Читать книгу Ein Offizierssohn wird (k)ein Bandit! - Simkin Nett - Страница 5
Ein Spiel mit dem Feuer
Оглавление„Es ging einfach ums Überleben! Und wir waren hungrig! Und so leckte man die Wunden derer, die um einen herum waren. Wie viele Menschen gestorben waren, weiß ich nicht. Ich lag da und hörte nichts. Ich hatte eine Gehirnerschütterung, darum hörte ich nichts mehr. Den Erzählungen der Menschen zufolge, die mich ausgegraben hatten, hatte man die ganze Zeit versucht, die brennenden Wagen abzukoppeln und sie hin und her zu bringen. Ein furchtbar schwieriger Job in einem so kleinen Bahnhof!
Doch die Leute waren sehr organisiert! Mehr noch, wenn ich das noch nicht gesagt habe, sage ich es jetzt: alle Menschen, die ich gesehen habe, die auf dem Weg von der Grenze nach Kiew herum waren haben sich heldenhaft verhalten! Das fühlte ich schon damals als Kind! Diese Frauen... Mama war die Hauptfrau dort, das war die Pflicht der Frau des Kommandeurs! Meine Mutter war sehr energisch, tapfer, wirklich eine Superfrau! Aber was konnte sie tun?
Sie war mit anderen Frauen beschäftigt, als sie merkte, dass ich nicht da war! Als ihr das klar wurde, warf sie natürlich ihre ganze Arbeit beiseite und trommelte die Leute zusammen, um bei der Suche nach mir zu helfen. Zuerst rannten sie dahin, wo die Bomben explodiert waren. Als man mich fand, war ich fast ohnmächtig; ich wusste nicht, was passiert war, hatte keine Explosion bemerkt. Ich hörte auch nichts von dem, was mir gesagt wurde - was mir natürlich sehr peinlich war! Ich stand eben ein wenig unter Schock.
Ich erinnere mich aber noch daran, dass wir uns Kiew näherten, dem Kiewer Bahnhofsviertel. Aber ich kann nicht verstehen, was ist. Ich sehe und begreife es nicht. Es sieht aus, als ob der Platz vor dem Bahnhof eingestürzt sei. Angeblich wurde die Station bombardiert, der Platz gesprengt - aber das kann ich eigentlich nicht gesehen haben! Diese Erscheinung hing lose in meinem Kopf, konnte sich nicht absetzen, sich nicht verankern. Dennoch glaube ich, mich an einen solchen Eindruck erinnern zu können.
Woran ich mich aber sicher erinnere ist, dass wir dann mit - ich will nicht lügen - zwischen 4 und 6 Wagen - meiner Erinnerung nach - und einer Dampflokomotive in Kiew ankamen. Von den Personenwagen mit Kreuzen auf den Dächern: davon hatte es noch 18-20 gegeben. Als wir in Lemberg dann aus den durchgeschossen Güterwaggons in diesen `richtigen´, mit normalen Betten usw. ausgestatteten Passagierzug umstiegen, waren wir glücklich gewesen. Ja, glücklich! Wir glaubten, dass uns jetzt niemand mehr anrühren würde: Das Rote Kreuz, das Internationale Rote Kreuz! Ich stellte mir vor, dass sofort die ganze Welt gegen Deutschland in den Krieg ziehen würde, wenn dieses Gesetz gebrochen würde! Ich hatte solche Phantasien als zehnjähriger Junge. Sancta simplicitas, heilige Einfalt!
Nun, für uns endete alles gut: wir kamen in Kiew an! Sehr schnell fand meine Mutter ihre Brüder, und nach ein paar Tagen war ich wieder gesund. Meine Mama griff in einen Koffer und holte einen Beutel mit den Adressen zweier Brüder heraus. Einer von ihnen war ein unglaublich netter Mensch, ein körperlich sehr starker Mann. Sein ganzes Leben lang hatte er in der Kolchose gearbeitet, eine sehr geachtete Person, die bereits vor dem Krieg Auszeichnungen erhalten hatte. Der andere war Buchhalter irgendwo, klein, gebrechlich, aber sehr gescheit. Er hatte eine einzigartige Fähigkeit. Ich erinnere mich, dass er sich - so viel er auch überprüft wurde, nie irrte. Er multiplizierte sechsstellige Zahlen im Kopf. So ein Mann war er!
Der Bruder, der Kolchosbauer war, erzählte von einem Erlass des Ministerrates der Ukraine - vor anderthalb oder zwei Jahren hatte man eine Herde von Zuchtkühen in den Niederlanden gegen Gold gekauft. Nun, es sollte eine Verordnung geben, ein Dekret, ein Erlass, ich weiß nicht was, darüber, was mit all dem Vieh geschehen ...“
Peter: „Schon wenige Tage nach Kriegsbeginn dachte man an Evakuierung?“
„Ja! Man musste über die Evakuierung nachdenken, weil Kiew ununterbrochen bombardiert wurde! Meine erste Kriegsbeteiligung waren diese Brandbomben! Nein, das war ja schon meine zweite militärische Erfahrung, weil ich ja schon vorher „genug gesehen“ hatte: Der Krieg hatte bei uns am 22. Juni nicht um 4 Uhr (wie allgemein berichtet), sondern schon um 2 Uhr mit dem Artilleriebeschuss begonnen. In diesem Moment war ich zum Militärexperten geworden!
Meine Mutter hatte sechs Brüder, mein Vater sechs Schwestern (als ob man es so geplant hätte!) Einer der Brüder meiner Mutter schaffte es irgendwie in jenen Zeiten, als man - noch vor der Revolution - nach Amerika zog, auch dorthin zu gehen. Er verschwand auf diese Weise. Wir wussten nichts von ihm. Einer war in einer revolutionären Bewegung engagiert: entweder die Denikin-Soldaten18, oder die Kosaken erschossen ihn vor den Augen seiner Eltern. Eine solche entsetzliche Erschütterung konnten Sie nicht überleben; meine Großmutter und mein Großvater starben in kürzester Zeit. Ein anderer Bruder wohnte in Cherson19 und wurde dort von Banditen getötet.
Also blieben die beiden Brüder, von denen ich schon gesprochen hatte. Und jeder von ihnen hatte eine Tochter: die Schwestern wohnten in der Korolenko-Straße, die jüngere der Älteren gegenüber. Die jüngere Schwester war sehr energisch - ihr Name war Cousine Lilka. Meine Cousine war sehr rührig - so wie sie immer noch ist - ein Kreisel, ein Wirbelwind! Und sie war mit den Jungs dort befreundet: also mobilisierte sie mich sofort in Richtung Dach, damit ich mit den anderen Jugendlichen die Brandbomben löschte: auf dem Dach gab es Kisten voll Sand.“
Peter: „War Lilka älter oder jünger als Sie?“
„Sie ist zwei Jahre älter als ich. Zudem gab es die ältere Cousine, die noch zwei Jahre älter war. Die war sehr ernst - und das Leben war ernst zu ihr. Sie starb früh, etwa mit 50, an Krebs. Eine schöne, stattliche Frau, eine sehr verständige Wasserbau-Ingenieurin. Eine sehr verehrte Person, die im Bauinstitut gearbeitet hat, eine Expertin. Nun, sie spielte nicht in diesen `Schießbuden´, nicht mit Brandbomben. Ich hingegen habe mich gerne an diesem `Spiel´ beteiligt. Ich verstand nicht ganz, was die anderen immer so fürchteten! Ich? Ich hatte das alles ja auch schon genug gesehen: `Entweder trifft einen die Bombe, oder sie trifft eben nicht´.
Wir hatten lange Zangen, und man musste die Brandmunition nur schnell fangen und in den Sand stecken: sie heulte dort, brannte und verdrehte sich. Das war alles! Mehr musste nicht getan werden! Das waren keine großen Bomben. Es war ein Dienst, und wir waren dafür in Gruppen organisiert.
Es gab in Kiew viele Militärfabriken. Sofort begann man, sich dort zu sammeln, Werkzeugmaschinen zu verpacken, und so weiter. Es hatte begonnen, ja! `Wir geben keinen Fußbreit unseres Landes hin´, aber es war klar ... Niemand wusste genau ob die Deutschen hierher kamen. Vielleicht wussten es die Leute, die höher standen. Aber es war klar, dass man unter solchen Bedingungen keine Industrie am Funktionieren halten konnte.
Es gab einen berühmten Betrieb, den „Bolschewik“, das Werk für Schwermaschinen in Kiew. Er wurde als erstes bombardiert. Im Allgemeinen sammelte man sich dort. Und dort war auch noch alles in Ordnung. Von dort fuhren sie die ganzen Familien und alle fort, und im Ural, wohin sie gebracht wurden, mussten sie nicht darben. Später fanden wir heraus, dass meine zukünftige Frau Lara und ihre Verwandten (auch eine Bewohnerin Kiews) in der gleichen Stadt im Ural wie wir untergekommenen waren. Aber Lara kannte ich damals ja noch nicht. Und viele andere heutige Bekannte waren dort in Nischni Tagil. Am meisten arbeiteten evakuierte Fachleute bei einem großem Werk, `Uralwagonzawod´, und jeder von ihnen bekam am Ende des Krieges ein Modell des Panzers T-34. Bis jetzt stehen diese Tanks noch bei den Leuten.
Die Kolchose wurde evakuiert und der Bruder (meiner Mutter), sprich: der Onkel, sagte: `Nun, ich habe hier zwei Pferde, mit denen ich jahrelang gelebt habe, meine Lieblingsstuten Mascha und Kalinka. Und einen Wagen! Ein guter Wagen! Damit können wir…´ Man packte in Ruhe die Wagen, die ganze Kolchose, reihte die Wagen in eine Kette auf, trieb die Kühe zusammen...
Im Allgemeinen war die Atmosphäre freundlich, man half einander. Und alle gingen! Es war eine organisierte Evakuierung der Kolchose. Wegen der Kühe, die ja sehr wertvoll waren! Die überwältigende Mehrheit der Kollektivbauern lebte hier in diesem Vorort, im Dorf, aber auch sie gingen. Es war ein sehr einiges Team, die berühmte Kolchose. Es gab keine Unstimmigkeit! Ich weiß nicht genau, wer geblieben ist, wer nicht, aber ich weiß, diese Bauer waren anders als jene, welche ich früher gesehen hatte – irgendwie großstädtischer. Die Menschen in Welyki Mosty waren anders gewesen.
Obwohl... Früher, als ich in die erste Klasse ging und wir eine Wohnung im Haus einer Frau gemietet hatten… Eigentlich gehört das nicht hierher – ist aber eine lustige Geschichte: Sofa war der Name unserer Vermieterin, eine kleine, sehr energische Frau. Der Name ihres Mannes war Fedor. Sie kam irgendwann nach Hause und fand – nun - eine fremde Frau im Schrank! Oh je! Obwohl sie sehr klein war, verprügelte sie Mann und Frau, trieb beide hinaus! Fedor ging weg und heiratete wieder, angeblich die neue Frau. Die Zeit verging. Sofas Wut aber blieb! Und was erzählten die Frauen aus der ganzen Siedlung, als sie einmal meine Mutter trafen: `Haben Sie es noch nicht gehört? Heute hat Sofa Fedor getroffen! Sie hat ihn mit frischem Pferdemist beworfen, ihm seine Fresse damit total eingeschmiert!´ - eine äußerst unterhaltsame Geschichte für so ein kleines Örtchen – nun ja - Wie auch immer …
Hier, um Kiew herum gab es fast städtische Bauern, Leute, die etwas anders lebten. Mein Onkel kam aus Kiew. Er fuhr etwa zwei Stunden zur Arbeit und kam spät nach Hause. Er nahm immer eine Kanne mit, und wenn er zurück kam, brachte er frische Milch mit, aus der Kolchose. Ich denke, die meisten Leute wohnten nicht so weit weg. Der Onkel hatte sich dieses Los ausgewählt. Dafür war er jetzt Vorarbeiter, zuerst bei den Gemüsebauern. Er hatte zwei Pferde, mit denen er arbeitete. So war er sowohl Viehzüchter wie auch Gemüsebauer. Körperlich sehr stark, mit großen hornüberzogenen Händen, schufte er wie ein Tier, aber er wurde auch unbegrenzt respektiert! Onkel Mischa: das war eine Autorität! Er war sehr vernünftig, ein erstaunlich gutherziger Mann! Und er hatte immer viele Freunde um sich herum.
Meiner Erinnerung nach brachen wir dann im August auf! Wir waren Ende Juni angekommen und den Juli und ein Stückchen vom August geblieben - also eigentlich nicht sehr lange. Ich hatte gehört, dass man gehen musste. Das wurde so organisiert, dass es in der Regel mit der Abreise kein Problem gab, keine `wilden´ Zugbesteigungen etc. Kiew war immerhin eine Industriestadt! Zuallererst fuhren die großen Fabriken fort, dann die kleineren. Die meisten Leute sind gegangen; man schloss die Wohnung mit dem Schlüssel zu, dann war man weg. Auf der Straße war es ruhig, aber es gab Alarme, Sirenengeheul - das alles hat funktioniert, die Fenster waren schon abgedunkelt und mit Kreuzchen aus Klebestreifen gegen das Zerbersten gesichert. Abends haben die Kinder in Schichten überwacht, dass man kein Licht anzündete. Darauf standen Strafen, denn es wurde als Spionage betrachtet, als Wegweiser für die Bomber, weil eine dunkle Stadt viel schwerer zu bombardieren ist.
Nun, weißt du, ich kann Dir nicht alles beantworten – ich war erst 10 Jahre alt!
Ich habe nur gehört, dass der „Bolschewik“ evakuiert wird, das Radiowerk auch... Aber ich machte mir keine besonderen Sorgen. Ich hatte ja eine sehr gute Beschäftigung für einen Jungen, der bei der Armee aufgewachsen ist. Ich kam sehr schnell zurecht, denn ich wusste, was wozu da war. Heute sieht man das alles als unmöglich an – aber wir waren Kinder! Auf dem Dach fühlten wir uns heldenhaft und selbstbewusst! Die Dächer waren eingezäunt, es war mehr oder weniger sicher. Nur diese Brandbomben fielen. Nicht etwa Sprengbomben oder Vergleichbares. Ich erinnere mich nicht an die Zerstörungen, hatte sie nicht gesehen. Erst, als ich später zurück nach Kiew kam, sah ich, was man getan hatte...
Der `Bolschewik´ war ein taktisches Kriegsziel. Mit dem Oberleitungsbus fährt man 20 Minuten hin! Wir lebten im Zentrum, mitten in der Stadt. Der `Bolschewik´, der war fürchterlich weit weg - so schien es mir als Kind: Der `Bolschewik´ lag fast am Ende der Stadt! (Später, als ich schon berufstätig war und auf Dienstreisen fuhr, wohnten wir noch hinter dem `Bolschewik´ in einem ehemaligen Vorort. Gegenwärtig ist der auch schon ein vollwertiger Teil von Kiew geworden. Man hat dort viel gebaut, Svyatoshino heißt dieser Ort. Manchmal kam mein Zug am Bahnhof Kiew um 4 Uhr morgens an. Sollte ich meine Frau und Tochter so früh wecken? Ich nahm also meinen Koffer und ging zu Fuß. Ungefähr zwei Stunden habe ich dann zu Fuß nach Hause gebraucht. Die Stadt war damals noch nicht so groß.)
Die Deutschen bombardierten nicht blind, sie hatten Pläne und Freunde, die ihnen dieses Ding, den `Bolschewik´, nachts aufzufinden halfen. Die Deutschen bombardierten die Wohngebiete und das Zentrum nicht. Wahrscheinlich waren sie ihnen egal; sie mussten bombardieren, was kriegswichtig war. Das heißt: als wir Kiew verließen, war das Zentrum immer noch in Ordnung.
Sogar an den Weg erinnere ich mich mehr oder weniger gut, sogar die Namen der Städte, durch welche wir kamen. - Es gab keine besonderen Probleme!
Wir flohen zu Fuß. Wer kranke Beine hatte, wer älter war, fuhr auf den Wagen mit. Leute liefen, das Vieh auch. Die Menschen waren körperlich stark und jung. (Wie alt war mein Onkel damals?)
Wir hatten einen Koffer, in den meine Mutter etwas geworfen hatte: meine Kapitanka! Und ein paar von Mamas Kleider. Mit der Kapitanka war ich später am Ural; im tiefen Winter: die Kapitanka hat mich immer wieder gerettet! Ich habe ein Foto, wo ich in der Kapitanka und in der Kinder-Matrosenmütze mit dem Bändchen stehe, also quasi in Militäruniform: ein Mensch, der mit sich sehr zufrieden ist. Natürlich. Natürlich! Die Armee war so attraktiv, so hinreißend! Es war eine gute Armee, freundlich, und im Allgemeinen vorbereitet, qualifiziert, diszipliniert! Vielleicht half sie auch irgendwie: jedenfalls war es den Deutschen nicht sofort gelungen ... sie leistete mehr oder weniger selbstlos Widerstand.
Aber da war auch Angst! Der Krieg war perfide begonnen worden; es gab nur einen Ausweg um zu entkommen. Umso mehr rückten die Deutschen mit Panzern und Artillerie vor. Und an der Grenze hatte dieses 44. Bataillon und Kavallerie-Regiment gestanden: lächerlich als Grenzverteidigung! Dieser kleine Grenzposten!“