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VIER

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Plüscheisbären und Eisschollen aus Styropor schmückten das Schaufenster. «Bödeli-Reisen» warb für eine Expedition nach Alaska, passend in diesem Sommer, in dem man nach Abkühlung lechzte. Max und Fede betraten das Reisebüro an der Bahnhofstrasse, kaum hatte dieses am Morgen seine Tür geöffnet. Das Interieur wirkte einladend: zwei Pulte in entgegengesetzter Richtung, davor je zwei Stühle, dahinter ein Regal an der Wand, voll beladen mit Reisejournalen, Katalogen über ferne Destinationen, bunt und ansprechend. Die exotischen Orte warben mit Sandstränden und Sonnenuntergängen, die Städte mit lächelnden Frauengesichtern. Der Weltfrieden war an diesen Wänden spür- und sichtbar. Es gab keine Kriege, weder Terroranschläge noch Hungersnöte. Selbst die vom Eidgenössischen Departement des Äussern als heikel eingestuften Reiseorte blufften mit sehenswerten Kulturstätten. Max scannte die Eindrücke in Sekundenschnelle ein.

Die Frau hinter einem der Pulte trug einen ärmellosen weissen Overall, hatte eine knabenhafte Frisur und begrüsste ihre Gäste mit einem Ausdruck auf dem Gesicht, welcher ihre Abneigung gegen alle richtete, die sie zu so früher Morgenstunde störten. Max sah ihr an, dass sie nicht mit Besuch gerechnet hatte. Ihr konnte das Reisebüro unmöglich selbst gehören. Sie sass hier wohl die Zeit ab, verdiente schlecht, während ihr Chef rund um den Globus reiste, um die Eindrücke zu sammeln, die seine Angestellte als Single-, Familien- und Gruppenreisen anbot.

«Ich heisse Daria», sagte sie. Ein schnelles Lächeln, erzwungen wahrscheinlich. «Wie kann ich Ihnen helfen?»

Max zeigte seinen Ausweis, der ihn zum Detektiv legitimierte. Daria warf kurz einen Blick darauf. «Polizei?», fragte sie. Offenbar hatte sie die Karte nicht genau angesehen.

Max liess sie in dem Glauben. «Im Verlauf des letzten halben Jahres hat Herr Levi Bromberg aus Interlaken eine Reise von Peking in die Schweiz gebucht, präziser, nach Zürich …» Max versuchte es mit einer Spekulation, derweil er keine Ahnung hatte.

«Ich weiss, wer Bromberg ist.» Daria verzog ihren Mund. Ein Lachen blieb aus. «Mein Chef.»

Max wandte sich an Fede. «Warum weiss ich das nicht?»

«Das höre ich auch zum ersten Mal.»

«Das vereinfacht die Sache.» Max räusperte sich. «Ihr Chef hat die Reise also gebucht.»

«Sie war ein Geschenk an seine chinesischen Freunde Dan und Lian Xìngshì, in Begleitung mit ihren Frauen. Ich habe die Unterlagen dazu erst noch in den Händen gehalten.»

«Aus welchem Grund?»

«Bitte?»

«Warum hatten Sie die Unterlagen hervorgeholt?»

«Ich habe sie nicht hervorgeholt. Ich entdeckte sie gestern Morgen auf dem Pult, nachdem ich am Abend zuvor picobello aufgeräumt hatte. Ich wunderte mich ein wenig –»

«Können Sie sich einen Reim darauf machen, weshalb die Reisedokumente auf Ihrem Pult lagen?», unterbrach Max sie.

«Ich gehe davon aus, es hat mit dem Verschwinden der beiden Frauen zu tun.»

«Hat sich Ihr Chef dahingehend geäussert?»

«Ich habe ihn nicht gesehen. Er muss während meiner Abwesenheit hier gewesen sein. Das kommt öfters vor. Herr Bromberg lässt meinem Kollegen und mir viel Freiheit. Er kontrolliert erst, wenn wir Feierabend machen. Das ist verständlich, hat er doch weit wichtigere Geschäfte als dieses kleine Reisebüro.» Daria sah zuerst Max, dann Fede an. «Sie sind nicht von der Polizei, oder?»

«Nein, wir sind Detektive.» Max näherte sich erneut dem Pult, auf dessen Rückseite Daria noch immer stand. «Es wäre für uns hilfreich, wenn Sie uns alles, was Sie über die Xìngshìs wissen, erzählen könnten. Wir suchen nach ihren verschollenen Frauen. Sicher steht etwas über sie in Ihren Unterlagen. Ihre ledigen Namen, ihr Heimatort, sofern ein solcher notiert ist, das Geburtsdatum.»

Daria fuhr den Computer hoch. «Ist alles auf dem Rechner.» Sie zögerte plötzlich. «Ich weiss nicht … Ich bin nicht befugt, Ihnen Auskunft zu geben.»

Fede zog die Augenbrauen hoch. «Sie würden nicht nur uns einen grossen Dienst erweisen.»

Daria räusperte sich. «Ehm … okay, die Unterlagen habe ich verräumt. Einen Augenblick bitte.» Sie tippte mit dem Cursor auf ein Dokument. «Hier, vielleicht werfen Sie selbst einen Blick darauf.» Sie drehte den Bildschirm in Max’ Richtung. «Sie sind mit Cathay Pacific Airways geflogen. Ihre Rückreise ist für den 1. Juli gebucht.»

«Xìngshì Lian und Yuyun», las Fede, die sich zwischen den Bildschirm und Max geschoben hatte. «Jahrgang 1979 respektive 1990 und Xìngshì Dan und Shenmi, Jahrgang 1980 und 1990. Es existieren keine ledigen Namen.»

«Das ist höchst sonderbar», sagte Max. «Chinesische Frauen behalten nach der Heirat ihren ledigen Namen.» Er wandte sich an Daria. «Sind in Ihrer Datenbank die Kopien der Pässe?»

«Nein.» Daria scrollte nach unten. «Mir ist aber, als hätte ich die ledigen Namen von den zwei Frauen gelesen. Möglicherweise sind sie der Einfachheit halber nicht unter ihren Mädchennamen aufgeführt. Hier, sehen Sie? Wang Yuyun und Tong Shenmi … im Kleingedruckten.»

«Steht auch, woher sie kommen?» Fede gab sich nicht zufrieden.

«Aus Peking, steht ja da.» Daria hob ihre Schultern.

«Ich meinte, bevor sie heirateten.»

«Das dagegen steht nirgends.» Daria bedauerte es, ihnen nicht eine ausführlichere Auskunft darüber geben zu können. «Ich kann Ihnen höchstens mitteilen, wo überall sie logiert haben und beabsichtigen, es in den nächsten Tagen zu tun … also, wenn sie nicht verschwunden wären. Auch die Ausflüge sind drauf. Gestern zum Beispiel stand das Jungfraujoch auf dem Programm, heute die Schynige Platte. Die Tickets dazu wurden den Gästen bereits ausgehändigt.»

«Sie werden bestimmt nicht diesen Reiseplänen gefolgt sein.» Max machte Notizen auf seinem iPhone. «Wang Yuyun und Tong Shenmi.» Er wandte sich an Fede. «Ihre Pässe sind auf diese Namen ausgestellt.» Er flüsterte Fede zu. «Logisch, waren die Frauen auf dem Touristenbüro nicht bekannt, wenn man sie unter Xìngshì sucht. Ich verstehe nicht, warum die Auftraggeber uns diesen Aspekt verschwiegen haben.»

«Sie haben von Anfang an nicht mit offenen Karten gespielt.» Fede verdrehte die Augen, dass nur Max es sehen konnte. «Haben die Brüder Xìngshì nicht gesagt, die Muttersprache ihrer Frauen sei Kantonesisch?» Sie spitzte ihren Mund. «Kantonesisch wird im südlichen China gesprochen. Okay, lassen wir uns deswegen nicht verrückt machen. Finden wir heraus, wo die Frauen die Nächte vom Sonntag bis heute verbracht haben. Gehen wir noch einmal zum Tourist Office, gemeinsam.»

Max händigte Daria seine Visitenkarte aus. «Sollte Ihnen noch etwas einfallen, erreichen Sie mich jederzeit unter meiner Handynummer.»

Draussen wehte ein trockener Wind, der den Geruch nach gebratener Wurst über die Strasse trieb. Max verspürte zum ersten Mal Hunger. Er hatte das Frühstück auf dem Campingplatz kaum angerührt, obwohl Fede sich in ihren Kochkünsten übertroffen hatte. In die Omelette hatte sie Champignons gemischt, etwas, das Max auf Teufel komm raus nicht ausstehen konnte. Er sehnte sich nach einem Stück Fleisch.

Fede war früh auf gewesen, hatte wohl nach Levi Bromberg geforscht. Erste Informationen hatte sie kurz angetönt. Es war an der Zeit, dass Max mehr über ihn erfuhr, vor allem aus dem Grund, weil Milagros mit ihm zu tun hatte.

«Wollen wir uns eine Bratwurst holen? Dort drüben ist ein Stand.»

«Ich esse keine Würste.» Fede schlenderte fröhlich drauflos. «Aber etwas zu trinken wäre nicht schlecht.»

«In Engelberg hast du auch Würste gegessen.»

«Das ist lange her. Ich bin Vegetarierin mit fleischlichen Gelüsten.»

«Sporadisch, gerade so, wie es dir in den Kram passt.» Max konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Mittlerweile hatte er sich an Fedes unmögliche Essgewohnheiten gewöhnt. Sie ass, wenn sie Hunger hatte, auch nachts. «Was hast du über Bromberg herausgefunden?»

Sie überquerten die Bahnhofstrasse, stellten sich in die Schlange wartender Touristen vor dem Essstand.

«Sagt dir der Name ‹Libertatem› etwas?»

«Ich habe davon gehört, weiss aber nicht, in welchem Zusammenhang.»

«Das sind eine Art Freimaurer. Es ist ein international tätiger Orden auf humanitärer Basis. Sie sind den Menschenrechten und dem Frieden verpflichtet. Ein Geheimbund, in dem nur Männer Mitglieder sein können. Sie bezeichnen sich politisch und konfessionell als neutral.»

Max hatte den Verkaufstresen erreicht und bestellte sich eine Bratwurst mit Brot. «Und zwei Apfelschorlen», sagte er, die Frage des Verkäufers beantwortend.

«Levi Bromberg ist Mitglied.»

«Steht das auf der Website?»

«Natürlich nicht.» Fede schenkte Max ein verschmitztes Lächeln. «Ich gelangte über Umwege auf die Mitgliederliste und fand heraus, dass er gebürtiger Amerikaner ist, der sich vor Jahren in Interlaken hat einbürgern lassen, lange bevor er im Palace Luzern als Küchenchef arbeitete. Er hat hier in Interlaken die Kochlehre gemacht. Seine Eltern stammen aus Deutschland, leben wahrscheinlich noch immer in den Staaten.»

«Du hast also wieder einmal einen Hackerangriff gestartet.» Max nahm Wurst, Brot und die Getränke entgegen, während sein Gegenüber ihn mit Glotzaugen anstarrte. «Da, halt mal, ich muss bezahlen.»

Fede nahm Speis und Trank in ihre Hände. «Das ist übertrieben.»

Max reichte dem Verkäufer zwei Zehnernoten. «Der Rest ist für Sie.» Sie entfernten sich vom Stand.

Fede reichte Max das Essen. «Allein in Interlaken sind dreiundzwanzig Mitglieder aufgelistet. Möglicherweise sind sie über das ganze Berner Oberland verteilt.»

«Sie sind harmlos, oder? Etwa so wie die Rotarier, die Lions oder die Odd Fellows, die hier in Interlaken sogar einen ganzen Häuserblock geerbt haben.»

«‹Libertatem Bern› ist bloss eine Untergruppe in einem internationalen Geflecht. Wie es scheint, ist jede Fraktion autonom, was Entscheidungen betrifft.»

«Und die sicher die Ärmsten in ihrem Einflussbereich unterstützt.» Max biss in die Wurst. Vom Kalb und braun gebraten. Er liebte es.

«Ja sicher.» Fede schnappte sich etwas vom Brot.

«Du vermutest etwas anderes, oder?»

«Dieser Bromberg scheint sehr einflussreich zu sein. Ich werde herausfinden, wo er überall die Finger im Spiel hat.»

«Was hat dies mit unserer Aufgabe zu tun?»

«Ich suche nach Verbindungen, das wolltest du doch auch.»

«Zu Shenmi und Yuyun?»

«Zu den Chinesen.»

Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinanderher. Max hatte zwar die Ermittlungen in Richtung Bromberg angezettelt, dennoch vermochte er nicht, sich einen Reim darauf zu machen, weshalb Fede von ihm plötzlich so besessen war. Er hatte einen Bissen verzehrt, als sie fortfuhr: «Erinnerst du dich an die Überbauung am Brienzersee?»

«Ich habe, ehrlich gesagt, nicht so sehr darauf geachtet.»

«Egal, die Häuser werden über die Bromberg-Immo AG verkauft. Möglicherweise stecken auch die Xìngshìs mit drin. Ich werde es herausfinden.»

Max stoppte den Schritt, wandte sich frontal ihr zu. «Wir suchen zwei vermisste Frauen. Ihre Männer wenden sich an Bromberg.»

«Genau, sie würden es nicht tun, wenn er ihnen fremd wäre.»

Das Tourismusbüro von Interlaken lag in der Nähe des Centralplatzes. Es war kurz vor dem Mittag, als Max und Fede die Tür zum Büro öffneten. Eine Frau kam ihnen entgegen und fächerte mit einem Journal Luft in ihr rotes Gesicht. Sie wies darauf hin, dass das Office zwischen zwölf und zwei geschlossen sei.

«Wir beanspruchen bloss fünf Minuten», sagte Fede in einer Art, welche der Frau ein Lächeln entlockte.

Schweissperlen rannen über ihre Stirn. «Sie waren gestern schon einmal da.»

«Sie haben ein gutes Gedächtnis, trotz all der Leute, die Sie täglich zu sehen bekommen.»

Die Frau fühlte sich offensichtlich geschmeichelt. «Was also kann ich noch für Sie tun?»

«Wir suchen nach zwei Chinesinnen.»

«Da kann ich Ihnen beim besten Willen nicht weiterhelfen. Seit gestern hat sich nichts geändert.» Die Frau blieb in der Nähe der Tür stehen.

«Wir haben jetzt ihre richtigen Namen. Es handelt sich um Shenmi Tong und Yuyun Wang. Sie müssen hier in einem Hotel in Interlaken logieren oder zumindest ein oder zwei Nächte übernachtet haben.»

Widerwillig kehrte die Frau zu ihrem Pult zurück. Sie setzte sich und starrte auf den Bildschirm ihres Rechners, den sie mit einem Klick aus dem Stand-by-Modus geweckt hatte. «Shenmi und … wie sagten Sie?»

Fede buchstabierte die Namen.

«Ja, da habe ich eine von ihnen … Wang Yuyun, ist für eine Nacht im Aparthotel Goldey registriert, für zwei Personen. Sie hat über Trivago gebucht.»

«Und wo befindet sich das Hotel?», fragte Fede.

«In Unterseen, direkt an der Aare.»

«Wann war das?», erkundigte sich Max.

«Was?» Die Frau sah verdattert auf.

«Von wann bis wann waren sie dort?»

«Vom 22. auf den 23. Juni.»

«Gibt es von gestern auf heute keinen Eintrag?»

«Es ist möglich, dass dieser noch nicht erfasst wurde. Die Kurtaxenscheine erreichen uns manchmal verzögert, vor allem von den Hotels, die sie nicht digital übermitteln.»

«Na, gibt’s denn so was?» Max konnte es nicht nachvollziehen.

«Die kleinen Pensionen verfügen nicht überall über die modernsten Anlagen», sagte die Frau.

Max holte zu einer erneuten Bemerkung aus. Fede hielt ihn zurück. «Wir gehen zum Aparthotel Goldey.»

Die Frau erhob sich, wischte sich den Schweiss ab. «Dieser Sommer ist eine einzige Zumutung, obwohl er erst begonnen hat.»

Fede suchte auf ihrem iPhone nach der Adresse. «Das Hotel ist nicht weit von hier entfernt. Wir können gut zu Fuss dorthin. Also die Markgasse entlang bis zur ersten Aarebrücke, dann über die Spielmatte und über die zweite Brücke. Beim Restaurant Steinbock geht man rechts eine kurze Distanz über die Haberdarre und zweigt auf die Untere Goldey ab. Der Weg zum Hotel führt die Aare entlang.»

«Und wie viele Meter?» Der Asphalt brannte. Max hatte keine Lust, über kochende Böden zu gehen.

«Knapp achthundert Meter.»

«Fast ein Kilometer.»

«Max, was soll das?» Fede hielt ihn am Arm fest. «Irgendetwas bedrückt dich, seit wir hier sind. Klär mich bitte auf. Es macht mir keinen Spass, mit einem Miesepeter unterwegs zu sein.»

«Ist es so schlimm?» Max hatte nicht daran gedacht, mit seiner schlechten Laune Fede brüskieren zu können. Sie kannten sich seit knapp zwei Jahren. An manchen Tagen fühlte es sich sehr viel länger an. Wenn jemand Geheimnisse vor dem andern hatte, war das Fede. Max dagegen war wie ein offenes Buch. Oder doch nicht? «Entschuldige, ich hatte einen Disput mit Milagros.» Er setzte sich langsam in Bewegung.

«Du zögerst?» Fede kniff die Augen zusammen.

Max glaubte, ihr anzusehen, dass sie ihm dieses Argument nicht abnahm.

«Was war der Auslöser?»

Sollte er es ihr sagen? Dass er durch einen anonymen Anrufer belästigt wurde? Wenn es um seinen Vater ging, reagierte er einstweilen noch immer pikiert. Nach seinem Tod hatte Max es nicht zugelassen, dass man darüber sprach. Der Flugzeugabsturz war für ihn tabu gewesen. Es hatte zu viele schöne Erinnerungen gegeben, um diese mit einem Schlag zunichtezumachen. Vater hatte ihn, als Max sieben gewesen war, zum ersten Mal in einem Segelflieger mitgenommen. Er hatte ihm die Welt von oben gezeigt. Später hatte er ihn selbst an den Steuerknüppel gelassen und ihm kontinuierlich die Technik des Segelfliegens beigebracht. Nie hatte Max sich freier gefühlt als in dieser Unendlichkeit. Die Wolken unter ihm wie Zuckerwatte am Jahrmarkt, die Hügel und Baumspitzen in einer grandiosen grünen Sinfonie, ganze Flussläufe wie kapillare Verästelungen. Das leise Surren, wenn der Wind über die Flügel streifte, das Auf und Ab in der Thermik.

Aber vor allem diese Stille in sich selbst. An manchen Tagen hatte sie ihn fast melancholisch gestimmt. Dann hatte er den Drang verspürt, etwas Verrücktes zu tun.

«Max?»

«Sorry, was hast du gefragt?»

«Was der Auslöser war.»

«Jemand hat mich angerufen, und … er hat bereits zweimal angerufen …» Max holte Luft, versuchte, den Kloss in seiner Kehle hinunterzuschlucken. «Er behauptete, der Flugzeugabsturz, bei dem mein Vater ums Leben kam, sei kein Unfall gewesen.»

«Weisst du, was du da sagst?» Fede war sichtbar empört.

«Ich hatte mich nie dafür interessiert. Als uns die Todesnachricht erreichte, drehte Milagros durch, und ich verkroch mich in meinem Schneckenhaus. Es war in derselben Zeit, als ich meinen Job verlor. Ich kann dir nicht einmal sagen, wann es mir wieder besser ging.»

«Hast du die Anrufe gelöscht?»

«Wie meinst du das?»

«Vielleicht kann man sie zurückverfolgen.»

«Die Nummer war unterdrückt.» Max rang sich ein Lächeln ab. Manchmal stellte Fede ihre Pragmatik über alles.

«Mit Hilfe des Telefonanbieters ist dies möglich.»

«Klar wäre das möglich, aber nur mit einer richterlichen Verfügung. Ich kann aber nichts beweisen. Es war keine Drohung gegen mich, obwohl ich es als solche empfand.»

«Wenn er es ernst meint, wird er sich wieder melden. Dann nehmen wir die Stimme mit meinem iPhone auf.» Fedes Naivität war zum Lachen schräg.

Sie erreichten die erste Brücke. Die Aare passierte dort eine Schleuse. Das Wasser, weisse Gischt, trotzte im Flussbett dem Wehr. Max legte einen Halt ein, sah hinunter auf die Elemente, die gegeneinanderspielten: Luft, Erde, Wasser.

«Kommst du?»

Fedes Ungeduld hinderte Max daran, stehen zu bleiben. Er folgte ihr unter einer gedeckten Passage. Später kamen sie zur zweiten Brücke, bevor sie in die Untere Goldey abzweigten. Fede hatte nicht zu viel versprochen. Der Weg zum Aparthotel lag mehrheitlich im Schatten wuchtiger Kastanienbäume.

Er war dennoch klatschnass, als sie das Hotel erreichten. Sie betraten das Haus, das seine puristische Bauweise durch eine aussergewöhnliche Lage wettmachte. Das Innere wirkte hell und einladend. Die Rezeption lag ebenerdig beim Durchgang zum Restaurant. Ein junger Typ, dessen rotbrauner Vollbart wie angeleimt aussah, füllte Prospekte in einen Steller.

Max stellte sich und Fede mit Namen vor. «Wir sind auf der Suche nach zwei Chinesinnen, die hier vom Montag auf den Dienstag logiert haben. Die Buchung ging über Trivago ein, das Zimmer war auf den Namen Wang Yuyun reserviert.»

«Haben sie etwas angestellt?» Der Bärtige legte den Rest der Prospekte auf den Tresen. Ohne eine Antwort abzuwarten, sagte er, er möge sich an die Frauen erinnern. «Ich habe mich gewundert, weil sie mit relativ wenig Gepäck eincheckten. Sie hatten nur eine kleine Reisetasche dabei.»

«Sah diese neu aus?», fragte Fede.

«Eine Sporttasche der Marke Nike, keine Ahnung, ob die neu war. Aber sicher ein hiesiges Modell. Kann man in jedem Sportgeschäft kaufen.»

«Haben sie gesagt, wohin ihre Reise als Nächstes geht?»

«Wir haben uns kaum unterhalten. Ihr Englisch liess zu wünschen übrig. Und Chinesisch spreche ich nicht. Aber sie interessierten sich für Prospekte über das Jungfraujoch. Ich glaube, sie sind auf den Berg gefahren.»

«Wissen Sie, wann?»

«Entweder gestern oder heute. Nehme ich mal an.»

«Wo könnten sie von gestern auf heute übernachtet haben?»

Der Bärtige strich sich über das rotbraune Gestrüpp. Bei dieser Hitze musste es ihn fast umbringen. «Falls sie gestern auf das Jungfraujoch gefahren sind, haben sie vielleicht in Wengen oder auf der Kleinen Scheidegg übernachtet. Das tun die meisten, wenn es Platz hat, um sich wegen des Höhenunterschieds zu akklimatisieren.»

«Ist es möglich, dass Sie dies für uns abklären?» Fede hatte sich einen der Prospekte geschnappt, blätterte darin, während sie den Bärtigen mit einem koketten Augenaufschlag bezirzte. Sie schaffte es immer wieder, die für sie unangenehmen Dinge zu delegieren. Man müsse sich auf das Wesentliche konzentrieren, war ihre Ansicht.

«Wer möchte das wissen?» Der Bärtige schien zu bemerken, wie er seit geraumer Zeit bereitwillig Auskunft gegeben hatte, ohne das Gegenüber näher zu kennen.

«Wir sind Detektive und auf der Suche nach den Frauen», sagte Max und warf einen Blick durch die Fensterfront. Die Aare bewegte sich träge talwärts.

«Ach so. Sie sahen nicht danach aus, dass sie auf der Flucht sind.» Über sein Gesicht zog Röte im Wettstreit mit dem Bart. «Andererseits kam es mir seltsam vor. Werden sie verdächtigt, etwas angestellt zu haben? Also, das Hotelarrangement haben sie auf jeden Fall mit der Kreditkarte bezahlt.»

«Auf wessen Namen?»

Der Bärtige verschwand hinter dem Tresen und sah auf den Bildschirm des Rechners. Er tippte etwas ein. «Yuyun … Wang Yuyun.»

Max überlegte. «Okay, sie haben eine eigene Kreditkarte.»

«Das ist beruhigend zu wissen», sagte Fede. «Würde die Stammkarte auf ihren Mann lauten, hätte er sie sicher schon längst gesperrt.»

Der Bärtige griff kopfschüttelnd nach dem Telefonhörer der Festnetzstation. «Ich werde mal anrufen. Zufällig arbeitet ein Kollege von mir im Hotel Bellevue des Alpes auf der Kleinen Scheidegg. Ich kenne die Nummer auswendig.» Er zwinkerte nicht Fede, sondern Max zu.

Er hatte seinen Kollegen am Draht. Er sprach über das heisse Wetter und dass er auch lieber auf zweitausend Metern über Meer sein würde. «Du, sag mal, kann es sein, dass bei euch gestern zwei Chinesinnen eingecheckt haben?» Pause. «Logisch, davon gehe ich aus … zwei Frauen im Alter von ungefähr dreissig Jahren … ja, das weiss ich … Gestern. Aha …» Der Bärtige warf einen Blick auf den Computerbildschirm. «Auf den Namen Wang Yuyun … nein? Schau mal unter …» Er wandte sich an Max. «Wie hiess die andere?»

«Tong Shenmi.»

«Tong Shenmi.» Lange Pause. «Aha, und wann reisen sie wieder ab? … Was, sie haben bereits ausgecheckt? Hm …» Der Bärtige zupfte am Bart, sah wieder nur Max an. «Ja, gut, danke.» Er verabschiedete sich und legte den Hörer auf die Station zurück. «Tja, die Mädels sind heute um halb zwölf nach ganz oben gefahren, und übernachtet haben sie von gestern bis heute im Hotel Bellevue des Alpes.»

«Auf das Jungfraujoch?» Fede zappelte herum. «Hat Daria nicht gesagt, sie hätten gestern dorthin reserviert?»

«Vielleicht haben sie umgebucht.»

«Das wird ja immer seltsamer.»

Interlaken

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