarz-weiss gestreiften Sofas. Im Vergleich zum Vortag trugen sie dunkle lange Hosen und feuerrote, gebügelte Hemden. Augenscheinlich wollten sie einen respektvollen Eindruck hinterlassen. Sie erhoben sich beide gleichzeitig, streckten ihre Hand zum Gruss aus.

«Bitte setzen Sie sich», sagte Xìngshì Dan. Er hatte nebst seiner agilen Gestalt ein Muttermal links am Kinn. «Haben Sie schon gefrühstückt?»

Max bejahte und setzte sich den Männern gegenüber auf einen von drei Sesseln.

Fede und Milagros liessen sich ebenfalls nieder und bestellten Tee bei einem Serviceangestellten, der die ganze Zeit um sie herumgetänzelt war.

«Wie geht es Ihnen?» Wieder Xìngshì Dan.

Max erinnerte sich, was Fede ihm über die chinesische Kommunikation erzählt hatte. Dass die Chinesen generell mehr Wert auf den Interaktionsprozess legten, als gleich zur Sache zu kommen. Nie würden sie mit der Tür ins Haus fallen.

«Danke, gut.» Max war nicht nach Small Talk.

«Ihre Frau Mutter sagte uns, Sie seien Anwalt gewesen.»

Das bin ich immer noch, dachte Max. «Bis vor vier Jahren, das ist richtig.»

«Sie haben also alle guten Voraussetzungen für unser Anliegen.» Xìngshì Dan schenkte ihm ein Lächeln.

«Haben Sie es sich übellegt?», fragte Xìngshì Lian.

Max sah kurz zu Fede, die ihm zunickte. «Wir nehmen Ihren Auftrag an.» Auf den Verdacht, dass die Chinesen vieles zurückhielten, was Max und Fede hätten wissen müssen, wollte er nicht zu sprechen kommen. Wahrscheinlich lag es im Naturell der Männer, sich geheimnisvoll zu geben. In seiner Karriere als Anwalt hatte Max nicht oft mit Chinesen zu tun gehabt. Er musste seine Vorurteile ablegen, wollte er die Männer verstehen. Fede hatte mit ihrer Meinung recht gehabt, dass sie anders dachten als die Schweizer oder Europäer. Ultimative, kompromisslose und konfrontative Argumentationen seien nichts für Chinesen. Max griff nach seiner Mappe, die er mitgebracht hatte, holte einen A4-Block und einen Schreibstift daraus hervor. «Ich muss alles über Ihre Frauen wissen, bevor wir mit der Suche beginnen können. Haben Sie ein aktuelles Foto von ihnen?»

Xìngshì Dan reichte Max ein Bild, das er seinem Portemonnaie entnommen hatte. «Die links ist Shenmi, meine Frau, die rechts ist Yuyun, Lians Angetraute. Sie sind beide dreissig Jahre alt.»

Max nahm das Foto entgegen und sah auf das Brustbild zweier junger Chinesinnen, deren Schönheit ihn überwältigte. Puderig helle Haut, eine schmale, nach den Seiten und oben auslaufende Augenform, in denen die schwarzen Iriden dennoch gross wirkten. Glänzende halblange schwarze Haare hatten beide und ein Lächeln, das ansteckte. Der Mund war klein, die Kinnpartie schmal und die Nase zierlich. Als das Foto aufgenommen worden war, mussten sie sehr glücklich gewesen sein. Im Hintergrund waren die verwischten Konturen eines Palastes zu erkennen. «Ist das Bild neueren Datums?»

«Mein Bruder hat es vor vier Jahren in Yiheyuan aufgenommen.»

«Sie haben keine neue Aufnahme?» Max konnte es nicht glauben, weil Asiaten alles fotografierten, was ihnen vor die Linse geriet.

«Erzählen Sie uns, wann Sie Ihre Frauen zum letzten Mal gesehen haben», mischte sich Fede ins Gespräch. «Wie waren sie angezogen? Was trugen sie mit sich? Taschen, Rucksäcke?»

«Sie sagten, im Freilichtmuseum Ballenberg», meldete sich Milagros, die bis anhin nur zugehört hatte, zu Wort.

«Ja, ja, in Ballenbelg.» Xìngshì Lian lächelte in die Runde, als würde er die Tragweite seines Verlustes nicht begreifen. «Da elfählt man vieles übel die Schweiz.» Er hüstelte. «Shenmi und Yuyun tlugen blaue Kleidel, Handtaschen, so kleine –»

«Leider reichte die Zeit nicht, um alle Plätze und Häuser zu besuchen», wich Xìngshì Dan aus und warf seinem Bruder einen einvernehmlichen Blick zu. «Uns blieben bloss zwei Stunden. Danach waren wir eine ganze Stunde damit beschäftigt, nach Shenmi und Yuyun zu suchen. Sie hatten sich irgendwann von unserer Gruppe entfernt oder sich verlaufen.»

«Wann war das?»

Xìngshì Dan kniff den Mund zusammen und schien zu überlegen. «Wir kamen am letzten Samstag um eins mit dem Bus beim Eingang Ost beim Ballenberg an. Wir waren insgesamt dreissig Leute, die sich in zwei Gruppen aufteilten. Die andere Hälfte fuhr weiter zum westlich gelegenen Eingang des Museums. Mein Bruder und ich blieben mit unseren Frauen auf der Ostseite und starteten von dort aus. Wir hatten je einen Reiseführer.»

«Könnten Sie uns den Namen dieser Reisebegleiter mitteilen?»

Wieder griff Xìngshì Dan nach seinem Portemonnaie und holte einen zerknitterten Zettel daraus hervor, der sich bei näherem Hinsehen als Reiseinformation herausstellte. «Chen Akuma begleitete die erste Gruppe, Li Zuko die zweite.»

«Dann wanderten Sie durch das Freilichtmuseum», sagte Max. «Und beendeten den Weg beim Westausgang.»

«Das war zwei Stunden später. Die andere Gruppe bewegte sich in entgegengesetzter Richtung.»

«Das war dann etwa um drei Uhr. Wann bemerkten Sie, dass Ihre Frauen nicht mehr neben Ihnen gingen?»

«Zeitlich wissen wir es nicht genau», beantwortete Xìngshì Dan die Frage. «Aber auf der Höhe des …», er zögerte, als überlegte er sich, womit er weiterfahren wollte, «Wyssesees fragte mich mein Bruder zum ersten Mal, ob ich Yuyun gesehen hätte.»

«Wil machten uns zuelst keine glossen Solgen», sagte Xìngshì Lian. «Die Gluppe hatte sich velzettelt.»

«Aber als wir sie beim Westausgang nicht antrafen, fragten wir uns, wo sie geblieben waren.» Xìngshì Dan fuhr sich mit der rechten Hand über den Mund. «Herr Chen, mein Bruder und ich gingen den gleichen Weg zurück, den wir gekommen waren. Chen meinte, dass die Frauen vielleicht mit einem Taxi nach Interlaken gefahren seien, nachdem sie uns aus den Augen verloren hatten.»

Max konnte es nicht nachvollziehen.

«Haben Sie sich bei der Kasse am Ausgang erkundigt», fragte Fede, «ob jemand die Frauen hat weggehen sehen?»

«Ja sicher. Leider ohne Erfolg. Shenmi hatte einen Reiseplan bei sich. Sie standen nicht ganz auf verlorenem Posten. Aber», Xìngshì Dan starrte vor sich hin, «im Hotel sind sie nie angekommen.» Während er dies sagte, blieben seine Gesichtszüge wie gemeisselt.

«Sind Ihre Frauen zum ersten Mal in der Schweiz?» Max sah, wie sich die Brüder Xìngshì überrascht ansahen, als wögen sie ab, welche Antwort sie zu geben gedachten.

«Zum ersten Mal», sagte Xìngshì Dan schliesslich. «Sie kennen sich hier nicht aus.»

«Ich gehe davon aus, dass sie ein Mobiletelefon besitzen.»

«Selbstverständlich. Wir haben mehrmals versucht, sie zu erreichen, Shenmi und Yuyun müssen es ausgeschaltet haben.»

Oder man hat es zerstört, sinnierte Max.

«Wie ist es mit der deutschen Sprache?», fragte Fede.

«Sie sprechen kein Deutsch, vorwiegend Mandarin … und …»

«Und?»

«Kantonesisch, das ist ihre Muttersprache.»

«Englisch?»

«Ein bisschen.»

«Haben Sie Freunde in Interlaken?»

«Lian und ich haben Freunde hier, aber rein geschäftlicher Natur.»

«Und Ihre Frauen?»

«Sie haben keine Fleunde hiel», sagte Xìngshì Lian, was sein Bruder bestätigte.

Max überlegte, ob die Ferien in der Schweiz ein Vorwand waren. «Sind Sie persönlich oft in Interlaken?»

«Wie müssen wir das verstehen?» Xìngshì Dan rutschte auf dem Sofa ein wenig nach vorn. Eine erste Unsicherheit?

«So, wie ich gefragt habe», sagte Max. Milagros warf ihm einen tadelnden Blick zu. Er kapierte, dass er sich zusammenreissen musste. Hier hatte er es mit einer fremden Mentalität zu tun, die zu durchschauen eine weitere Aufgabe sein würde. Max zweifelte, ob er seinen Mandanten gewachsen war.

Als Xìngshì Lian sein Checkheft hervorholte, wusste Max, dass es keinen Weg zurück gab. Der Chinese reichte ihm den Check und forderte eine Unterschrift als Bestätigung der Übergabe. Max sah auf den Betrag. Er zögerte. Ob es richtig war? Fede stiess ihm sanft in die Seite. Mach schon!, sollte es wohl bedeuten. Max griff nach seinem Kugelschreiber und setzte die Unterschrift auf eine Quittung. Ihm entging dabei nicht, wie die Brüder einander zufrieden anschauten. Später unterzeichnete er auch den Vertrag, mit dem Versprechen, alles zu unternehmen, um die Frauen unversehrt ihren Männern zurückzubringen. Max war angespannt.

«Wir werden den Weg von Yuyun und Shenmi rekonstruieren», sagte Fede, die es augenscheinlich verstand, die Situation zu entspannen. «Aber dazu bräuchten wir ein paar Informationen mehr. Sie erwähnten, dass es Freunde in Interlaken gibt, die Sie durch Ihren Beruf kennengelernt haben.»

«Das ist lichtig.» Xìngshì Lian steckte das Checkheft und den Vertrag in seine mitgebrachte Mappe.

«Teilen Sie uns die Namen mit?»

«Die sind nicht relevant», sagte Xìngshì Dan. «Und was hat dies mit dem Verschwinden unserer Frauen zu tun?»

Vielleicht mehr, als ihr denkt, überlegte Max. Dennoch hielt er es für unangebracht, die Chinesen weiter auszuhorchen. Es war seine Aufgabe, das Vertrauen der Männer zu gewinnen. Er durfte auf keinen Fall forcieren. Alles andere würde sich von allein ergeben.

Fede jedoch wollte mehr in Erfahrung bringen. «Könnte es sein, dass», sie deutete Anführungs- und Schlusszeichen an, «Ihre Freunde etwas mit dem Verschwinden Ihrer Frauen zu tun haben?»

«Nein.» Xìngshì Lian blieb reglos sitzen. «Wie kommen Sie dalauf?»

«Welche Geschäfte verfolgen Sie, wenn Sie in Interlaken, überhaupt in der Schweiz sind?»

«Das ist nicht wichtig.» Xìngshì Dan verzog keine Miene.

«Wir versuchen bloss, einen Grund für das Verschwinden von Shenmi und Yuyun zu finden.»

«Dessen sind wir uns durchaus bewusst», entgegnete Xìngshì Dan. «Glauben Sie mir, das eine hat mit dem andern nichts zu tun.» Er entnahm seiner Brieftasche eine Visitenkarte und reichte sie Max, indem er sie mit beiden Händen hielt und sich nach vorn beugte.

«Können Sie sich denn einen Reim darauf machen, weshalb die Frauen weg sind?» Max sah interessiert auf die Visitenkarte, die er ebenfalls mit beiden Händen entgegennahm. Er hatte gelernt, sie nicht gleich wegzustecken. Ein so opulent gestaltetes personifiziertes Aushängeschild hatte er nie zuvor gesehen. Der Name war das Einzige, was nicht in chinesischer Kalligrafie geschrieben stand. Die Karte selbst war in einem glänzenden Rot, die Schrift darauf in Gold und Schwarz. Max sah Xìngshì Dan an.

Auf dessen Gesicht zeigte sich kaum eine Regung. «Wenn wir dies wüssten, wären Sie nicht hier.»

***

«Hätte man die Polizei eingeschaltet, hätte sie die Frauen mit der Hundestaffel suchen können.» Fede war sichtlich empört. «Warum wurde das unterlassen?»

«Das werden wir bestimmt herausfinden», sagte Max und fragte sich, warum es dem Hoteldirektor so wichtig war, die ganze Angelegenheit ohne grosses Aufheben zu behandeln. Nach der Besprechung war er zu ihnen gekommen und hatte ihnen Kaffee und Tee offeriert. Die chinesischen Gäste seien ihm sehr wichtig, er wünsche sich Diskretion. Polizei im Haus könne er sich nicht leisten.

«Die Männer sind bereit, uns viel Geld zu bezahlen», gab Fede zu bedenken und riss Max aus seinen Gedanken. «Auch wenn sie es günstiger haben könnten.»

«Ein Glück für uns.» Max hatte letztendlich nicht lange gebraucht, um sich mit der Idee einer Personenfahndung anzufreunden. Dieser Fall war ein Novum für ihn, bedeutete einen Schritt vorwärts in der Karriere als Privatdetektiv. Wenn es ihnen gelingen würde, die Frauen zu finden, wäre das ein Stern mehr im Portfolio der Detektei.

Sie fuhren den Brienzersee entlang über Ringgenberg, Nieder- und Oberried Richtung Brienz. Auf der Fahrt liess Fede ihrer erneuten Wut Luft, wobei Max nicht herausfand, ob es nur Theater war. Diesmal galt ihre Empörung nicht den Chinesen, sondern den Neubauten auf der rechten Strassenseite. «Ich habe diese Wohnsilos bereits gestern bemerkt. Da hat sich wohl jemand ein Denkmal setzen wollen.»

«Wovon sprichst du?» Max gab sich naiv, warf in der Schnelle einen Blick zur Seeseite. Dann konzentrierte er sich wieder auf die Strasse. Vor ihm tuckerte ein älteres Automobil über die Fahrbahn. Um zu überholen, war die Strasse zu unübersichtlich, an manchen Stellen zu schmal.

«Ein ganzes Retortendorf», enervierte sich Fede, «mit eigenem Bootshafen, Tennisplätzen und Indoor-Golf. Und einer Kita. Wenn ich mir die Dimensionen auf der Tafel dort anschaue, geht das unter Heimatverschandelung. Guck mal. Und der Name erst: ‹Residenz Schwansteinpark›, sicher in Anlehnung an das Schloss Neuschwanstein. Das grenzt an Grössenwahnsinn.»

«Reg dich doch nicht auf!» Max verlor allmählich die Geduld wegen des Autofahrers vor ihm. «Ist doch schön, am Brienzersee zu wohnen.»

«Am schönen Brienzersee», äusserte sich Fede sarkastisch, «in dem tonnenweise Munition und Kriegsbomben verrosten, die die Fische vergiften. Es ist nicht richtig. Das Stimmvolk hat damals die Zweitwohnungsinitiative angenommen, die verbietet, noch mehr Ferienwohnungen zu erstellen und zu verkaufen. Hier scheint man dieses Gesetz mit Füssen zu treten.»

«Beruhige dich.»

«Ich habe gelesen, es sei nicht alles mit rechten Dingen zugegangen und es habe etliche Einsprachen gegeben.»

«Was du nicht sagst.» Max hatte es am Rande mitbekommen, jedoch kein Bedürfnis, darüber zu diskutieren. Bei der Planung hatte es Anschuldigungen von verschiedenen Seiten gegeben, dass sich die Gemeinde aufgrund von Plänen, Fotomontagen und Unwahrheiten hinters Licht habe führen lassen. Von Vetternwirtschaft war die Rede gewesen, von Miststockpolitik und Korruption und in deren Zusammenhang von mafiosen Zuständen.

«Über hundertvierzig Millionen Franken soll es kosten.» Fede winkte ab. «Na ja, man wird wohl nicht gescheiter. Bin ich froh, lebe ich bescheiden auf meinem kleinen Bauernhof.»

Welch ein Vergleich. Max unterliess es, ihr zu erzählen, dass seine ehemalige Anwaltskanzlei mit solchen Bauprojekten viel Geld verdient hatte.

Sie passierten Brienz und fuhren nach der Höhe beim Lammbach auf die Lauenenstrasse und in der Folge über die Museumsstrasse, die sie nach Hofstetten führte. Der Westeingang zum Freilichtmuseum Ballenberg lag ausserhalb des Ortskerns.

«Warum fährst du nicht zur Ostseite?» Fede streckte gähnend die Arme in die Höhe.

«Weil es keinen Unterschied macht. Zudem liegt der Wysse­see gemäss Plan näher zur Westseite.» Max fand einen leeren Parkplatz unter einem der schattenspendenden Bäume, die wie dunkle Silhouetten den Himmel verdeckten.

«Warst du schon einmal da?» Fede stieg aus, warf einen Blick in den Seitenspiegel und wuselte wie immer mit den Händen durch ihre Haare. Sie setzte die Sonnenbrille auf.

«Als Kind wahrscheinlich. Aber ich habe den Parkplan studiert, bevor wir losfuhren.»

Damit, dass es beim Eingang einen Andrang von Besuchern geben würde, hatten sie rechnen müssen. Gruppen und Familien drängten zu den Kassen und den Drehkreuzen. Fede stellte sich in der Warteschlange an, um Tickets in Empfang zu nehmen. Max wartete geduldig, scannte die Umgebung akribisch. Neben dem Shop stand ein Polizeiwagen. Zwei Polizisten lehnten an der vorderen Hälfte der Karosserie, mit verschränkten Armen diskutierten sie, drehten immer wieder ihre Köpfe in Richtung Eingang. Max zwängte sich zwischen den Wartenden nach vorn in Fedes Nähe, was ein paar gehässige Kommentare auslöste. Er berührte ihren Arm. «Die Polizei ist da.»

«Ich habe sie gesehen.»

«Guten Tag. Willkommen im Open Air Museum Ballenberg.» Der junge Typ hinter der Kasse schenkte ihnen ein Lächeln und strich immer wieder die zu lang geratenen Stirnfransen aus dem Gesicht. Er hatte Pickel, eine Stupsnase und unbestritten Freude an seinem Job.

Max legte den rechten Arm auf den Tresen. «Zwei Tickets bitte.» Er deutete zum Parkplatz, wo der Streifenwagen stand. «Ein Einsatz?»

«Tja, wegen eines Vorfalls.» Der Mann reichte ihm die Tickets und nannte den Preis. «Die verschiedenen Veranstaltungen und die Zeiten finden Sie im Programmheft.» Er schob einen Flyer nach.

«Was für ein Vorfall?» Fede nahm den Flyer an sich.

«Im Sachseln-Haus wurde eingebrochen, gestern oder vorgestern.»

Max bezahlte. «Und das fällt erst heute auf?»

Der Mann wies nach hinten in die Reihe der Wartenden. «Mehr kann ich dazu nicht sagen. Sie sehen ja, was hier los ist.»

Max und Fede begaben sich zum Drehkreuz.

«Das kann kein Zufall sein, oder?» Fede ging voraus, zögerte und drehte sich um. «Hat er ‹eingebrochen› gesagt?» Sie faltete den Flyer auseinander. «Dann sollten wir da möglichst schnell hin.» Sie suchte nach dem Haus. «Die Nummer 711 ist es, liegt näher am Osteingang.»

Sie zogen los über eine kurze Waldstrecke. Die Strasse führte zum ersten Haus, das hinter einer Umzäunung und einer Flut von blühenden Sträuchern einen properen Eindruck erweckte.

«Das war einst die Villa des Textilfabrikanten Schafroth.» Fede blieb vor der angebrachten Informationstafel stehen. «Erbaut wurde sie 1872 in Burgdorf. Die Familie zelebrierte einen gepflegten Lebensstil.»

«Sieht wie ein Chalet aus», insistierte Max, der sich unter einer Villa etwas anderes vorstellte. Er drängte zum Weitergehen.

«Hier steht, dass der sogenannte Schweizerhausstil im neunzehnten Jahrhundert ein nationaler Erfolg war.»

Max ging die Strasse hinunter bis zur Kreuzung. Ein helles Haus mit braun-roten Jalousien zog nicht nur seine Aufmerksamkeit auf sich.

Fede war ihm nachgerannt. «Dieses Haus hier stammt aus Rapperswil und war ein klassischer Mehrzweckbau, der in einen Wirtschafts- sowie einen Wohnteil unterteilt war.» Sie zeigte auf die linke Seite des Weges. «Dort oben ist übrigens der Wyssesee.»

«Dorthin gehen wir nachher.» Max bat Fede, sich zu beeilen. «Wir haben nicht alle Zeit der Welt.»

Fede maulte etwas vor sich hin, was er nicht verstand.

«Weisst du, wo wir hier sind?», fragte er später. Sie hatten einen Platz erreicht, auf dem sich Rindvieh und Hühner tummelten und es nach Dung roch.

«Wir müssen zurück und den Wald entlang», sagte Fede. «Weiter unten liegt der Kanton Tessin mit dem Gutshof Novazzano. Soll das grösste Gebäude im Museum hier sein. Können wir uns zu einem andern Zeitpunkt ansehen.» Sie tat so, als wäre sie zum Vergnügen hier.

Der Weg führte über eine längere Strecke den Waldrand entlang. Die Luft war erfüllt von Vogelgezwitscher und hellem Lachen. Auf halbem Weg kam ihnen eine Zweispänner-Kutsche entgegen. Darauf sassen Landfrauen in farbigen Trachten und liessen ihrem Übermut freien Lauf. Sie sangen zweistimmig, unterbrochen durch Zwischenrufe und Gelächter.

«So kennt man die Schweiz im Ausland», frotzelte Fede. «Idyllisch wie im vorletzten Jahrhundert. Bauernhöfe, Kühe, der Misthaufen vor dem Stall …»

«Und es ist offenbar eine grosse Faszination für chinesische Touristen. Schau, die sieht man hier überall.»

«Sie sind überall.» Fede marschierte zügig neben Max her. «Für sie muss die Schweiz wie ein Disneyland sein.»

«Genau, welches man im Schnelldurchlauf besucht, mit Zwischenhalt bei den Uhren- und Schokoladenboutiquen.»

«Ein Zeichen dafür, dass sie sich vorab über unser Land informiert haben. Sie kennen die neuralgischen Punkte, die Sehenswürdigkeiten und interessanten Orte. Du würdest es doch auch so machen, oder?»

«Für mich ist dieses Volk nicht fassbar.»

«Das rührt daher, weil du dich nicht mit ihm auseinandersetzt.»

«Das muss ich nicht zwangsläufig.» Für Max wurde das Gespräch zunehmend unangenehmer.

«Das solltest du aber. Wir haben einen Auftrag, bei dem es uns nicht egal sein darf. Um die Eigenart eines Volkes zu verstehen, müssen wir es kennenlernen.»

«Dazu habe ich dich.»

«Bist du immer so stur? Als Anwalt müsstest du eigentlich aufgeschlossener sein.»

Max tat so, als hätte er es nicht gehört.

Sie erreichten im Museumsgelände die «Zentralschweiz», wo sich die historischen Gebäude von Uri, Schwyz, Unterwalden, Luzern und Zug befanden. Fede vermochte es nicht zu unterlassen, auch hier ihr Interesse an den alten Bauten kundzutun. «Das ist ein typisches Entlebucher Bauernhaus.» Sie wies auf eine Tafel. «Das ‹Wissämmeli›. Es stand übrigens in Escholzmatt und stammt von 1744 –»

«Welches man anhand der Dendrochronologie herausgefunden hat», unterbrach Max sie.

«Ich sehe, wir verstehen uns.» Fede schmunzelte.

Sie gingen weiter zwischen einem historischen Karussell und einem Schweinegehege durch und standen alsbald vor einer Spielhalle mit Arkadenbögen. Ein Völkerauflauf hatte sich beim Sachseln-Haus gebildet. Der Eingangsbereich war mit Flatterbändern abgesperrt. Neugierige drängten sich vor. Ein Durchkommen war schwierig. Max und Fede bahnten sich unzimperlich einen Weg zwischen den Menschen hindurch. Sie gelangten zu einem Mann in Polizeiuniform. «Gibt es ein Problem?», fragte Fede.

Der Mann drehte sich zu ihnen um. Schwarzer Schnurrbart, eng stehende Augen. Ihm stand die Verwunderung ins Gesicht geschrieben. «Das hier ist ein Polizeieinsatz. Aber keine Bange, das Haus wird gleich freigegeben. Es dauert nicht mehr lange.»

«Eine Tote liegt oben», sagte jemand an Max’ Seite.

Max schluckte leer. Er sah in ein ernstes Männergesicht. «Eine Tote!» Er zögerte. «Das ist ein Witz, oder?»

«Nein, kein Witz. Ich habe sie selber gesehen. Sie liegt auf dem Bett, sieht ziemlich blass aus.»

Der Frau an seiner Seite gelang es nicht, ein Kichern zu vermeiden. «Die liegt aber im Haus nebenan, in dem aus Erstfeld.»

Ihr Mann gab ihr recht, wandte sich wieder an Max. «Sie sind wohl zum ersten Mal hier, nicht wahr?»

Max hatte sich von seinem Schrecken noch nicht erholt. Ein flaues Gefühl machte sich in der Magengegend breit. «Weiss man, wer sie ist?» Er malte sich bereits aus, seinen Mandanten die traurige Botschaft überbringen zu müssen, eine ihrer Frauen sei tot aufgefunden worden.

War das hier ein Tatort? War jemand umgebracht worden?

«Sie war die Tochter der Familie Epp, welche Mitte des achtzehnten Jahrhunderts in diesem Haus gelebt hat. Sie sollten sich davon überzeugen. Die Totenwache war früher von zentraler Bedeutung. Für die damaligen Menschen war es normal, zu Hause geboren zu werden und zu Hause zu sterben. Wenn Sie oben ins Hinterzimmer gehen, können Sie die Tote sehen. Wie ich mich erinnere, ist es ein etwa siebenjähriges Mädchen im Erstkommunionkleid.» Der Mann schmunzelte. «Zu Ihrer Beruhigung … es ist eine Gipspuppe.»

«Ja, aber im Haus von Erstfeld», korrigierte die Frau.

Max wurde jäh von Fede abgelenkt. «Im Haus muss jemand übernachtet haben, sagte man mir.» Fede war kurz ausser Atem. «Zwei antike Betten wurden durcheinandergebracht, die Tür zum Plumpsklo war aufgebrochen, das Klo offenbar benutzt worden.»

«Und dazu bietet man die Polizei auf?» Max fühlte sich gerade etwas neben den Schuhen, überlegte sich jedoch, dass man bereits Spuren gesichert, vielleicht sogar DNA-Proben genommen hatte, falls es sich bei dem Vandalismus um mehr als einen Lausbubenstreich handelte.

«Denk doch mal nach. Zwei Chinesinnen verschwinden hier vor Ort, tauchen im Hotel Victoria-Jungfrau nicht auf. Ist es möglich, dass sie hier übernachtet haben?»

«Sie waren am Samstag hier. Das ist nicht logisch. Und für so naiv halte ich sie nicht.» Max zog Fede von den Schaulustigen weg auf die Rückseite des Hauses, wo sich ein dominanter Kamin vom Boden bis über das Dach der Fassade entlang erhob. «Glaubst du, man hat erst heute entdeckt, dass ‹eingebrochen› wurde?»

«Fragen wir, dann erfahren wir es. Wir sollten uns bei den Museumswärtern und Parkwächterinnen erkundigen. Ich habe gesehen, die schwirren hier nur so rum. Zudem gibt es in jedem Kantonsteil eine Vorführung, sei es in der Schau-Käserei, in der Bäckerei, in der Töpferei … überall sind Menschen, die das Museum beaufsichtigen oder die Aufgabe haben, die Besucher zu unterhalten.»

«Da fallen zwei Chinesinnen auf jeden Fall auf.» Max konnte seinen Sarkasmus nicht zurückhalten. «Die sehen doch alle gleich aus, die Asiaten.»

«Wir haben ein Foto, schon vergessen?»

«Ja, ein vierjähriges Bild.»

«Wenn wir es nicht versuchen, werden wir nie auf einen grünen Zweig kommen.» Fede wandte sich von Max ab, ging zurück zum Eingang, wo jemand die Flatterbänder entfernte. «Ich werde mich umhören. Ich schicke dir eine SMS.» Sie verschwand zwischen einer Gruppe von Leuten.

Max bat eine Frau zur Seite, die rein optisch zu den Komparsen auf dem Museumsgelände gehörte. Er glaubte, sie vorhin auf der Kutsche gesehen zu haben. «Kann ich Sie kurz sprechen?» Sie trug eine Nidwaldner Werktagstracht, die Max kannte. Milagros war nebst einer Sonntagstracht auch in deren Besitz, zog sie am Nationalfeiertag und an der Chilbi an.

Die Frau stellte sich bereitwillig für ein Gespräch zur Verfügung. «Ich bin Renate.»

Max reichte ihr die Hand und nannte seinen Namen. «Können Sie mir erklären, was heute genau vorgefallen ist? An der Kasse sagte man mir, es sei eingebrochen worden. Jemand anderer meinte, Fremde hätten hier übernachtet.»

«Das kommt in etwa einem Einbruch gleich, wenn man historisch wertvolle Sachen wie zwei Betten und das Plumpsklo benutzt.» Renate ereiferte sich. «Ballenberg ist ein Freilichtmuseum. Die Häuser dienen Ausstellungszwecken und sind keine Hotels, die man beliebig betreten kann. Offensichtlich war das den Übeltätern egal.»

«Wann fiel es denn auf?»

«Gestern Abend, nachdem man einen Kontrollgang durch das Haus gemacht hatte.»

«Das heisst, es ist nicht sicher, wann eingebrochen wurde?»

«Soweit man mich darüber informiert hat, nicht.»

«Waren Sie am letzten Samstag auch auf dem Gelände?»

«Ja, da war ich vorne in der Schmiede von Bümpliz im Berner Teil.»

Max zeigte ihr das Foto von Shenmi und Yuyun. «Haben Sie diese beiden Frauen gesehen?»

Renate griff nach dem Bild, drehte und wendete es, als würde sie auf der Rückseite eine Antwort auf Max’ Frage finden. «Was haben Sie für eine Nationalität?»

«Es sind Chinesinnen», und als wäre es wichtig, hängte er «aus Peking» an.

«Hm …» Renate dachte angestrengt nach. «Es waren einige Chinesen bei uns. Aber wenn Sie sich umsehen, wimmelt es hier geradezu von ihnen.»

«Ja, und sie sehen alle gleich aus.»

«Das wollte ich soeben sagen.» Renate schenkte ihm ein Lächeln, während sie ihm das Foto zurückgab. «Schwer zu sagen. Ich kann mir Gesichter nicht gut merken, exotische sowieso nicht.»

«Sie waren in einer Gruppe von ungefähr fünfzehn Leuten unterwegs.» Max blieb beharrlich.

«Vielleicht fragen Sie mal beim Coiffeur im Richterswilerhaus im Ostschweizer Teil nach. Dort finden Sie meine Kollegin Gabi. Sie ist ein wandelndes Lexikon, hat zudem Augen wie ein Luchs. Nehmen Sie den Weg linker Hand.» Renate wies in nördlicher Richtung. «Vorbei am Wohnhaus von Erstfeld.» Das mit der Leiche, dachte Max. «Gehen Sie über den Waldweg weiter bis zum Werkhofschopf, der liegt gegenüber der Trotte. Dann alles geradeaus. Sie überqueren rechts den Bach und kommen zum Bauernhaus aus Uesslingen. Das Haus mit dem Coiffeur steht vis-à-vis.»

Max hatte Fede aus den Augen verloren. Als er beim Richterswilerhaus ankam, befand sie sich bereits im Coiffeurmuseum und bestaunte die historischen Frisuren. «Du bist da? Was für ein Zufall.» Max zeigte auf eine Haarpracht von 1946 mit der am Oberkopf aufgesteckten Haartolle. «Die wäre doch etwas für dich.»

Fede drehte sich ganz zu ihm um. «Gott sei Dank lebe ich im einundzwanzigsten Jahrhundert.» Sie lachte verschmitzt. «So weit von den heutigen Frisuren ist sie allerdings nicht … Ich habe dir eine SMS geschrieben. Hast du sie gelesen?»

Max vergewisserte sich. «Tatsächlich. Nein, habe ich nicht. Jemand hat mich hierhingeschickt. Wir sollten uns an eine Gabi wenden.»

«Die habe ich bereits kennengelernt.»

«Du bist ja schnell.»

«Sie erzählte mir, am Samstag sei eine Filmcrew des Schweizerischen Coiffeurmeisterverbands hier gewesen. Sie drehten für eine Werbekampagne. Sie glaubt, Leo, ihr Sohn, habe die Szenerien auf seinem iPhone gespeichert. Leo sei so etwas wie Mädchen für alles, ein junger Mann mit einer minimalen Beeinträchtigung, was immer das heissen mag. Gabi sagte, sie sei froh, könne er ihr hier zur Hand gehen. Sein Hobby sei fotografieren und filmen. Vielleicht haben wir Glück, und er hat Shenmi und Yuyun auf einem Foto verewigt.»

«Das wäre pures Glück. Und wo ist dieser Leo?» Max bemühte sich, seine Ungeduld im Zaum zu halten.

«Gabi holt ihn. Ach ja, damit ich es nicht vergesse: Eine Dame hat auf mein Handy angerufen und nach dir verlangt. Keine Ahnung, woher sie die Nummer hat. Ihre Colliehündin sei abgehauen. Sie fragte, ob du sie nicht suchen könntest.»

«Nicht dein Ernst.»

«Sie meinte, dass Detektive sicher auch dazu da wären.» Fede schmunzelte.

«Du hast ihr hoffentlich erklärt, dass es nicht möglich ist.»

«Ich habe sie an Luk Herger verwiesen.»

«An unsere Konkurrenz.» Max verkniff sich ein schallendes Lachen.

Der Coiffeursalon präsentierte sich als Sammelsurium mit zum Teil haarsträubenden Utensilien zwischen unbequemen Holzstühlen über verschieden grosse Kämme bis hin zu Flaschen mit Pumpvorrichtung und Zerstäuber. Das absolute Highlight fand Max den Lockenwickler für Dauerwellen, der etwas Futuristisches vermittelte und gewiss nicht ohne Angstzustände auszulösen zum Einsatz gekommen war. In einem anderen Zusammenhang hätte er die Vorrichtung als Folterinstrument betrachtet.

«Das ist Leo.» Unter dem Türrahmen zum Salon erschienen eine mollige kleine Frau, die auf die fünfzig zuging, und ein Junge. «Und ich bin Gabi.» Sie wandte sich an Max. «Ihre Freundin hat mir bereits mitgeteilt, dass Sie kommen.»

Max reichte ihr das Foto mit den Chinesinnen. Schnell sah er Fede an, war gerade etwas perplex ob der schnellen Auffassung. «Diese zwei Frauen waren am Samstag in Begleitung einer Gruppe von asiatischen Touristen hier. Erinnern Sie sich an sie?»

Gabi gab das Bild an Leo weiter. «Er hat ein fotografisches Gedächtnis», sagte sie und an ihren Sohn gewandt: «Schau dir die Frauen genau an. Waren die gestern hier?»

Leo sah zwischen Max und Fede hin und her, als würde er an einem Pingpongmatch den Ball verfolgen. Seine Augen waren dauernd in Bewegung. Er hatte Mühe, einen Punkt zu fixieren. Er war ein zerbrechlicher Junge und, wie Max erfuhr, noch nicht einmal siebzehn Jahre alt, dünn wie ein Spargel und ebenso hochgeschossen. Er sah auf das Foto, kurz nur, bevor sich die Iriden wieder in alle Himmelsrichtungen bewegten. «Die waren da.» Er lächelte und eine Reihe eingezäunter Zähne kam zum Vorschein.

Max konnte es nicht nachvollziehen, dass er in dieser kurzen Zeit die Gesichter erkannt hatte. «Schau dir das Bild genau an.»

«Ich habe es angeschaut. Die waren da.» Leo präsentierte Max das iPhone, das er auf dem Rücken verborgen gehalten hatte. Er fuhr über den Touchscreen und wählte die Foto-App aus. Dort tippte er eines der Videos an.

Unmittelbar sah sich Max einer etwas wirren Bildabfolge gegenüber. Leo suchte nach dem Ausschnitt, auf dem zwei Chinesinnen zu sehen waren. Sie lehnten ans Brückengeländer beim Bach und steckten die Köpfe zusammen. Erst als sie bemerkten, dass sie gefilmt wurden, sahen sie auf, lachten jedoch nicht in die Kameralinse. Eine von den Frauen hielt sogar die Hände vors Gesicht.

«Schau dir das Video an und vergleiche es mit dem Foto», bat Max Fede. «Sind das Shenmi und Yuyun?»

«Das könnten x-beliebige Chinesinnen sein … hm, sie tragen dunkle Kleider.» Fede wandte sich an Leo. «Ist das alles?»

«Nein, noch mehr.» Leo suchte ein anderes Video. Auf den Bildern erschienen wieder die Frauen, diesmal zusammen mit einer Gruppe von Männern.

«Halt, das könnte Xìngshì Dan sein. Dieses Muttermal am Kinn … so eines hat er.» Max vergewisserte sich, um welche Zeit der Film aufgenommen worden war. «Dreizehn Uhr vierunddreissig», sagte er an Fede gewandt. «Das heisst, sie gingen erst im Nachhinein zum Wyssesee.» Er deutete auf das Video. «Das ist wirklich ein Zufall, dass Leo sie filmisch eingefangen hat.»

«Darf ich mal?» Fede bat um das iPhone, das Leo nur widerwillig aus der Hand gab.

«Sie haben sein Herz gewonnen», sagte Gabi dagegen. «Leo hütet sein iPhone, als wäre es ein Heiligtum.»

«Gibt es noch mehr Videos, auf dem diese Frauen zu sehen sind?», fragte Fede, Gabi ausser Acht lassend.

Leo nickte heftig. «Das drittletzte … Das war im Wald.»

«Vierzehn Uhr sechsundvierzig», stellte Fede fest, während sie das Video betrachtete.

Max sah es sich auch an. Leo hatte die Frauen eine geraume Zeit über den Waldweg begleitet. Ob sie ihm gefallen hatten? Nicht immer hatte er sie im Visier. Zwischendurch schweifte er ab und blieb in den Baumkronen hängen, als hätte er dort oben unter dem Himmel etwas Spannendes entdeckt. Auch andere Besucher hatte er aufgenommen. Danach war er augenscheinlich zur Filmequipe zurückgekehrt. Das letzte Video zeigte Ausschnitte ihrer Arbeit auf dem Set rund um die Riegelhäuser des Ostschweizer Teils.

«Könntest du uns die Videos und Bilder übermitteln?», fragte Max an Leo gewandt.

«Alle?» Leo bekam Stielaugen. Dann nickte er. «Tun Sie es.»

Max öffnete WhatsApp auf Leos iPhone, tippte seine eigene Handynummer ein und sendete das Bildmaterial. «Danke, das hast du gut gemacht.» Er gab das Gerät zurück, überreichte ihm eine Zehnernote als Belohnung und drehte sich nach Fede um. «Gehen wir zum Wyssesee», schlug er vor. «Vielleicht finden wir dort einen Hinweis.»

«Sie könnten aber zurückgekehrt sein», vermutete sie. «Ihre Männer sagten, sie hätten sie um zwei Uhr aus den Augen verloren.»

«Dann verrate mir, wann sie ins Sachseln-Haus gingen, wenn sie denn dort übernachtet haben. Das Museum schliesst nachmittags um fünf. Was glaubst du, haben sie in der Zwischenzeit getan?»

«Sie mussten sich versteckt haben», sagte Fede. Sie zögerte. «Noch ist nicht sicher, dass sie dort übernachtet haben.»

«Wer könnte denn sonst dort geschlafen haben, wenn nicht sie?»

«Du verbohrst dich in etwas. Möglicherweise sind sie zum Osteingang zurückgegangen.»

«Oder sie fanden eine andere Unterkunft. Vielleicht sollten wir uns die Hotels rund um den Ballenberg ansehen.»

Fede griff nach ihrem iPhone und tippte etwas ein. «Okay», sagte sie nach einer Weile. «In Brienzwiler gibt es das Hotel Bären und in Hofstetten die Alpenrose. Möglicherweise auch diverse Appartements. Ich rufe dort mal an.»

Interlaken

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