Читать книгу Liebe kennt keine Logik - Sima G. Sturm - Страница 5
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ОглавлениеIch schob es auf den leckeren Duft nach Glühwein und Plätzchen, der mich auf den überfüllten Weihnachtsmarkt zog. Normalerweise bevorzugte ich in meiner Freizeit die Ruhe und Entspannung, die ich zu Hause auf meiner Couch bei einem guten Buch fand. Wenn es mich nicht gerade in die Natur zum Wandern oder Klettern trieb, dann fühlte ich mich in meiner kleinen, aber schicken Wohnung ziemlich gut aufgehoben. Doch heute wollte ich nicht allein sein. Die Weihnachtszeit machte mich melancholisch.
Mit einem dampfenden Becher Heidelbeerglühwein in der Hand suchte ich nach einem freien Platz an einem der runden Stehtische. Ich hatte mein Ziel noch nicht erreicht, als mich ein Rempler in den Rücken aus dem Tritt brachte. Die heiße Flüssigkeit ergoss sich über meine Hand. Ich stieß einen erschrockenen Schrei aus. Fast hätte ich die Tasse fallenlassen. Meine Haut brannte unangenehm.
»Herrgott noch mal«, fluchte ich. Wütend knallte ich die nur noch halbgefüllte Tasse auf den nächstbesten Tisch und rieb mir übers Handgelenk.
Ich fuhr herum und blickte geradewegs in zwei braune Augen. Das hübsche Gesicht dazu, umrahmt von langem blonden Haar. Das darf doch wohl nicht wahr sein.
»Sie schon wieder«, wetterte die blonde Schönheit postwendend los. Sie warf mir einen bitterbösen Blick zu.
Irritiert starrte ich die Frau einen Moment lang sprachlos an. Hätte ich denn nicht eher das Recht dazu gehabt, so genervt zu sein? Es schien Kirsten Kramer im Blut zu liegen, die Schuld immer erst mal bei anderen zu suchen. Oder lag es daran, weil sie speziell ein Problem mit mir hatte?
»Ihretwegen hab ich mir meine Hand verbrannt und mir außerdem meine Jacke versaut«, polterte ich zurück, nachdem ich mich vom ersten Schock erholt hatte. »Das ist Heidelbeerglühwein. Wissen Sie, wie schwer es ist, das Zeug wieder rauszuwaschen?«
Kirsten Kramer zog ein verächtliches Gesicht. »Wollen Sie jetzt vielleicht noch eine Anzeige gegen mich wegen Körperverletzung und Sachbeschädigung erstatten?« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und taxierte mich mit einem Blick, der einem Hagelschauer im November glich.
Ich kam bei der Blondine einfach nicht mit. Wieso hatte ich bei ihr jedes Mal das Gefühl, etwas falschgemacht zu haben? Und warum zum Teufel konnte ich einfach nicht richtig wütend auf sie sein? Bei ihrem Anblick flatterte mein Herz. Stromstöße jagten durch meinen Körper, als hätte man mir einen falsch eingestellten Defibrillator implantiert. Wie schon vorgestern im Büro setzte sie mich regelrecht schachmatt.
Ich schüttelte mich innerlich, um wieder zu mir zu kommen. »Wie wär’s denn mit einer Entschuldigung?«, fragte ich schließlich. Wahrscheinlich hörte ich mich eine Spur zu hoffnungsvoll an. Aber ehrlich gesagt, ich wollte mich nicht länger mit ihr streiten.
Sie legte den Kopf leicht schräg, und ich rechnete schon mit dem nächsten Vulkanausbruch. Doch zu meiner Überraschung kam keine Lava auf mich zugewalzt. Abgesehen davon, dass die glühend heiße Masse bereits in meinem Bauch tobte.
»Entschuldigung«, sagte sie doch tatsächlich und anscheinend milder gestimmt.
Mir blieb der Mund offenstehen, schon wieder. War das ein Trick von ihr oder eine neue Taktik? Und dann senkte sie auch noch auf laszive Weise die Augenlider, sodass mir ganz schummrig wurde. Ich bekam Schnappatmung, und sie hatte es bemerkt, denn ihre Mundwinkel zuckten verräterisch.
»Ich würde Ihnen ja anbieten, dass Sie mir Ihre Jacke zum Waschen mitgeben, wenn es nicht so kalt wäre. Ich habe schon ganz andere Flecken herausbekommen. Wenn man ein Kind hat . . .«
Reflexartig hob ich meine Hand, um ihren Redefluss zu stoppen. »Ja, ich weiß. Ich als kinderloses Ungeheuer kann das natürlich nicht wissen.« Ich quälte mich zu einem Lächeln.
Das Lächeln, mit dem sie meines erwiderte, war nicht so leidend, eher amüsiert. »Tut mir leid. Es war nicht böse gemeint«, sagte sie. Es war, als hätte man sie von einer zur anderen Sekunde ausgetauscht. Nur die äußere Hülle war noch dieselbe.
»Schon gut.« Ich winkte ab und schaute auf meinen Glühweinbecher, der herrenlos auf dem Tisch stand. Sein stark reduzierter Inhalt hatte aufgehört zu dampfen. Auf kalten Glühwein hatte ich nun wirklich keine Lust. Aber vielleicht würde ja Kirsten Kramer . . .?
Als wüsste sie, was ich dachte, meinte sie: »Den Glühwein bezahle ich Ihnen natürlich.«
Nun ja, ein bisschen anders hatte ich mir das schon vorgestellt. Die Stimme in meinem Kopf drängelte mich, etwas mehr in die Offensive zu gehen. Vorsorglich legte ich mir die Worte erst mal gedanklich zurecht, um mich nicht mit irgendwelchem Gestammel vollkommen zum Affen zu machen. Doch offenbar brauchte ich dafür zu lange, da meine attraktive Gegenspielerin schon ihr Portemonnaie geöffnet hatte und mir einen Fünfeuroschein vor die Nase hielt. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass sich alles noch einmal wiederholte wie ein Déjà-vu.
Automatisch schüttelte ich den Kopf. Nun mach schon. Frag sie endlich, ob sie mit dir einen Glühwein trinkt. So schwer kann das doch nicht sein.
Sie zuckte die Schultern. »Stimmt. Sie können das auch auf die Rechnung für die Reinigung der Jacke setzen. Meine Adresse haben Sie ja.« Ihre Augenbrauen hoben sich vielsagend. »Scheint einfach nicht mein Jahr zu sein. Es hat bescheiden angefangen, und genauso scheint es wohl zu enden.« Sie stieß einen leisen Seufzer aus und machte ein betrübtes Gesicht.
Ich fühlte mich wie gelähmt. Warum sagte ich denn nichts? Da, schon streckte sie mir die Hand entgegen, um sich bei mir zu verabschieden. Ich nahm ihre zarte Hand in meine und hielt sie fest. Der intensive Blick aus ihren großen Augen hielt mich gefangen.
»Auf Wiedersehen«, hauchte sie.
Definitiv war diese Verabschiedung anders als vor zwei Tagen. Aber verdammt noch mal, ich wollte nicht, dass sie schon ging.
Langsam, beinahe zögernd, entzog sie mir ihre Hand. Unschlüssig blieb sie noch ein paar Sekunden vor mir stehen, als wartete sie noch auf ein Wort von mir, das mir einfach nicht über die Lippen kommen wollte. Innerlich ohrfeigte ich mich, immer und immer wieder. Was war denn nur los mit mir?
Gleich war die Chance vertan. Schon drehte sie sich um, und gleich würde sie in der Menge verschwunden sein.
»Würden Sie mit mir . . .«, angespannt blickte ich ihr hinterher, »etwas trinken gehen?« Mir kam es so vor, als hätte ich förmlich gebrüllt, sodass es wirklich jeder auf dem gesamten Marktplatz hätte hören müssen. Tatsächlich war es aber wohl nur ein heiseres Krächzen gewesen, denn Kirsten Kramer reagierte überhaupt nicht. Sie schien mich gar nicht gehört zu haben. Auch von den umstehenden Leuten, die mir nun auch noch zunehmend die Sicht versperrten, nahm keiner Notiz von mir.
»Na super«, schmollte ich ein wenig. Das lief ja wie geschmiert.
Ich versuchte, mir meine Ironie zu bewahren, zog die Augenbrauen zusammen und warf der Glühweintasse einen vernichtenden Blick zu, als wäre sie dafür verantwortlich, dass ich mich aufführte wie ein Trottel. Dabei hatte ich es doch ihr zu verdanken, dass ich unverhofft ein weiteres Mal auf die attraktive Frau Kramer gestoßen war. Oder besser gesagt, sie auf mich.
Ich fing an zu grinsen und bahnte mir einen Weg durch die Menschentraube.
Ich fand sie wieder, die blonde Schönheit, als sie gerade an einem Verkaufsstand für Mützen, Schals und Handschuhe verharrte. Mit ziemlicher Sicherheit hätte ich sie auch gefunden, wenn sie an Silvester auf dem New Yorker Times Square gestanden hätte. Es war in etwa so, als würde ein Heiligenschein über ihr leuchten, obwohl Kirsten Kramer ganz gewiss keine Heilige war. Weiß der Himmel, warum ich das dachte. Ich zuckte die Schultern und entschuldigte mich im Stillen für meine Gedanken. Ich stand nun mal auf solche Frauen. Ich mochte es ein bisschen kompliziert. Das war womöglich auch der Grund, warum ich mit fast vierzig Jahren immer noch mein Dasein als Single fristete.
»Ich glaube, Rot würde Ihnen gut stehen«, flüsterte ich dicht hinter ihr.
Ihre Hand, die gerade nach einer schwarzen Mütze gegriffen hatte, zuckte zurück. »Ach, meinen Sie wirklich?«, fragte sie kühl. Sie schaute mich dabei nicht an. Stattdessen griff sie erneut nach der schwarzen Baskenmütze, setzte sie sich auf und begutachtete sich in dem Spiegel, der für diese Zwecke am Rahmen des Verkaufsstandes angebracht war.
Unsere Blicke begegneten sich. Das Feuer in ihren Augen schien jeden Moment das Spiegelglas zu sprengen. Ich schluckte, doch der Kloß in meinem Hals wurde immer größer.
»Also, Schwarz steht Ihnen natürlich auch«, brachte ich mühsam hervor. Ich verpasste mir einen imaginären Klaps auf den Hinterkopf. Plumper ging es wohl kaum.
Langsam drehte sie sich zu mir um. Über ihre Lippen huschte ein spöttisches Lächeln. »Keine Sorge, ich hatte nicht vor zu stehlen«, raunte sie mit einem leicht bissigen Unterton.
»Äh . . . das . . . habe ich auch gar nicht angenommen«, stammelte ich verwirrt. Mit Volldampf schoss mir die Hitze in den Kopf.
»Ach? Und warum verfolgen Sie mich dann?« Sie zog die Augenbrauen in die Höhe.
Je strenger und mürrischer ihr Blick auf mich herniederprasselte, umso verrückter machte mich das. Ich ignorierte das Gefühl, dass ich mich gerade mindestens zehn Zentimeter kleiner fühlte. »Also ich . . . ähm . . . verfolge Sie nicht, zumindest nicht aus diesem Grund«, versuchte ich, witzig zu sein. Anscheinend nicht sehr erfolgreich, denn ihre Miene wurde eher düsterer, falls sie sich überhaupt verändert hatte. »Sie hatten mir meine Frage noch nicht beantwortet . . . Deshalb«, fügte ich entschuldigend hinzu.
»Die da wäre?« Kirsten Kramer machte keinerlei Anstalten, mir ein wenig entgegenzukommen. Warum sollte sie auch? Vielleicht irrte ich mich ja, und ich hatte etwas gesehen und gespürt, das womöglich auf Einseitigkeit beruhte. Es wäre ja nicht das erste Mal, dass mir das passierte.
»Darf ich Sie auf einen Drink einladen?« Ich merkte selbst, dass ich mich reichlich mutlos anhörte. Ja, ich erwartete den Korb, der mir gleich mit voller Wucht gegen den Kopf knallen würde, regelrecht.
Sie kräuselte die Lippen, bevor sie sich verführerisch ein Stück weit öffneten. Ich starrte auf ihren wunderschönen Mund und fürchtete mich schon vor den Worten, die als Nächstes aus ihm sprudeln würden.
Und die ließen auch nicht lange auf sich warten. »Sie haben meine Tochter, ein zwölfjähriges Mädchen, wegen eines blöden Weckers an die Polizei ausgeliefert. Und jetzt wollen Sie, dass ich mit Ihnen etwas trinken gehe?« Zum Ende hin kletterte ihre Stimme ein Stück weit höher.
Ich nickte voller Überzeugung. »Ja, so in etwa habe ich mir das gedacht. Aber ich habe Lotta nicht an die Polizei ausgeliefert.« Es war mir wichtig, das klarzustellen. »Sehen Sie es doch mal so. Ihre Tochter wurde wegen eines kleineren Deliktes erwischt. Das kann auch eine heilsame Erfahrung sein, um zukünftig nicht wieder vom rechten Weg abzukommen.«
Fast erwartete ich, dass Kirsten Kramer entrüstet aufschreien würde. Doch sie blieb ganz still. Gut möglich, dass ihr gerade bewusst wurde, dass ich mit dieser Einschätzung gar nicht so falsch lag. Schließlich war ihre Tochter auch kein Kleinkind mehr, das nicht in der Lage war, Recht von Unrecht zu unterscheiden.
Innerlich rollte ich mit den Augen, weil ich mich natürlich nicht als Moralapostel aufspielen wollte. Ich wollte eigentlich überhaupt nicht mehr über den Vorfall sprechen, sondern die bezaubernde Dame vor mir einfach nur auf einen Drink einladen. Leider schwand mein Optimismus zusehends. Möglicherweise war ich Kirsten Kramer zur falschen Zeit am falschen Ort begegnet. Resignation machte sich allmählich in mir breit.
»Okay. Einverstanden«, sagte sie vollkommen unerwartet. In ihre Mundwinkel schob sich ein verstecktes Lächeln, das offenbar nur ich erkannte, weil es auch nur für mich bestimmt war.
Ich konnte es kaum fassen. Hatte sie jetzt wirklich zugesagt? Einfach so? Mein Herz machte Luftsprünge. »Oh, wie schön«, hauchte ich, auf der Suche nach meiner Stimme, die sich irgendwohin verflüchtigt hatte. Später würde ich mit mir mal ein ernstes Wörtchen reden müssen. Von meiner hochgelobten Coolness war nichts mehr vorhanden. Ich tastete mich nur noch vorsichtig wie ein scheues Reh voran.
»Haben Sie . . .«, Gott, diese Förmlichkeit hörte sich gerade schrecklich steif an, »einen bestimmten Wunsch?«
»Kommt darauf an, was Sie damit meinen.« Kirsten Kramer legte den Kopf in den Nacken und lachte lasziv.
Das trug natürlich keinesfalls dazu bei, dass ich meine Lockerheit alsbald wiederfinden sollte. Ich lächelte verschmitzt, wenigstens das klappte noch. »Ich meine den Drink und wo wir uns den genehmigen wollen.« Noch ein kokettes Augenzwinkern von mir, das sie mit einem breiten Schmunzeln zur Kenntnis nahm, und langsam fand ich zu alter Stärke zurück. Ich reichte ihr ein zweites Mal die Hand. »Ich bin Fanny.«
»Freut mich, Fanny.« Ihre Mundwinkel zuckten leicht, während sie mir diesmal noch einen Tick länger Zeit gab, ihre Hand in meiner zu spüren.
Mich erfasste ein Wahnsinnsgefühl, das mit einem angenehmen Kribbeln in den Fingerkuppen begann und sich dann schleichend über meinen Arm bis hinauf in die Haarwurzeln ausbreitete. Jetzt noch ein Kuss und dann sterben. Ich runzelte erschrocken die Stirn. Was bloß stimmte mit mir nicht?
»Kirsten.« Sie lachte entzückend.
Oder lachte sie mich aus? Ich kam nicht dazu, mir länger darüber Gedanken zu machen. Denn sie hakte sich überraschend bei mir unter, als wären wir beste Freundinnen oder auch ein bisschen mehr.
»Selbst auf einem überfüllten Weihnachtsmarkt gibt es noch lausche Plätzchen«, raunte sie mir zu.
Zugegeben, ich fühlte mich ein klein wenig überrumpelt, was ich aber auf meine Nervosität schob, die sich einfach nicht richtig legen wollte.
Als Kirsten losgehen wollte, fiel mein Blick auf ihren Kopf. »Ähm . . .« Mit dem Zeigefinger deutete ich nach oben. »Die Mütze . . .«
Kirsten blickte mich verwirrt an. Dann fasste sie sich an den Kopf. »Oh«, murmelte sie, während eine feine Röte ihr Gesicht überzog. »Beinahe hätte ich ja doch eine Straftat begangen.« Während sie sich die Mütze herunterzog, kicherte sie verlegen.
Ich blieb bei meiner ursprünglich gefassten Meinung, dass auch dieser Zug an ihr mir verdammt gut gefiel.
Die Baskenmütze landete wieder bei den anderen Mützen auf dem Verkaufstresen. Die Verkäuferin schaute Kirsten erwartungsvoll an.
Doch Kirsten zuckte bedauernd die Schultern. Dann schenkte sie der Frau hinter dem Tresen ein freundliches Lächeln. »Vielleicht komme ich später noch mal zurück, aber dann probiere ich eine rote Mütze. Glauben Sie auch, dass mir Rot gut steht?«
Ich konnte sehen, wie sie dabei schmunzelte und mir einen amüsierten Seitenblick zuwarf. Fast hätte ich darüber den Kopf geschüttelt. So was Freches aber auch.
Die Verkäuferin begann ebenfalls zu lächeln. »Ich würde sagen, Ihnen steht nicht nur eine Farbe. Aber definitiv gehört Rot dazu, wie Ihre Begleiterin schon treffend bemerkt hat.«
So, das war nun wirklich zu viel für mich. Augenblicklich überkam mich nämlich das heiße Gefühl, dass meine Wangen den Wettstreit um das intensivere Rot eindeutig gewonnen hatten. Ich fragte mich, wie viel die Frau von unserem Gespräch mitbekommen hatte.
Die beiden Damen glucksten vergnügt und schienen sich diebisch zu amüsieren. Was war das hier? Eine kleine Verschwörung gegen mich?
Zwei gegen eine, das ist unfair, knurrte ich lautlos in mich hinein. Ich zog warnend die Augenbrauen zusammen, doch gegen die Heiterkeit der beiden war ich machtlos. Also tat ich das, was mir am besten schien, und stimmte in ihr Lachen ein.
Dann nickte ich der Verkäuferin zu und zog Kirsten ein Stück vom Stand weg. »Ich glaube, sie hat uns die ganze Zeit belauscht«, raunte ich, während ich die ältere Frau hinter dem Tresen im Blick behielt.
»Könnte schon sein.« Kirsten lächelte. »Aber ich denke mal, wenn man den ganzen Tag hier auf dem Weihnachtsmarkt zubringt, erlebt man ganz andere Dramen.«
»Dramen?« Ich zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Unsere Unterhaltung würde ich ja nun nicht gerade als Drama bezeichnen.«
»Nein.« Kirsten machte eine kunstvolle Pause. »Aber es hätte eins werden können.«
Mir musste das Gesicht förmlich eingeschlafen sein, so herzlich, wie sie lachte. Erneut hakte sie sich bei mir unter und führte mich zielstrebig an den hübsch geschmückten Weihnachtsständen, die sich wie an einer Perlenkette aneinanderreihten, vorbei.
Wir verließen den Marktplatz, durchquerten eine Einkaufspassage und gelangten schließlich auf einen kleinen Hinterhof. Hier gab es nur zwei Stände. Einen mit Büchern aller Art, der offenbar zu dem Laden gehörte und der über die Hofseite zu erreichen war, und am zweiten Stand wurden Glühwein und Plätzchen nach Omas Rezept verkauft.
Es war inzwischen später Nachmittag, und die Dunkelheit brach allmählich herein. Eine bunte Lichterkette tauchte den Innenhof in ein warmes Licht. Nur wenige Leute hatten sich hierher verirrt, aber das war kein Wunder, so versteckt, wie dieser Platz auf mich wirkte. Wie ein kleiner Geheimtipp, dachte ich.
»Hier war ich noch nie«, murmelte ich.
Kirsten quittierte es, indem sie mich auf eine liebreizende Art anlächelte, dass ich glatt weiche Knie bekam.
Ich atmete tief die kalte Winterluft ein, die sich mit dem aromatischen Duft der Leckereien vermischte.
»Hallo Kirsten«, wurde meine wunderschöne Begleiterin von der Frau, die den Bücherstand betreute, begrüßt. Sie schien ein paar Jahre jünger zu sein als ich.
Kirsten schenkte ihr ein warmherziges Lächeln. »Hallo Sandra«, grüßte sie zurück.
Ich wusste nicht, warum, aber bei den Blicken, die die beiden miteinander austauschten, kam eine leichte Eifersucht in mir auf. Mein Körper versteifte sich. Ich hasste mich, weil ich keine Erklärung dafür hatte und es auch keinen Anlass dazu gab. Sie kannten sich und waren einfach nur freundlich zueinander. Beherrsch dich gefälligst, wies ich mich zurecht.
Während ich noch mit mir haderte, steuerte Kirsten bereits mit mir im Schlepptau den zweiten Stand an.
»Grüß dich, Rosi«, wurde auch diese Frau von Kirsten sehr herzlich begrüßt.
Nun konnte ich jedoch erleichtert aufatmen, denn bei der – wenn auch augenscheinlich noch rüstigen – Rentnerin hinter dem Tresen witterte ich keine Gefahr.
»Hier gibt es zwar nur eine kleine Auswahl an Glühwein«, erklärte Kirsten mir, »aber dafür ist er besonders lecker. Und dazu kann ich die selbstgebackenen Zimtsterne oder die Spekulatiuskekse empfehlen.«
»Klein, aber fein.« Endlich gelang es mir, mal wieder zu lächeln und mich ein wenig zu entspannen, bevor ich noch einen Muskelkrampf heraufbeschwor. Meine Mundwinkel bogen sich jedenfalls schon mal in die richtige Richtung.
Mit Glühwein und einer Handvoll Keksen zogen wir uns an einen kleinen Tisch in der Ecke zurück. Natürlich hatte ich auf meine Einladung bestanden und bezahlt. Mir schien, die alte Dame war etwas überrascht gewesen. Sie hatte kein Geld gewollt, was mich wiederum verwundert hatte. Vor lauter Irritation hatte ich gleich mal einen Zwanzigeuroschein rüberwachsen lassen und das Rückgeld verweigert.
Es war ja nicht so, dass ich mit Geld um mich werfen konnte, und Kirsten machte auch nicht den Eindruck, als könnte ich sie mit Großzügigkeit für mich gewinnen. Im Gegenteil, sie hatte die Stirn bedenklich gerunzelt. Aber nur bis zu dem Moment, bis ihr aufgefallen war, dass ich sie dabei beobachtet hatte. Unmittelbar war das verschmitzte Lächeln in ihr Gesicht zurückgekehrt.
»Danke für die Einladung, aber das war wirklich nicht nötig«, sagte sie und hob ihre Tasse, um mit mir anzustoßen.
»Na und ob«, entgegnete ich. »Das ist doch selbstverständlich. Und nur weil du die beiden Verkäuferinnen kennst, bedeutet das für mich doch nicht, dass ich mich hier kostenlos bediene.«
»Im Gegensatz zu meiner Tochter. Willst du mir das damit sagen?« Kirsten warf mir einen Blick zu, der eine Eiche hätte zum Entwurzeln bringen können.
Verdammt! Wieso versteht sie das immer falsch? »Überhaupt nicht! Das eine hat doch mit dem anderen nichts zu tun«, wehrte ich ab. Meine gerade zurückgewonnene Entspanntheit war wieder dahin. Ich stieß meine Tasse leicht gegen ihre und wollte – sozusagen als Überbrückung – direkt von dem lecker duftenden Glühwein probieren.
»Vorsicht, heiß!«, raunte Kirsten mir mit einer Reibeisenstimme zu, dass sich mir die Nackenhärchen aufstellten.
Ich grinste sie an, wahrscheinlich ziemlich schiefgeraten, aber diese Frau brachte mich gehörig aus dem Takt. Die Tasse schwebte vor meinem Mund, und dann pustete ich doch tatsächlich ein paarmal hinein, um den Glühwein abzukühlen. Geht’s noch?
Kirsten begann lautlos zu lachen, während ihre Lippen vibrierten. Und damit es dabei blieb, presste sie sich die Hand vor den Mund.
Kopfschüttelnd musterte ich sie. Ich könnte ja wütend auf sie sein, weil sie sich offenkundig köstlich über mich amüsierte. Aber natürlich war ich nicht wütend. Denn Kirsten wirkte einfach nur sehr glücklich in diesem Moment. Und dieser Anblick ließ mein Herz erneut höherschlagen. »Ich glaube, jetzt hat er genau die richtige Temperatur«, scherzte ich und nahm nun endlich doch den ersten Schluck. Ich war mir ziemlich sicher, dass es in mir drin heißer brodelte. Selbst ein kochender Glühwein wäre da nicht herangekommen.
Ohne Vorwarnung schaute Kirsten mir tief und ziemlich ernst in die Augen. »Warum wolltest du mit mir etwas trinken gehen? Bislang habe ich dir doch nur Ärger gemacht.«
Ich stieß die Luft, die ich eine gefühlte Ewigkeit angehalten hatte, geräuschvoll nach draußen. Hat sie mich das allen Ernstes gefragt? Jetzt war guter Rat teuer. Sollte ich ihr das eigentlich Offensichtliche nicht einfach sagen? Und dann? Die Fragezeichen türmten sich in meinem Kopf.
»Och . . .« Ich winkte lässig ab und versuchte, ein bisschen Zeit zu gewinnen.
Meine Rettung kam unverhofft. Denn just in diesem Augenblick wurde die Tür des Bücherladens aufgerissen, und ein Mädchen stürmte heraus.
Das ist doch Lotta. Ich traute meinen Augen nicht.
»Mama«, rief sie freudestrahlend. Als die Kleine mich erblickte, blieb sie abrupt stehen. Mit ihren großen Kulleraugen starrte sie mich finster an. »Was macht die denn hier?«, plärrte sie über den Hof.
Ich vermutete zwar, dass die vorwurfsvolle Frage eher an ihre Mutter gerichtet war, doch ich spürte förmlich, dass mir die Aufmerksamkeit aller Anwesenden zuteilgeworden war. Alle schienen sie darauf zu warten, dass ich etwas sagte. Traumhaft!
Meine Hand zuckte unwillkürlich nach oben, weil ich das dringende Bedürfnis verspürte, mich aus purer Verlegenheit am Kopf zu kratzen. Ich konnte mich gerade noch so beherrschen. Aber das hier, mich vor einem kleinen Mädchen erklären zu müssen, war einfach nicht mein Ding. Ich schielte hilfesuchend zu Kirsten hinüber, doch die grinste nur, und sie machte nicht den Eindruck, als wollte sie mir bei der Bewältigung dieser schier unlösbaren Aufgabe helfen.
Was denke ich denn hier für einen Quatsch? Es ist doch nur eine kleine Göre. Hat sie eben Pech gehabt, wenn ihr meine Anwesenheit nicht passt. So oder ähnlich hätte ich mir das gern eingeredet, aber es funktionierte natürlich nicht.
»Ich hab deine Mutter zufällig auf dem Weihnachtsmarkt getroffen, und da sind wir ins Gespräch gekommen. Und gerade wollten wir zusammen was trinken. Magst du einen Kinderpunsch?«
Lotta verzog angewidert das Gesicht. »Voll ätzend, eh.«
Ja, okay, das war nicht gerade die beste Kür von mir. Ich seufzte unauffällig in mich hinein. Gewiss hätte ich für diese Darbietung keine Zehn, höchstwahrscheinlich nicht mal eine Fünf auf der Punkteskala bekommen. Aber woher sollte ich denn wissen, wie ich mit Lotta in solch einer Situation umgehen sollte? Ich hatte keine Ahnung von Kindern, außer ich erwischte sie beim Klauen.
»Nicht in diesem Ton, Lotta«, schaltete ihre Mutter sich nun doch in das Gespräch – auch wenn man es als solches nicht bezeichnen konnte – ein.
Ich wollte ihr einen dankbaren Blick zuwerfen, besann mich aber eines Besseren, weil das bei der Göre ganz sicher nicht gut angekommen wäre.
Lottas Gesichtsfarbe wechselte ins Dunkelrot. Oje, dachte ich nur noch. Fehlte noch, dass sie mit dem Fuß aufstampfte und zu zetern anfing.
Ich verlagerte mein Gewicht auf das andere Bein. Allmählich wurde es ungemütlich, was aber ausschließlich der Situation geschuldet war.
»Mama, wieso hast du sie hierhergebracht?«, wetterte die Kleine auch schon los. »Außerdem will ich nach Hause.«
»Ach, du willst nach Hause?« Kirsten warf ihrer Tochter einen strengen Blick zu, der mir außerordentlich gut gefiel. »Komisch, wo du mich doch heute Morgen noch angebettelt hast, hierbleiben zu können, bis der Weihnachtsmarkt schließt. Weil doch heute Samstag ist«, merkte sie noch mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Und wolltest du Rosi nicht eigentlich helfen?«
Meine Güte, stand ihr das gut. Ich kriegte mich gar nicht mehr ein. Mein Blick wanderte zwischen Kirsten und ihrer Tochter hin und her. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich auch noch, dass Rosi, die ältere Dame, bei der es die leckeren Plätzchen gab, sich hinter vorgehaltener Hand offenbar das Lachen verkneifen musste. Als sich unsere Blicke kurzzeitig begegneten, zwinkerte sie mir erheitert zu. Ich wagte ein Schmunzeln in ihre Richtung, aber nur ganz kurz, um mir nicht noch mehr Lottas Unmut zuzuziehen.
»Es gab nicht viel zu tun. Hier ist doch auch gar nichts los«, grummelte die Kleine. Ihre Schuhspitze bohrte sich zwischen zwei gelockerte Asphaltsteine.
Hauptsache, sie wirft damit nicht noch nach mir. Meine Gedanken waren natürlich reichlich überzogen. Aber irgendwie traute ich der kleinen Rotznase mittlerweile alles Mögliche zu. Ich dachte noch daran, ob ich vielleicht versuchen sollte zu intervenieren. Oder sollte ich besser gehen? Es sah nämlich nicht danach aus, als würde Lotta mich heute noch in ihr Herz schließen. Und ihrer reizenden Mama dürfte jetzt auch die Lust auf – ja, worauf eigentlich? – vergangen sein. Ich drehte mich immer mehr im Kreis.
Kirsten wandte sich Rosi zu, die ihr noch immer lächelnd erklärte: »Es ist wirklich nicht so wild, dass ich das nicht auch allein schaffen würde. Deshalb habe ich Lotta in den Laden geschickt, damit sie sich aufwärmen und ein bisschen lesen kann.«
Lesen? Ich war etwas verwirrt. Der kleine Bücherladen war doch keine Bibliothek, wenn ich mich nicht irrte. Gehörte er zu Rosi? Und wer war die Frau eigentlich? Eine Verwandte der beiden Kramers?
Meine Irritation schien mir auf der Stirn zu stehen, weil Kirsten mir ungefragt antwortete. »Es ist mehr ein Lesecafé, aber man kann hier auch Bücher kaufen, spenden oder tauschen, wenn man das möchte.«
»Ah, ich verstehe.« Ich nickte dazu. »Und was machen wir jetzt?« Ich warf einen Blick in die Glühweintasse, als wäre es eine Glaskugel, die mir die Apokalypse prophezeite. »Vielleicht sollte ich mich verabschieden«, murmelte ich. Eigentlich war es leise genug, aber offenbar laut genug für Lottas Ohren.
»Gute Idee«, zischte sie nämlich zu mir herüber.
»Lotta, das reicht!« Kirsten schien nun endgültig der Kragen zu platzen. »Geh zurück in den Laden. Darüber sprechen wir nachher noch.« Eine kleine Zornesfalte bildete sich über ihrer Nasenwurzel.
Ich merkte, dass ich hier nicht ganz im Bilde war. Glaubte ich bislang, dass Lotta ein Problem ausschließlich mit mir hatte, weil ich sie beim Diebstahl erwischt hatte, so kamen mir allmählich Zweifel.
Und dann platzte es aus dem Kindermund heraus, dass mir vor Schreck die Kinnlade nach unten klappte: »Sie wird dir wehtun, Mama, genau wie Jacky. Und ich kann sie nicht ausstehen!« Bevor noch irgendwer darauf hätte etwas erwidern können, machte Lotta auf dem Absatz kehrt und stapfte wutentbrannt ins Lesecafé zurück.
Wow. Vom Temperament her schienen die beiden sich in nichts nachzustehen. Ich wusste nicht, ob es Entsetzen oder Verblüffung war, dass ich sekundenlang auf die Stelle starrte, auf der eben noch Lotta gestanden hatte.
»Es tut mir leid«, flüsterte Kirsten.
Ich klappte meinen Mund wieder zu und schaute sie an. Ihre Arme hingen schlaff an ihr herunter, und sie wirkte unfassbar betrübt, dass ich sie am liebsten getröstet hätte. Aber ich fühlte mich einfach nur hilflos. Und das Einzige, was mir wie ein Orkan durch den Kopf schoss, war: Kindermund tut Wahrheit kund.
Sie strich mir kurz über die Hand, die immer noch die Tasse umklammert hielt. Ich erschauerte. Dann nickte sie mir mit einem bedauernden Lächeln zu und verließ mich. Einfach so!
Wie ein Depp stand ich da, zumindest fühlte ich mich wie einer. Ich konnte den Blick nicht von meiner Hand lösen, weil ich noch immer Kirstens zarte Berührung darauf spürte. Es kostete mich einiges an Überwindung, überhaupt erst mal die Tasse abzustellen, bevor der Glühwein noch ein weiteres Mal aus seinem Behältnis schwappte. Es reichte ja schon, dass er erneut kalt geworden war. Aber mir war der Appetit sowieso vergangen.
Zögernd hob ich den Kopf. Die Frau am Bücherstand – Sandra hieß sie, wenn ich mich recht erinnerte – tat sehr geschäftig und stapelte die Bücher von einer Seite zur anderen. Ein System konnte ich da nicht erkennen, vermutlich weil es keins gab. Es glich eher einer Beschäftigungstherapie.
Als eine potentielle Kundin vor ihrem Stand stehenblieb, strahlte Sandra übers ganze Gesicht. Nicht, weil sie die Frau kannte, nein, davon ging ich nicht aus. Sie schien einfach nur froh zu sein, dass ihr eine Alternative geboten wurde, um sich abzulenken. Und dabei war ich doch diejenige, die hier in eine unangenehme Situation geschlittert war.
Ich beobachtete sie ein Weilchen, während ich krampfhaft darüber nachdachte, was ich jetzt tun sollte. Doch urplötzlich schaute sie an der Kundin, die sich gerade in ein Buch vertieft hatte, vorbei, und unsere Blicke trafen sich. Ich konnte ihren nicht richtig deuten, weil die bunte Dekobeleuchtung seltsam anmutende Schatten auf ihr Gesicht warf. Doch eines konnte ich dann doch erkennen, nämlich dass ihr Blick, mit dem sie mich bedachte, nicht gerade freundlich war. Vielmehr musterte sie mich argwöhnisch. Was hatte ich denn nur verbrochen? Ich fühlte mich zunehmend unwohl in meiner Haut.
Rosi vom anderen Stand schien wenigstens ein aufmunterndes Lächeln für mich übrig zu haben.
Ich sammelte die beiden noch halb gefüllten Glühweintassen ein und ging zu ihr hinüber. »Es liegt definitiv nicht am Geschmack, dass ich . . . ähm, wir nicht ausgetrunken haben«, entschuldigte ich mich etwas verlegen.
»Ich weiß.« Rosi lachte leicht und räumte die Tassen vom Tresen. »Es ist nicht Ihre Schuld«, sagte sie. »Aber Lotta hängt sehr an ihrer Mutter. Es ist für beide nicht leicht, nach allem . . .« Abrupt verstummte sie.
Sicherlich hatte sie nicht vorgehabt, dieses Thema überhaupt anzusprechen. Ich war schließlich nur eine Fremde, die mal kurzzeitig auf der Bildfläche erschienen war, aber den Ansprüchen eines Beinahe-Teenagers ganz offensichtlich nicht gerecht wurde.
»Unsere erste Begegnung war einfach nicht die beste.« Ich suchte für mich selbst nach der einzig logischen Erklärung, obgleich ich doch ahnte, dass dies womöglich nicht der Hauptgrund war.
»Sie sind die Detektivin vom Arabella, nicht wahr?« Es wirkte fast so, als ob Rosi mich nun mit noch mehr Interesse unter die Lupe nahm.
»Stimmt«, erwiderte ich überrascht.
»Ja«, Rosi nickte bedächtig. »Ich hab von der Sache mit dem Wecker gehört.« Ihre faltigen Mundwinkel zuckten amüsiert.
Ich blickte sie verständnislos an. Was war denn daran so lustig?
Sie schien es bemerkt zu haben. Entschuldigend hob sie die Hand. »Dass Lotta gestohlen hat, ist natürlich nicht in Ordnung. Nicht, dass Sie mich falsch verstehen.«
Das Aber? lag mir schon auf den Lippen, doch ich sprach es nicht aus. Mein Blick schwenkte wehmütig zu der kleinen Eingangstür des Bücherladens, hinter der zuerst Lotta und kurz darauf auch Kirsten verschwunden waren. »Ist das Ihr Geschäft?«, fragte ich.
Rosi schüttelte den Kopf. »Nein, nicht mehr. Ich helfe hier nur immer mal wieder aus, wenn Not an der Frau ist.« Sie schmunzelte.
Ich wartete darauf, dass sie weitersprach, aber sie tat es nicht. Doch nun war meine Neugier geweckt. Wenn Kirsten mich hier ohne Erklärung schon stehengelassen hatte, dann musste ich eben ganz nach Detektivmanier selbst nachfragen. »Dann gehört also Sandra der Laden?«
Ich nickte in deren Richtung, wodurch mir auffiel, dass Sandra sich mit der Kundin zwar über ein bestimmtes Buch unterhielt, sie mich aber weiter mit Argusaugen regelrecht verfolgte. Ein mulmiges Gefühl machte sich in mir breit. Es war allzu offensichtlich, dass die Frau mir nicht über den Weg traute.
»Sandra?« Rosi wischte mit dem Lappen beherzt über die Theke. Ihr Mund verzog sich dabei zu einem schmalen Strich. »Na ja, sie . . .«, setzte sie gerade an, als ein älteres Paar neben mir auftauchte. »Guten Abend«, begrüßte sie die beiden freundlich. »Glühwein, Gebäck oder beides? Was kann ich für Sie tun?«
Ich rückte ein Stück zur Seite, um Platz zu machen. Verstohlen blickte ich zu Sandra, weil ich mir nicht sicher war, ob sie etwas mitbekommen hatte. Die schenkte der Kundin, die tatsächlich ein Buch gekauft zu haben schien, zum Abschied ein Lächeln. Doch das Lächeln wirkte auf mich wie eingefroren. Und als spürte sie meinen Blick, ruckte ihr Kopf nach links. Ihre Augen feuerten Blitze ab, die eindeutig mir galten. Der feindselige Ausdruck verursachte bei mir eine Gänsehaut, die wie Eisregen über meinen Rücken wanderte.
Mit einem Schlag erlosch der Ausdruck, und das aufgesetzte Lächeln kehrte zurück. Und dann verstand ich auch warum. Rosi hatte das Pärchen inzwischen bedient und schaute nun ihrerseits zu Sandra hinüber. Womöglich täuschte ich mich, aber es schien, als sendete sie ihr gerade eine eindringliche, wenn auch stumme Warnung. Schließlich zuckte Sandra lässig die Schultern, ehe sie sich wieder mit scheinbarem Interesse den Büchern widmete.
Mir kam das alles höchst merkwürdig vor. Selten hatte ich mich so verunsichert und fehl am Platz gefühlt. Ich musste hier weg. Das hatte doch alles keinen Sinn. Ich murmelte Rosi ein schwaches »Auf Wiedersehen« zu und drehte mich zum Hofausgang. Wie ein gehetztes Fluchttier steuerte ich darauf zu.
»So warten Sie doch«, rief Rosi mir hinterher.
Zwar blieb ich stehen und drehte mich noch einmal zu ihr um. Doch ich schüttelte nur entmutigt den Kopf. Ich wollte nur noch nach Hause. Hoffentlich träumte ich heute Nacht nicht von Glühwein oder kratzbürstigen Kindern.
Ich hatte von nichts dergleichen geträumt. Dafür aber von einer bildschönen Frau mit dunkelblondem Haar und braunen Augen, die Kirsten wie ein eineiiger Zwilling glich.
Ich schloss wieder die Augen und wälzte mich in meinem Bett umher, als könnte ich so den Traum zurückholen. Mein Unterleib zuckte und schob sich verlangend der imaginären Berührung entgegen. Nach ein paar vergeblichen Versuchen sackte ich enttäuscht zusammen, weil mir klar wurde, dass ich auf diese Weise keine Erlösung finden würde. Außer ich legte selbst Hand an, doch ich wischte den Gedanken wütend beiseite. Das fehlte noch.
Vor mich hingrummelnd schwang ich die Beine aus dem Bett und stand auf.
Unter der Dusche kühlte mein Körper allmählich wieder auf Normaltemperatur ab. Mein Geist wandelte jedoch weiterhin irgendwo außerhalb meines Einflussbereiches herum. Und immer wieder schoben sich Bilder von Kirsten in meinen Kopf, derart hartnäckig, dass ich unvermittelt laut aufstöhnte. Ich lehnte die Stirn gegen die Kabinenwand. Mit den Fingerkuppen fuhr ich über die glatte Kunststoffoberfläche und folgte der Wasserspur.
Lottas Worte kamen mir wieder in den Sinn. Da hatte es also eine Jacky in Kirstens Leben gegeben, die ihr allem Anschein nach nicht gutgetan hatte. Aber wieso dachte die Kleine, dass ich ihrer Mutter genauso wehtun würde? War das einfach nur aus kindlicher Überzeugung heraus gesagt, weil sie mich nicht mochte und mich schnellstens wieder loswerden wollte? Aber dann auch dieses seltsam ablehnende Verhalten von Sandra, der Buchverkäuferin.
Wäre ich gestern nicht einfach abgehauen, dann hätte ich vielleicht mehr darüber erfahren, schimpfte ich mich aus. Stattdessen war ich genauso schlau wie vorher. Mittlerweile war ich aber schon mal so weit, dass ich Kirsten als Inhaberin des kleinen Lesecafés vermutete. Und bei Sandra könnte es sich um eine Angestellte handeln. Doch wenn das alles war, wieso war sie mir gegenüber dann so feindselig gestimmt, als hätte ich mich in ihr Leben gedrängelt?
Und Rosi? Auch über sie wusste ich rein gar nichts, während sie über mich erstaunlich gut Bescheid wusste. Doch sie war mir sehr sympathisch.
Irgendetwas verband sie alle miteinander. Aber heute hatte ich keine Kraft, mir weiter den Kopf darüber zu zerbrechen. Eigentlich wollte ich nur eins, nämlich Kirsten wiederzusehen, um wenigstens in die entfernte Nähe meines Traums von letzter Nacht vorzudringen. Ich konnte sie nicht einfach vergessen, auch wenn die Erfolgsaussichten aktuell ziemlich gering waren, was wiederum eine niederschmetternde Wirkung auf mich ausübte.