Читать книгу Interlaken - Silvia Götschi - Страница 8

DREI

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«Wir haben nicht die Möglichkeit, nach den Frauen zu fahnden, wie die Polizei es tun würde», bemerkte Max, als sie zurück nach Interlaken fuhren. Er war frustriert, nachdem sie in den Hotels und anderen Unterkünften keine positive Antwort bekommen hatten.

Die Sonne stand im Zenit. Das Thermometer war auf fast dreissig Grad geklettert.

Fede schob den Saum ihres Kleides über die Knie, liess den Fahrtwind über ihre Beine streichen. «Die Chinesen müssen uns mehr Informationen liefern.»

«Ich bringe den Gedanken nicht los, dass hier etwas faul ist an der ganzen Sache. Vielleicht wiederhole ich mich, aber wenn zwei Ehefrauen, die sich in der Gegend überhaupt nicht auskennen, verschwinden, wäre doch der erste Schritt der zur Polizei oder ein Anruf aufs chinesische Konsulat in Zürich oder die Botschaft in Bern.»

«Tatsächlich könnte mehr dahinterstecken», mutmasste Fede. «Eine Entführung? Wir wissen noch nicht einmal, welche Geschäfte die Chinesen tätigen. Ob sie die Berufe, für die sie einst studierten, noch immer ausüben.»

«Ich ging davon aus, dass du das abgeklärt hast.»

«Eine todsichere Abklärung war das nicht. Du weisst, ich habe es aus dem Internet. Das sind zum Teil nicht verlässliche Quellen.»

«Dann fragen wir die Herren noch einmal. Es kann nicht sein, dass sie uns im Dunkeln tappen lassen.»

Sie erreichten den Bahnhof Interlaken Ost. Vor der Station warteten Touristen aus aller Herren Länder auf den Anschlusszug nach Lauterbrunnen, der sie zur Kleinen Scheidegg und von dort auf das Jungfraujoch fuhr. Rucksacktouristen, vollgepackt mit Stöcken und Proviant, nebst Leuten in leichter Bekleidung und Sandalen drängten sich auf das Perron.

«Allerspätestens dann, wenn die Feriengäste auf dem Jungfraujoch aus der Bahn steigen», äusserte sich Fede, «werden sie am eigenen Körper spüren, dass ihr Outfit den hochalpinen Verhältnissen nicht angepasst ist. Mag die Temperatur hier unten sommerlich warm sein, auf der Sphinx friert man sich den Allerwertesten ab.»

«Warst du im Sommer schon mal oben?» Max fuhr weiter.

«Wir machten mit der IT-Firma, in der ich angestellt war, vor fünf Jahren einen zweitägigen Ausflug nach Wengen. Da stand das Jungfraujoch zwangsläufig auf dem Programm. Es ist faszinierend dort oben, vor allem der Eispalast mit den Eisskulpturen, mal abgesehen von der phänomenalen Aussicht. Bei klarer Sicht sieht man bis zu den Vogesen oder auf den Aletschgletscher inmitten von den Viertausendern. Man sollte öfter in die Berge fahren, um zu spüren, wie klein und unbedeutend man ist. Ich weiss nicht, warum wir uns immer so wichtig nehmen.»

Der Höheweg war von Touristen überflutet wie immer, die Wiese gegenüber dem «Victoria-Jungfrau» ganz in der Hand der Paraglider. Der Blick in den Himmel lehrte Max das Fürchten. Wie farbige Fledermäuse schwebten sie in der Luft.

Er parkte vor dem Hotel, übergab dem Butler die Autoschlüssel, half Fede aus dem Wagen und betrat die Lobby hinter dem Eingang. Eine Klimaanlage hatte das Innere auf angenehme achtzehn Grad heruntergekühlt. Fede fröstelte, was sie seufzend kundtat, hängte sich bei Max ein, während sie durch die Bar linker Hand ins Restaurant spazierten, dorthin, wo Milagros auf sie wartete.

Sie hatte sich wie immer herausgeputzt, war sogar beim Coiffeur gewesen, was der Duft nach Haarlack verriet, als Max sich zu ihr hinunterbeugte und ihr einen Kuss auf die Wange drückte. Ihr Make-up dagegen klebte unangenehm.

«Wer hat dir vom Verschwinden von Shenmi und Yuyun erzählt?» Max setzte sich an den weiss gedeckten Tisch, nachdem Fede Platz genommen hatte.

«Ein guter Bekannter», erwiderte Milagros. «Ich kenne ihn aus der Zeit, als er im Palace Luzern als Küchenchef gearbeitet hat. Er geht auf die siebzig zu, hat, wie er mir erzählte, sein Vermögen in Immobilien investiert. Er ist geschieden. Meines Wissens ist er Stammgast hier im Hotel. Wir kamen ins Gespräch, da redeten wir auch über dich und dass du deinen Beruf als Anwalt aufgegeben hast und eine Detektei betreibst. Das eine hat das andere ergeben. Wie’s so ist im Leben, nichts geschieht grundlos. Vor drei Tagen kam er zu mir und fragte mich, ob die Brüder Xìngshì deine Dienste in Anspruch nehmen dürften.»

«Warum hat er den Herren nicht geraten, die Polizei zuzuziehen?»

«Ist das ein Thema?» Milagros griff nach der Speisekarte, schlug sie auf und tat so, als studierte sie die Vorspeisen. «Es ist nicht deine Aufgabe, dies zu hinterfragen. Mach deinen Job.» Sie lächelte in Fedes Richtung, die still dasass. Was musste sie über das Verhältnis zwischen ihm und seiner Mutter denken? «Habt ihr eine erste Spur?»

Fede fühlte sich angesprochen. «Wir haben Bildmaterial bekommen, das wir genauer untersuchen müssen. Immerhin ist das ein Anfang. Wir vermuten, Shenmi und Yuyun haben die Nacht vom Samstag auf den Sonntag auf dem Gelände des Freilichtmuseums Ballenberg verbracht.»

Milagros legte die Speisekarte ab. «Wie habt ihr das herausgefunden?»

Fede klärte sie über die Details auf.

«Sollte es stimmen, was du mir erzählst, haben wir es mit eher dreisten Frauen zu tun.» Milagros setzte ihre Speisensuche fort. «Im Sachseln-Haus. Ich erinnere mich. Liegt dort nicht diese Tote?»

«Eben nicht.» Max grinste vor sich hin.

«Zudem eine mutige Überlegung.» Milagros lächelte in die Runde. «Habt ihr schon etwas ausgewählt?» Sie zögerte. «In den zwei Nächten auf heute müssen sie auch irgendwo geschlafen haben.»

«Das ist richtig», sagte Max und überflog die Speisekarte. Der Appetit hatte sich bei ihm noch nicht eingestellt. «Fede wird am Nachmittag das Tourismusbüro aufsuchen. Vielleicht kann sie über die Gästeanmeldung herausfinden, wo sie logiert haben. Die Reisepässe der ausländischen Gäste werden kopiert und auf dem Rechner hinterlegt. Jeder Gast bezahlt zudem Kurtaxen.»

«Die Schweiz ist ein Überwachungsstaat.» Fede konnte sich nicht zurückhalten.

«Das war früher schon so», erwiderte Milagros, die sich offenbar angesprochen fühlte. «Trotzdem gibt es immer wieder Zechpreller. Diese in ihr Herkunftsland zurückzuverfolgen, ist kein leichtes Unterfangen … Wo sind wir stehen geblieben? Ach ja, beim Menü. Ich habe mich entschieden. Ich nehme das Berner Oberländer Kalbstatar mit Belper Knolle und Kartoffeln.»

«Was ist eine Belper Knolle?», fragte Fede belustigt.

«Käse, meine Liebe. Sie ist der Star unter den Schweizer Käsesorten, rund, fein gewürzt, in der Konsistenz ähnlich wie Parmesan, im Aroma etwas erdiger.»

«Okay, dann nehme ich das auch.» Ihre Augen wurden grösser. «Die haben auch Kaviar-Canapés?»

Milagros schaute auf. «Du magst Kaviar?»

«Ich liebe ihn.»

Max wartete gespannt auf Milagros’ Reaktion. Fede hatte bei ihr wohl ins Schwarze getroffen. Mit Kaviar und Co. konnte man bei ihr Pluspunkte sammeln.

«Ein Canapé als Amuse-Bouche. Ich spendiere dir eines. Es ist gerade gross genug, dass es perfekt in den Mund passt.»

«Bei dem Preis?» Fede verzichtete. «Und was bestellst du?» Sie schielte zu Max hinüber.

«Ich habe keinen Hunger. Seid mir nicht böse. Ich würde gern mit den Veranstaltern respektive den Reiseleitern der Xìngshìs sprechen.»

«Kann das nicht warten?» Fede war enttäuscht.

«Lass ihn», fand dagegen Milagros. «Ich bin froh, nimmt er die Sache endlich ernst.»

Max liess den Vorwurf stehen, den er als solchen empfand. Milagros hatte sich verändert. Ob es an ihrem Lebenspartner lag? Nie hatte sich der Gedanke an Ralph Estermann so aufgedrängt wie in diesem Moment. Über ein halbes Jahr war Milagros mit ihm auf Reisen gewesen. Dies hatte sie wohl geprägt. Sie hatte sich immerzu bei Max gemeldet. Von Ralph hatte er nie etwas direkt gehört, ausser das, was er von Milagros wusste. Aber dass der Cellist des 21st Century Orchestra auf Kosten von Max’ Mutter lebte, hatte sie ihm nicht verheimlichen können. Letzthin hatte Max zufällig eine Kreditkartenabrechnung gesehen, worauf ersichtlich war, dass Milagros die gesamte Weltreise bezahlt hatte.

Er blieb vor dem Tisch stehen. Wut stieg in ihm hoch. In den letzten vier Jahren hatte er immer Rücksicht auf seine Mutter genommen, sich kaum einmal gegen ihre oft nervige Art aufgelehnt. Wenn er sie ansah, mit ihrem immer lächelnden Mund, dem dick aufgetragenen Make-up und den knallroten Lippen, hätte er ihr am liebsten gesagt, was er von ihr hielt. Er fand es daneben, wenn sie sich dauernd in seine Angelegenheiten mischte. Offenbar kam sie nicht damit zurecht, dass sie älter wurde und ihre Glanzzeiten endgültig vorbei waren. Sie war längst nicht mehr die Diva an Kaspar von Wirths Seite, die zeigte, was sie hatte. Heute tanzte nahezu niemand mehr wirklich nach ihrer Geige, wie die Leute es früher getan hatten. Frau von Wirth hier, Frau von Wirth da. Sie hatte nur mit ihren Fingern zu schnippen gebraucht, und alle kamen angekrochen. Ihre Auftritte heute hatten eine peinliche Note.

«Was ist?» Milagros musste ihn eine geraume Zeit angestarrt haben. «Ist etwas nicht in Ordnung? Du machst ein verdrossenes Gesicht.»

«Ich muss zu wenig geschlafen haben», erwiderte er.

Mit dieser Plattitüde gab sie sich zufrieden, denn sie wandte sich wieder an Fede.

Was sie miteinander sprachen, hörte Max nicht mehr. Er hatte sich auf den Weg zur Rezeption gemacht, die vorne, in der Nähe des Foyers lag.

Als er sich dem Tresen näherte, traten gleich drei Bedienstete auf ihn zu. Nicht sicher, an wen er sich nun wenden sollte, sprach er den jungen Mann an, der ihm am nächsten stand. Auf dem Namensschild am Revers seines steifen Anzugs konnte Max den Vornamen Robert lesen. «Bei Ihnen logiert eine Gruppe von Leuten aus Peking. Ich müsste mal deren Reiseleiter sprechen.»

«Es sind zwei», sagte Robert, der zweifelsfrei schnell kapierte. «Ich erinnere mich spontan nur an ihre Nachnamen Li und Chen.»

«Li Zuko und Chen Akuma heissen sie. Könnten Sie sie an den Empfang bestellen?»

Robert tippte auf die Tastatur vor ihm und warf einen ernsten Blick auf den Bildschirm. «Sie sind nicht im Haus. Sie machen einen Ausflug auf das Jungfraujoch.»

«Mit der ganzen Gruppe?» Vor lauter Enttäuschung fiel Max nichts Gescheiteres ein. Was hatte er bloss gedacht? Die Männer würden in ihrem Zimmer warten und Däumchen drehen? Sie hatten einen Job, ihrer Touristengruppe Erlebnisse zu bieten, sie zu begleiten und die Informationen zu übersetzen, die nirgends in ihrer Sprache geschrieben standen.

Max trommelte nervös mit den Fingern auf den Tresen. «Wenn sie zurück sind, teilen Sie ihnen bitte mit, sie sollen sich mit mir in Verbindung setzen.» Er liess seine Visitenkarte liegen.

Er brauchte frische Luft. Von den üppig arrangierten Jasminblüten, die im gesamten Raum aus Trögen wuchsen, ging ein intensiver Geruch aus. Max flüchtete nach draussen, was in Anbetracht der Hitze keine gute Idee war. Sie umgab ihn wie ein Pelzmantel. Er hätte das Hemd wechseln sollen. Seine Reservekleider befanden sich im Zelt. Vermaledeit! Er musste sich etwas einfallen lassen. Es konnte nicht sein, dass er sich dermassen und wahrscheinlich grundlos aufregte.

Auf der Wiese gegenüber landeten im Minutentakt die Paraglider in Doppelbesetzung. Leute mit ihren Smartphones standen herum und kriegten nicht genug vom Blick auf das Display. Zu Hause würden sie es bedauern, vor Ort nicht mehr durch ihre Augen wahrgenommen zu haben.

Die Jungfrau im Hintergrund nahm den Spickel zwischen den bewaldeten Bergrücken ein wie ein glitzerndes Juwel. Das Fragment eines Triptychons, das nur aus dieser Perspektive so zu sehen war. Die Sonne schien auf ihre Firne und liess sie unter dem blauen Himmel leuchten. Es wirkte so harmonisch, als wäre die Welt abgemessen.

Doch so jungfräulich der Berg auch strahlen mochte, Max sah in ihm etwas Düsteres, wenn nicht etwas Abgründiges. Woher das seltsame Gefühl kam, darauf konnte er sich keinen Reim machen. Es war ihm, als verbärge die unvollendete Ansicht des Dreigestirns ein Geheimnis.

War es ein Fehler gewesen, diesen Auftrag anzunehmen? Noch hatte er so gut wie nichts in Erfahrung gebracht. Die Brüder Xìngshì liessen ihn im Ungewissen. War etwas dran an dem Klischee, dass die Chinesen hinter einer lächelnden Maske ihr wahres Gesicht verbargen?

«Mister Max.» Die Stimme kam von hinten.

Max drehte sich um. Er hatte sich das Mondgesicht mit dem Muttermal links am Kinn eingeprägt. «Mister Xìngshì.» Er hielt sich mit einer überschwänglichen Begrüssung zurück, streckte seine rechte Hand zum Gruss aus. «Ich bin froh, treffe ich Sie hier.»

«Haben Sie schon gegessen?»

«Ja, danke», log Max.

«Wie wäre es mit einem Drink? Ich habe gehört, an der Bar gäbe es wunderbare Erfrischungsgetränke und heisse Tees.»

«Später vielleicht.» Max mochte diese Begrüssungsrituale nicht. Xìngshì holte immer weit aus, bis er auf den Punkt kam. Das, worum es bei ihm ging, teilte er lieber wie beiläufig mit. «Ich habe eine erste Spur. Möglicherweise haben Ihre Frau und die Frau Ihres Bruders im Freilichtmuseum Ballenberg übernachtet.»

«Ich kenne kein Hotel im Museum.» Xìngshì blieb ruhig.

«Sie könnten auf dem Gelände gewesen sein», sagte Max vorsichtig und versuchte in den nächsten Minuten, seine Beobachtungen plausibel zu erklären. «Sind Sie sicher», fragte er abschliessend, «dass Ihre Frau und Ihre Schwägerin hier in der Nähe keine Bekannten haben?»

«Absolut sicher. Sie kennen sich hier nicht aus.»

Max gab sich nicht zufrieden. «Ich muss eine Entführung ausschliessen können.»

Erstes Zögern von Xìngshìs Seite. Er sah auf den Boden und schwieg.

«Kommt Ihnen spontan jemand in den Sinn, dem Sie und Ihr Bruder ein Dorn im Auge sein könnten?»

«Ein Dorn im Auge?» Xìngshì verzog seinen Mund. «Ich bitte Sie.» Ob er mit dieser Floskel etwas anfangen konnte?

«Erzählen Sie mir, weshalb Sie in Interlaken sind.»

«Wir machen Urlaub.»

«Warum sind Sie dann nicht auf dem Jungfraujoch?» Im Moment der Frage begriff Max, dass er damit zu weit gegangen war. «Entschuldigen Sie bitte, das … das war nicht passend.»

Xìngshì Dan setzte ein Lächeln auf, das Max nicht zu deuten vermochte. «Ich verstehe Ihre Bedenken. Mein Bruder und ich sind in der Schweiz keine Unbekannten. Wir tätigen Geschäfte in Ihrem Land, das von solcher Schönheit ist. Wir wollten unseren Frauen diese Einzigartigkeit zeigen, deshalb haben wir diese Reise gebucht.» Er wandte sein Gesicht ab. «Es ist eine Tragödie, was passiert ist.»

«Dann sollten Sie zur Polizei gehen.»

Xìngshì packte Max plötzlich an den Armen, eine Geste, die er nicht erwartet hatte. «Ich kann nicht, Mister Max. Es ist alles viel komplizierter, als Sie denken.»

***

Am Nachmittag trödelte Max durch Interlaken. Fede befand sich im Tourismusbüro und versuchte, über den Aufenthalt von Shenmi und Yuyun etwas herauszufinden. Max spazierte an den Uhrengeschäften und Kleiderboutiquen vorbei und schaute in die voll besetzten Gartenrestaurants, die überquellenden Souvenirshops. Interlaken hatten nicht nur die Asiaten fest im Griff, auch Inder und arabische Gäste hatten den Ort für sich entdeckt. In schwarze Abayas gekleidete Frauen trotzten der Hitze. Max taten sie leid. Wie hielten sie es unter diesen Gewändern aus, während ihre Männer mit Shirt und kurzen Hosen ihren Reichtum demonstrierten, mit der vergoldeten Rolex am Handgelenk oder dem Gucci-Täschchen am Arm der Frau?

Max ertappte sich dabei, wie er jeder asiatischen Frau nachsah. Wenn sie ihm entgegenkamen, schaute er länger als üblich in ihre Gesichter in der Meinung, unter ihnen die Vermissten zu erkennen. Vielleicht hatten Shenmi und Yuyun Interlaken längst verlassen. Auch damit musste er rechnen. Er bekundete mit der Vorstellung Mühe, dass sich die Frauen nicht zu wehren wussten. Ausser, und er musste auch mit dieser Option rechnen, man hatte sie entführt. Eine Geldforderung war bis anhin jedoch nicht eingegangen. Die Xìngshì-Brüder hatten nichts durchblicken lassen. Andererseits hätten sie dann kaum im Sachseln-Haus übernachtet. Irrte er sich?

Nach einer Stunde erfolglosen Umherschlenderns kehrte Max ins «Victoria-Jungfrau» zurück. Der anonyme Anrufer hatte sich ein zweites Mal gemeldet und Max darauf hingewiesen, der Tod seines Vaters sei von langer Hand geplant gewesen. Was wollte der Unbekannte damit bezwecken? Max hatte lange gebraucht, um über den Tod seines Vaters hinwegzukommen. Wer konnte ein Interesse daran haben, alte Wunden aufzureissen? Aber vielleicht durfte er es nicht für bare Münze nehmen. Seit sein Name im Zusammenhang mit der Detektei im wöchentlichen Anzeigenblatt erschien, war er angreifbar geworden. Er erfuhr fast täglich, welch kranke Gestalten sich auf dem Erdball tummelten.

Wie nicht anders zu erwarten, sass Milagros im Garten. Sie unterhielt sich mit einem älteren Herrn und war dermassen in das Gespräch vertieft, dass sie Max nicht beachtete. Er schlich vom Garten her über die Treppe, die ins Hotelinnere führte, rechts die Fassade entlang und setzte sich an einen kleinen Tisch unter einer Markise. Milagros drehte ihm den Rücken zu. Der Herr hatte sich zwischenzeitlich zu ihr gesetzt. Max schnappte Wortfetzen auf, war sich nicht gleich schlüssig, worum es ging. Erst mit der Zeit vermochte er, aus den Wortfragmenten ein Gesamtbild zu erstellen. Milagros wollte vermutlich in ein Bauprojekt investieren. Max traute es ihr durchwegs zu. Es schien, dass der Mann an ihrem Tisch die Fäden zog. Worauf liess Milagros sich gerade ein? Max hatte das Bedürfnis, sie von etwas abzuhalten, das ihr später leidtun und sie bereuen würde. Er kannte sie. Andererseits würde er etwas machen, was er selbst verpönte – sich einmischen.

Max erhob sich, ging auf die beiden zu und begrüsste seine Mutter. Verdattert waren beide.

«Wo kommst du her?» Milagros hatte sich als Erste wieder gefangen. Dass Max in ihre Unterredung platzte, war ihr offenbar unangenehm. Sie wandte sich an den Mann an ihrer Seite. «Das ist Maximilian, mein Sohn.» Und an Max: «Das ist Levi Bromberg …», sie zögerte, «… von dem ich dir, glaube ich, erzählt habe.»

Max reichte ihm widerwillig die Hand. Der Mann war ihm auf Anhieb unsympathisch. Seine ganze Haltung vermittelte etwas Undurchschaubares. Max glaubte, es auch in seinen Augen zu sehen. «Und, wollen Sie meiner Mutter eine Wohnung in Interlaken verkaufen?», provozierte er.

«Maximilian!» Milagros bekam ihren roten Mund nicht mehr zu.

«Sorry, du sagtest letzthin, Herr Bromberg handle mit Immobilien.» Max lächelte in seine Richtung. Schlohweisse Haare umrahmten ein Gesicht, das in der Vergangenheit von zu viel Sonne bestrahlt geworden war. Wie dunkelbraunes Leder spannte sich die Haut. Die schiefergrauen Augen waren ein aussergewöhnlicher Kontrast.

«Das ist richtig.» Bromberg hatte sich schnell wieder gefasst, falls er Max’ Bemerkung als Affront empfand. «Ich verkaufe und vermiete Wohnungen und Häuser.»

Milagros war nicht wohl in der Haut. Sie lenkte vom Thema ab. «Bist du mit deinen Recherchen schon weitergekommen?»

«Nicht wesentlich.» Max wandte sich wieder an Bromberg. «Ich habe vernommen, Sie seien der Erste gewesen, der vom Verschwinden der Frauen erfahren hatte.»

«Ich kenne die Brüder Xìngshì seit einiger Zeit.» Bromberg legte sein linkes über das rechte Bein und verschränkte die Arme. «Sie sind zwei- bis dreimal im Jahr in Interlaken.»

«Arbeiten Sie mit ihnen zusammen?»

Über Brombergs Gesicht zog ein Schatten, sein Blick verdüsterte sich. «Was wollen Sie mit dieser Frage bezwecken?» Er hielt seinen Zorn augenscheinlich im Zaum. «Als ich erfuhr, dass Sie Privatdetektiv sind, riet ich den Xìngshìs, sich an Sie zu wenden. Wie ich feststelle, war das ein Fehler.» Bromberg stellte die Beine gerade hin, löste die Arme, erhob sich und verneigte sich vor Milagros. «Sie entschuldigen mich.»

Als Bromberg ausser Sichtweite war, prasselte es von Milagros Vorwürfe. «Was ist bloss in dich gefahren! Wie wagst du es, meinen Gast zu verscheuchen!»

«Seine Reaktion zeugt von Arroganz. – Ich habe keine Ahnung, warum er aufgestanden ist. Ich habe bloss ein paar Fragen gestellt.»

«Wir hatten ein gutes Gespräch. Er ist Gentleman durch und durch. Und du benimmst dich wie ein Elefant im Porzellanladen. Schäm dich!»

«Sorry, wenn ich dich von einem lukrativen Geschäft abgehalten habe.» Max schrieb sein unzimperliches Vorgehen diesem anonymen Anruf zu. Sein Inneres war dermassen aufgewühlt gewesen, dass er sich Luft machen musste. Es war zu spät. Er hatte gerade alles vermasselt. Er versuchte nicht einmal, das Desaster durch eine kleine Nettigkeit ungeschehen zu machen. Dabei hätte er gerade jetzt die Chance gehabt, etwas über Bromberg zu erfahren.

«Ach, da kommt Federica.» Milagros atmete sichtbar aus.

Fede! Das Kleid klebte an ihrem Körper.

«Nichts», sagte sie. «Absolut nichts. Die Frauen haben nicht in Interlaken übernachtet, in keinem der Hotels. Ich habe ihr Bild herumgezeigt. Niemand will sie gesehen haben.» Sie wollte sich setzen.

Max hielt sie davon ab. «Wir sollten zurück zu unserer Unterkunft.» Er sagte nichts von einem Zelt, um Milagros’ Einwände zu umgehen. Sie hätte sich den Mund darüber zerrissen und wirklich einen Grund gehabt, ihm zu grollen.

«Wollt ihr schon aufbrechen?», fragte Milagros enttäuscht. Den Disput mit Max schien sie auszublenden.

«Wir werden uns melden», sagte Fede, «sobald wir wieder salonfähig sind.»

«Morgen Abend gehe ich ins Freilichttheater in Matten. Soll ich für euch auch Tickets besorgen?»

Die Frage erwischte Max eiskalt. «Du willst dir Wilhelm Tell ansehen? Den kennst du sicher in- und auswendig.» Und an Fede gewandt sagte er: «Sie besucht die Aufführung in jedem Sommer … mindestens zweimal.»

«Ich wünschte, du würdest dich mehr für Kultur interessieren.»

Dass sie ihn nicht als Kulturbanausen bezeichnete, rechnete Max ihr hoch an. Er zog Fede sanft vom Tisch weg.

«Habt ihr das Kriegsbeil ausgegraben?», fragte sie, kaum sassen sie in Max’ Auto.

«Warum meinst du?» Max startete den Motor. Der Mustang schnurrte wie eine Raubkatze. Max mochte dieses Geräusch. Dazu die epische Musik von Thomas Bergersen. Es lenkte ihn von allem Unerfreulichen ab.

«Ich musste nur in eure Gesichter sehen. Was ist euch über die Leber gekrochen?»

«Es lohnt sich nicht, darüber zu sprechen.» Max fuhr vom Parkplatz auf die Strasse. «Ich möchte aber, dass du herausfindest, wer Levi Bromberg ist.»

«Wir haben einen anderen Auftrag.»

«Genau um den geht es. Überleg doch mal. Bromberg und die Xìngshìs müssen enger miteinander zu tun haben. Nicht umsonst haben sich die Chinesen an ihn gewandt.» Max erzählte vom kurzen Gespräch mit Bromberg, ohne sein unmögliches Verhalten ihm gegenüber zu erwähnen. «Ich muss zuerst erfahren, in welchem Umfeld sich die Frauen befanden, bevor sie verschwunden sind. Ob wir eine Entführung ausschliessen können oder was der Grund sein könnte, warum sie ausgerissen sind.» Max fuhr nach einer Slalomfahrt von Umwegen über die Bahnhofstrasse Richtung Unterseen. Autobusse verhinderten ein rasches Vorwärtskommen. Die Sonne strahlte vom Himmel wie ein Feuerwerfer in einer apokalyptischen Szenerie. Aus der Stereoanlage erklang die Melodie von «Empire of Angels». Es reichte, um Max in eine Art Trance zu versetzen.

Das iPhone surrte über die Freisprechanlage. Die Musik verschwand. Max fühlte sich gestört und liess es klingeln.

«Willst du das Gespräch nicht annehmen? Es könnte wichtig sein.»

Max kannte die Nummer nicht. Ob es der Unbekannte war, der ihn vorhin belästigt hatte? Er hatte kein Bedürfnis, Fede an seinem Schmerz teilhaben zu lassen, denn dieser würde unweigerlich zurückkehren. Nach einem kurzen Zögern meldete er sich.

«Max von Wirth?» Eine hohe laute Stimme. «Mein Name ist Chen Akuma. Ich bin der Reiseleiter von den Leuten aus Peking. Sie haben mich gesucht.»

Max beruhigte sich. «Danke für den Rückruf, Mister Chen. Es geht um … Xìngshì Shenmi und Yuyun. Ich gehe davon aus, Sie wissen, was passiert ist.»

Keine Antwort.

«Ich habe den Auftrag bekommen, nach ihnen zu suchen.»

«Die Brüder Xìngshì möchten nicht, dass das breitgeschlagen wird.»

«Deshalb haben sie mich engagiert. Ich bin Privatdetektiv.»

«Ich kann Ihnen leider nichts dazu sagen.»

Max hatte den Anruf auf laut gestellt. Er warf Fede einen Blick zu. «Habe ich etwas gefragt?»

Sie hielt den Finger vor den Mund. «Sag nichts Unüberlegtes», flüsterte sie.

«Ich muss ein paar Dinge über die Frauen in Erfahrung bringen. Dazu könnten Sie mir sicher behilflich sein», schmeichelte Max, ahnte aber, Chen könnte das Telefonat abbrechen.

«Ich glaube nicht, dass ich Ihnen helfen kann. Ich habe die Reisegruppe in Zürich übernommen. Was vorher war, entzieht sich meiner Kenntnis. Wenn ich von jedem meiner Gäste Fichen anlegen würde, wo käme ich hin?»

Max liess sich nicht abwimmeln. «In welchem Reisebüro haben sie gebucht?»

«Die meisten unter ihnen in einem Reisebüro in Peking, mit Ausnahme der Familie Xìngshì. Mir liegen die Unterlagen von einem Büro in Interlaken vor.»

«Kann es sein, dass nicht die Xìngshìs, sondern jemand in der Schweiz für sie gebucht hat?»

Ein Zögern. «Das ist anzunehmen.»

«Nennen Sie mir den Namen?»

«Den vom Reisebüro kann ich Ihnen mitteilen», sagte Chen. «Es ist ‹Bödeli-Reisen›. Aber das haben Sie nicht von mir.»

«Es bleibt unter uns.» Max fuhr über die Seestrasse, über eine lange Gerade. Ein paar Bauernhöfe mit Landumschwung links und rechts. Feldarbeiter, die geschnittenes Gras zum Trocknen verzettelten. «Fiel Ihnen, als Sie mit den Xìngshìs im Ballenberg waren, etwas Ungewöhnliches auf? Gab es Streit zwischen den Ehepaaren, den Eheleuten?»

«Nein, das ist mir nicht bekannt. Ich erinnere mich nur, dass Yuyun und Shenmi immer miteinander unterwegs waren. Sie trennten sich keine Minute voneinander.»

«Wir haben Bilder, auf welchen Ihre Gruppe im Ostschweizer Teil zu sehen ist», sagte Max.

«Das war etwa die letzte Station, als die Frauen bei uns waren. Es gab da einen jungen Mann, der unablässig Fotos schoss. Einer der Filmcrew, die sich ebenfalls dort befand, hat ihn mehrmals zurechtgewiesen … und nein, die Eheleute stritten sich nicht.»

«Welchen Eindruck hatten Sie von den Frauen? Waren sie scheu?»

«Nein, ganz normal, wie Frauen so sind. Sie kicherten immerzu … allerdings …»

«Ja?»

«Eine von ihnen schien mir manchmal sehr traurig zu sein.»

«Welche von beiden?»

«Das kann ich nicht sagen.»

«Hatten Sie das Gefühl, Shenmi und Yuyun kannten sich in der Gegend aus?»

«Sie sind zum ersten Mal in der Schweiz. Aber sie haben sich gewiss auf diese Reise gut vorbereitet. Die Asiaten studieren die Orte, die sie bereisen. Sie mögen keine Überraschungen. Und vor allem wollen sie Sicherheit.» Chen räusperte sich. «Ich muss unser Gespräch beenden. Ich werde verlangt. Wenn Sie mehr erfahren möchten, so halten Sie sich an das Reisebüro … ‹Bödeli-Reisen›, wie ich gesagt habe.»

Fede hatte auf ihrem iPhone die Adresse bereits herausgesucht. «Wollen wir dorthin gehen, bevor wir zum Campingplatz fahren?»

«Das hat Zeit bis morgen.» Max hatte nur einen Wunsch. «Ich freue mich auf einen Sprung in den kühlen See.»

«Du nimmst es verdammt locker», insistierte Fede.

«Weil ich glaube, dass die Frauen von sich aus verschwunden sind.»

Interlaken

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