Читать книгу Entschuldigung? Ich bräuchte mal Ihr Kind! - Simon Bartsch - Страница 5
ОглавлениеDie Heimkehr
Blickkontakt hergestellt, ein Lächeln, ein Zwinkern – die Chemie stimmt. Nach dem ersten Eindruck passt die Blondine an Gate 61D altersmäßig nicht in mein Beuteschema, doch für ihre geschätzten 35 Jahre scheint sie sehr gut in Schuss zu sein. Und sie hat ein atemberaubendes Lächeln. Meine sexuelle Fantasie wird nur von dem kleinen speckigen Jungen zu ihrer Rechten getrübt, der mir schon beim Einchecken auf den Sack gegangen ist, als er mir unentwegt seinen Gepäckwagen in die Fersen rammte. Hätte ich nicht Jordis Abschiedsgeschenk und meine Notebook-Tasche in den Händen gehalten, wäre der kleine Scheißer umgehend im Gepäckscanner gelandet. Jetzt sitzt er neben der heißen Blondine und leckt tatsächlich über einen der Plastikstühle des Wartebereichs. Gott, wie ich die kleinen Stinker hasse. Warum müssen Kleinkinder immer alles in den Mund stecken? Da die Blondine das gesundheitliche Wohl des dicken Jungen offenbar nicht wirklich interessiert, glaube ich nicht, dass er zu ihr gehört. Warum also nicht mein Glück versuchen? Ich fahre mir noch einmal durch die Haare und schiebe meine T-Shirt-Ärmel ein Stückchen höher. Dann setze ich mich neben den dicken Jungen. Auch auf die Gefahr hin, dass ich sein nächstes Spucke-Opfer bin. Die hübsche Frau verwickelt mich sofort in ein nettes Gespräch. Sie heißt Nicki, kommt aus Bonn und will mir ihr eigentliches Alter nicht verraten. Sie ist mir sofort sympathisch. Nicki schwärmt von ihrem Ausflug in die Berge und dem Es Trenc-Strand im Süden. Nur mit dem ganzen Sex-Tourismus und den Alkoholleichen könne sie nichts anfangen. „Ich auch nicht“, lüge ich. Genau in diesem Moment passiert uns eine Gruppe Jugendlicher, die lauthals „Und dann die Hände zum Himmel“ anstimmt. Für einen kurzen Moment machen sich meine Arme selbständig und zucken. Nur mit größter Mühe kann ich dem Impuls widerstehen, gestenreich mit einzustimmen.
„Schrecklich. Wie asozial“, sagt Nicki und schüttelt abschätzig mit dem Kopf. Ich verschweige ihr wohl besser, dass ich bislang als Animateur gearbeitet habe. Vielleicht auch, dass in Köln meine Verlobte Anne auf mich wartet.
„Hast du heute Geburtstag?“, reißt sie mich aus meinen Gedanken und deutet mit dem Kopf auf das in rosa Geschenkpapier gehüllte Paket. Eigentlich handelt es sich um das Abschiedsgeschenk meines ehemaligen Chefs. Für mich heißt es nämlich Abschied nehmen. Abschied von der Insel, von meinem junggesellenhaften Dasein als Animateur, von meiner Freiheit. In wenigen Monaten werde ich Anne heiraten. Nicht ganz uneigennützig. Mein Erspartes oder vielmehr das Erbe meines verstorbenen Onkels Uli neigt sich dem Ende zu. Weder mein ausschweifender mallorquinischer Lebensstil noch meine Eigentumswohnung in Köln lassen sich noch lange finanzieren. Anne, beziehungsweise ihr Vater, bieten mir ein Leben in Saus und Braus. „Willst du es nicht aufmachen?“, unterbricht Nicki meinen Gedankengang erneut. Ich zögere einen Moment. „Für einen romantischen Moment zu zweit“, hat Jordi bei der Übergabe geraunzt. Er hat einen seltsamen Humor. „Na, mach schon!“, fordert sie mich auf. Also gebe ich nach und reiße das Papier auf. „Jamaican Jack – der special Lover“ ist 40 Zentimeter lang und verspricht „Ekstase pur!“. Nicki scheint nicht so begeistert. Kopfschüttelnd wechselt ihr Blick zwischen dem überdimensionalen Liebesspielzeug und meinem Gesicht hin und her. Blöderweise muss ich über Jordis Geschenk schelmisch grinsen. Ich weiß nicht genau warum, ob aus reiner Neugier oder Faszination, vielleicht auch, weil ich der Beschriftung nicht traue, aber ich öffne die Packung und ziehe das beeindruckende Hartgummi heraus. Ich will es Nicki stolz zeigen, doch die hübsche Blondine sitzt nicht mehr neben mir. Enttäuscht lege ich den Dildo zur Seite und rufe nach Nicki. Tatsächlich dreht sie sich noch einmal um. Ihre Augen weiten sich und sie hält ihre Hand vor den Mund. Ich folge ihrem Blick. Der kleine speckige Junge hat etwas großes Schwarzes gefunden, das er in den Mund stecken will.
Unauffällig lasse ich das Geschenkpapier verschwinden und verlasse den Wartebereich so schnell ich kann. Das Boarding hat bereits begonnen und ich stelle mich ausnahmsweise gerne in die Schlange. Mein Handy meldet sich. Erschrocken blicke ich mich um. Den Eingang der SMS hat niemand registriert. Die Fahrlässigkeit der anderen Fluggäste erschreckt mich zutiefst. Nach internationaler Flughafenrichtlinie gefährdet das eingeschaltete Handy angeblich den Flugverkehr. Grundsätzlich will ich nicht für den Crash einer Boeing verantwortlich sein. Zumal ich glaube, dass dieser nicht von meiner Haftpflichtversicherung abgedeckt wäre. Tollkühn werfe ich einen Blick auf das Display.
Hi Schatz, wollte dir einen guten Flug wünschen. Ich fahre gleich los. Komme mit Annette, einer Freundin. Ich hoffe, das ist kein Problem für dich. Freu mich auf dich. Anne
Ihre Freude kann ich momentan ganz und gar nicht teilen. Aviophobie. Flugangst. In der Grundschule nannten sie mich noch den „mutigen Marc“. Und das nur, weil ich Gudrun Listig, ich glaube irrtümlicherweise, mein Mäppchen an den Kopf geworfen hatte. Bestimmt wollte ich die nervige, alte Erdkunde-Lehrerin gar nicht treffen, zumindest nicht offiziell. Den Riss sollte eigentlich auch die Deutschlandkarte in ihrer Nähe davongetragen haben und nicht ihre Stirn. Fortan war ich bei den Lehrern nur Marc Wagner. „Der“ Marc Wagner. Meine Schulkameraden nannten mich dagegen den „mutigen Marc“. Im Alter von neun Jahren ist das wirklich ein super Spitzname.
„Hey, kennt ihr schon den Unglaublichen Hulk?“
„Nein, aber schaut mal, da kommt der mutige Marc“, haben die Mädchen sicherlich getuschelt. Heute nennt mich keiner mehr den „mutigen Marc“. Trotzdem besitze ich wieder einen einigermaßen „coolen“ Spitznamen. Aufgrund meiner sexuellen Aktivitäten auf der Insel nennen mich meine Freunde „COCKer Spaniel“.
Meine Jugend als „mutiger Marc“ gerät zunehmend in Vergessenheit. Genau in diesem Moment, 20 Jahre später, ist von meinem Mut nämlich nicht mehr viel übrig. Ich glaube, Mohammed Atta war sich nicht wirklich bewusst, was er mit seinem hirnrissigen Werk am 11. September 2001 den Aviophoben dieser Welt angetan hat. Vermutlich hätte es ihn auch nicht interessiert. Während sich der traditionelle Aviophobe früher nur auf komische Geräusche im und ums Flugzeug konzentrieren musste, hält der moderne Aviophobe zudem Ausschau nach potentiellen Schläfern. Das fällt mir nicht leicht. Zum einen weiß ich nicht genau, wie ein typischer Schläfer von heute aussieht, zum anderen traue ich diesen Menschen auch eine gut durchdachte Verkleidung zu. Wer es schafft, den gewieften George Bush Junior aus der Reserve zu locken, der hat vermutlich mehr auf dem Kasten, als einen aufgeklebten Schnäuzer, Hasenzähne und eine falsche Brille. Vorsichtshalber schaue ich mich suchend um. Eine Gruppe von alkoholgeschädigten Fußballern macht sich nicht weiter verdächtig. Die Jungs belagern gleich mehrere der blauen Plastikstühle. Sie sehen müde aus. Einige von ihnen weisen eklatante gesundheitliche Schwächen auf. Zumindest lässt die gelbe Pfütze gespickt mit Käsewürfeln und schinkenähnlichen Brocken in ihrem direkten Umfeld darauf schließen. Somit kann ich mindestens vierzehn Menschen als potentielle Terroristen vorerst ausschließen. Bleiben also nur noch geschätzte 120 Selbstmordattentäter. Beruhigend ist diese Zahl wahrlich nicht. Denn selbst ein Bombenleger wäre mir in meiner jetzigen Verfassung mehr als genug. Ein dunkelhaariger Mann hinter mir spricht ganz leise in sein Handy. Will er sich vielleicht von seinen Verwandten verabschieden? Tun Terroristen so etwas? Oder geht er mit seinen Verbündeten die genaue Explosionszeit durch? Ich weiß es nicht. Als er „Ich freue mich auf dich“ in sein Telefon haucht, bin ich etwas beruhigt.
Gut, ich muss zugeben, die Flugroute Palma – Köln/Bonn ist auf den ersten Blick vielleicht nicht die anschlagsanfälligste Strecke, die mir spontan einfällt. Soviel ich weiß, gibt es allerdings noch keine wissenschaftlichen Untersuchungen, die mich vom Gegenteil überzeugen könnten.
Eine Frau mit Kopftuch erregt plötzlich meine Aufmerksamkeit. Bestimmt eine Schwarze Witwe. Was sollte eine Frau mit Kopftuch sonst auf Malle machen? Die Türken haben doch ihr eigenes Meer. Sehr verdächtig. Fast schon in Panik schaue ich mich nach Sicherheitspersonal um. Tatsächlich sehe ich zwei Männer von der Guardia Civil. Nun, was sagt man zwei muskulösen Rudimenten der Franco-Spezialeinheit? „Da vorne steht eine Frau mit Kopftuch“ dürfte vermutlich nicht ausreichen, um einen Großeinsatz mit Sondereinsatzkommando auszulösen. In meiner Verzweiflung stoße ich nur noch ein kleines Gebet aus und suche meinen Weg ins Flugzeug.
Wirklich gut geht es mir nicht. Ich will mich nur noch hinsetzen. Doch natürlich muss vor mir ein alter Mann sein Handgepäck, das wahrscheinlich an jedem anderen Flughafen dieser Welt als Sperrgepäck durchgegangen wäre, in dem viel zu kleinen Verstauraum über den Köpfen unterbringen. Eine Stewardess schiebt mich ein wenig unsanft zur Seite und hilft dem alten Mann. Ausnahmsweise habe ich keine Augen für die Stewardess. Obwohl sie nach erster Begutachtung schon über einen schönen Hintern verfügt. Ich habe gerade ganz andere Probleme. Der alte Mann lässt sich überzeugen, dass sein Holzpaddel besser unter dem Sitz untergebracht sei. Ich frage mich noch immer, wie er dieses Ding überhaupt an Bord gebracht hat. Wahrscheinlich handelt es sich trotz schrumpeliger Haut und vergilbten dritten Zähnen um einen Top-Terroristen, der sämtliche Sicherheitsleute am Flughafen mit seinem Holz brutal getötet hat. Jack Bauer, Chuck Norris und der Terminator würden vor Neid erblassen. Unglücklicherweise ist mir der Platz in der Mitte zugelost worden.
Auf dem Platz am Fenster sitzt ein Mann in meinem Alter. Für meinen Geschmack ist er etwas zu gut gekleidet. Er war gerade auf Mallorca, warum in Gottes Namen trägt er einen schwarzen Anzug? Er sieht weder deutsch noch spanisch aus. Von der Hautfarbe ein wenig orientalisch, aber er hat rötliche Haare. Macht ihn das verdächtig? Rauschebart und Turban trägt er nicht. Allerdings wackelt er. Mit allen Extremitäten. Warum wackelt er? Als wäre ich nicht nervös genug. Ein Mann, der so hektisch wackelt, kann nur etwas Böses im Schilde führen. Panik. Ich setze mich auf meinen Platz 17B und stelle mir schon die Nachrichten vor:
„Ein Flugpassagier des Flugs DE6742 von Palma nach Köln ist am Samstagmittag ums Leben gekommen. Offensichtlich hat ein Komet ein Loch in den Boden der Unfallmaschine gerissen. Der Fluggast auf Platz 17B wurde in die Tiefe gerissen. 17A hat überlebt. Durch schnelle Flatterbewegungen konnte er den Sturz in die Tiefe verhindern. Von 17B fehlt jede Spur. “
Zu allem Überfluss setzt sich eine schwer übergewichtige Frau auf die andere Seite neben mich. Doch nicht nur ihr Aussehen löst Übelkeit in mir aus, sie riecht dazu sehr unappetitlich. Man braucht kein praktizierender Mentalist à la Uri Geller zu sein, um zu sehen, dass dieser Flug eine Qual wird. Ich ziehe meinen Sicherheitsgurt noch ein wenig enger. Eigentlich bleibt mir jetzt schon ziemlich die Luft weg, doch wenn ich schon abstürze, dann nur zusammen mit meinem Sitz 17B. Der Mann zur Linken wackelt noch immer, die Frau zur Rechten stinkt.
Ich versuche, mich auf die Sicherheitshinweise des Personals zu konzentrieren. Die Stewardess ist ausgesprochen hübsch und ich meine, sie hat mich angelächelt. Ich kann mir zumindest nicht vorstellen, dass sie mit dem Wackler oder der Stinkefrau flirtet. Sie kommt mir bekannt vor. Ich konzentriere mich jedoch auf das richtige Röhrchen, in das ich blasen muss, falls ich über dem Mittelmeer abstürze. Ich stoppe meinen Gedankenprozess. Würde ich mir darüber weiter den Kopf zerbrechen, käme sicherlich die Frage auf, wie mich die Weste vor einem Sturz aus zehn Kilometern Höhe retten soll, wenn nicht zufällig ein Schirm oder ein Ballon daran befestigt ist. Mal ganz abgesehen davon, dass wir uns ab Südfrankreich über Festland befinden. Ist 2010 nicht ein Flugzeug im Hudson River in New York notgelandet? Hastig rufe ich eine imaginäre Karte von Zentraleuropa ab. Das erweist sich wiederum als ziemlich schwer. Zum einen sind meine Flusskenntnisse alles andere als überragend, zum anderen weigerte sich Frau Listig seit meiner morbiden Wurfattacke tunlichst, mich in die Grundkenntnisse der Sachkunde einzuweihen. Zumal ich fortan mehr Zeit beim Schulleiter als unter Frau Listigs Fittichen verbracht hatte.
Ich versuche, dem Vortrag der Saftschubse gespannt zu lauschen, kann mich aber nicht konzentrieren. Das liegt an dem Wackler, der mich immer nervöser macht. Dann greift er plötzlich in seine Tasche und holt eine Kette mit Holzkügelchen heraus. Er nuschelt unaufhörlich irgendwelche Wörter, die ich nicht verstehe. Doch ich ahne, dass er betet. Auf Arabisch oder so. Jetzt gibt es für mich keinen Zweifel mehr. Er muss ein Selbstmordattentäter sein. Er stößt gerade sein letztes Gebet aus. Plötzlich rollt die Maschine los. Die Stimme des Wacklers wird hektischer und lauter. Dann rast das Flugzeug über die Startbahn. Ich schaue aus dem Fenster und merke, wie eine Schweißperle meine Wange herunterläuft. Ich warte auf den Moment, in dem das Heck den Boden streift, die Triebwerke Feuer fangen, ein Blitz einschlägt und wir schließlich in die Luft fliegen. Vergebens. Die Frau neben mir macht eine Tüte Chips auf. Wie kann sie bloß unter diesen Umständen essen? Ihre Körperfülle liefert mir die Antwort. Umso erstaunlicher ist es, dass sie mir die Tüte unter die Nase hält. Bacon-Nachos. Ich denke über mein Käse-Sandwich vom Morgen nach und überlege mir, dass ich der Frau zu ein wenig Extra-Käsesoße verhelfen könnte. Wenn sie nicht bald die scheiß Tüte wegnimmt, lässt sich der natürliche Dip wohl kaum noch vermeiden. Meine Finger bohren sich tief in den Sitz und ich versuche, mit dem Kopf zu wackeln, um der Frau zu zeigen, dass ich keine Nachos mag. Nicht zu intensiv. Das Gleichgewicht des Flugzeugs liegt mir momentan sehr am Herzen. Also verhalte ich mich lieber ruhig.
„Waren Sie auch auf Mallorca?“, fragt mich die dicke Frau und spricht „Mallorca“ mit mindestens acht „l“ aus. Natürlich war ich auf Mallorca, wie soll ich sonst ins Flugzeug gekommen sein?
„Nein“, antworte ich genervt. „Eigentlich bin ich auf dem Weg von Leverkusen nach Köln, meine Maschine hat nur einen Zwischenstopp in Palma gemacht.“ Sie nickt verständnisvoll und erinnert mich unweigerlich an meinen Bruder Christoph, der einfach nur ein Schwachmat ist und auch alles glaubt, was man ihm erzählt. Bei ihm dürfte das in naher Zukunft jedoch von entscheidendem Vorteil sein, denn so wird es mir leichtfallen, ihm eine abenteuerliche Geschichte aufzutischen, warum er schnellstmöglich aus meiner Wohnung auszuziehen hat und ich diese verkaufen werde. Bei der Frau ist es offenbar nicht ganz so einfach.
„Ist das nicht eher eine ungewöhnliche Route?“, fragt sie mich skeptisch nach gefühlten zwei Minuten Denkzeit.
„Ja. Das ist es. Aber alle anderen Flüge waren schon ausgebucht und die A3 am Heumarer Kreuz verstopft.“
„Tja, das ist immer so die Sache mit den Billigflügen.“
Ganz behutsam beuge ich meinen Oberkörper nach vorne, greife vorsichtig nach meiner Tasche – das Flugzeug sollte nicht von zu schnellen Bewegungen vom eigentlichen Kurs abgebracht werden – und ziehe demonstrativ meinen MP3-Player und meine Kopfhörer aus der Tasche. Plötzlich nehme ich aus dem Augenwinkel eine schnelle Bewegung war. Unauffällig blicke ich auf die Hände des Wacklers. Zieht er jetzt den Zünder seiner Bombe aus der Tasche? Nein, nur ein Taschentuch. Wahrscheinlich hat er sich auf Mallorca die Schweinegrippe eingefangen. Na toll. Das hat mir jetzt gerade noch gefehlt. Doch der Tod durch Schweinegrippe dürfte weitaus angenehmer sein als der durch Flugzeugabsturz. Das Anschnallzeichen über mir erlischt. Offensichtlich haben wir die endgültige Flughöhe erreicht. Ich stelle heimlich meinen MP3-Player wieder aus. Zwar muss ich mir dank ihm nicht das Gebrabbel der Frau anhören, doch ich verpasse mit der Musik mögliche Geräusche, die auf einen sicheren Absturz hindeuten. Als die Musik verstummt, höre ich die Stimme des Piloten. Die Worte „Gewitter“ und „kleine Schleife“ beruhigen mich allerdings nicht wirklich. Immerhin lächelt mir die Stewardess erneut zu. Sie kommt mir nach wie vor bekannt vor. Vermutlich habe ich sie irgendwo auf Malle einmal flachgelegt. Doch wer kann sich an so etwas schon erinnern? Andererseits ist sie dafür viel zu freundlich. Der Mann neben mir wackelt immer noch. Das gibt’s doch gar nicht. Zünd endlich deine scheiß Bombe und ich habe meine (letzte) Ruhe, denke ich mir. Wieder lächelt die Stewardess und winkt mir zu. Irgendwie muss ich an Sex im Flugzeug denken. Mein sprunghaft ansteigender Testosteronspiegel rückt meine Angst ein wenig in den Hintergrund. Doch nur ein wenig. Zumal der Wackler noch immer in einer Tour betet und die dicke Frau mittlerweile die zweite Tüte Nachos verputzt. Ich lächle freundlich zurück. Fünf Minuten später liegt eine Serviette vor meiner Nase. Sie ist beschriftet:
„Komm in fünf Minuten auf die vordere Toilette.“
Klasse, wie in einem billigen Hardcore-Porno will mich eine Stewardess auf dem Klo vernaschen. Der Traum eines jeden Pubertierenden könnte endlich wahr werden und ich scheiße mir vor lauter Angst in die Hose. Mit wackligen Knien mache ich mich schließlich auf den Weg. Diese Chance kann ich mir einfach nicht entgehen lassen. Allerdings verspüre ich eine gehörige Portion Angst, mich bei dem eigentlichen Akt vielleicht ein bisschen zu viel zu bewegen. Vielleicht finde ich einen Rhythmus, der mit der Flugbewegung kongruent ist.
Tatsächlich wartet die Stewardess bereits auf mich. Sie zieht den Vorhang zur Maschine zu, mich in die Toilette und mein T-Shirt in einem Zeitraum von insgesamt eineinhalb Sekunden aus. Erst leckt sie mir über die Brust, dann durchs Ohr. Für meinen Geschmack bewegen sie und ihre Zunge sich ein wenig viel. Mit einer gekonnten Drehbewegung meines rechten Fußes versuche ich, das Gleichgewicht der Maschine wiederherzustellen. Dann zieht sie mir langsam die Hose aus. Es ist wirklich wie in einem Porno. Es fehlt nur, dass sie mir etwa „Hengst“ und andere Tiernamen ins Ohr flüstert.
„Ach Marc, wie lange habe ich auf diesen Moment gewartet“, sagt sie plötzlich. Ich werde etwas stutzig, denn die offizielle Vorstellung habe ich wohl verpasst. Sie scheint mich tatsächlich zu kennen. Plötzlich unterbricht sie ihre Liebkosungen.
„Na, kannst du dich noch an mich erinnern?“, fragt sie nicht ganz so erregt, wie ich es mir gewünscht hätte. Nein, kann ich nicht. Doch wie sage ich ihr das jetzt, ohne den Rest des Fluges mit schmerzenden Hoden verbringen zu müssen. Antworte ich „Ja, natürlich“, erwartet sie wahrscheinlich ihren Namen von mir. Ich bin zwar ziemlich kreativ, doch die Chance, den richtigen zu treffen, ist relativ gering. Vielleicht Mechthild? Wohl doch nicht so kreativ. Auf der anderen Seite sind die Worte „Nein, ich hatte so viele, da kann ich mich nicht mehr an jeden Namen erinnern“ auch nicht mit Bedacht gewählt.
„Wusste ich es doch!“, fährt sie mich an. „Katharina.“ Knapp daneben. „Weißt du nicht mehr? Du hast mich mit auf dein Hotelzimmer im Beach Club genommen“, nimmt sie mir meine Antwort ab. Sie hat es zwar gut gemeint, doch diese Erklärung bringt nur bedingt Licht ins Dunkel. Schließlich habe ich in den vergangenen Jahren gefühlte 150 Frauen mit auf irgendwelche Zimmer genommen.
„Du hast mich liebevoll 71 genannt“, hilft sie mir weiter auf die Sprünge. Das schränkt die Möglichkeiten nicht wirklich ein. Ich frage mich allerdings, warum sie mich gerade jetzt mit dieser Geschichte konfrontiert. Plötzlich macht sie eine schnelle Bewegung, nimmt ein Kleidungsstück an sich, streckt mir den Mittelfinger entgegen und haut ab. Es dauert einen Moment, bis ich diese bizarre Situation einordnen kann. Dann fällt mir auf, dass sie sich bislang nicht entkleidet hat und insofern keins ihrer Kleidungsstücke an sich gerissen haben kann. Hat sie auch nicht. Sie hat meine Hose mitgenommen. Verzweifelt suche ich nach einer Möglichkeit, mir den peinlichen Gang zurück zu meinem Platz zu ersparen. Doch auf so einer Flugzeugtoilette gibt es erstaunlicherweise weder eine Ersatzhose noch eine passable Fluchtmöglichkeit. Zumindest sieht die kleine Öffnung an der Toilette nicht gerade so aus, als würde ein menschlicher Körper durchpassen. Was mich grundsätzlich beruhigen sollte. Schließlich weiß ich jetzt, dass ich bei meinem nächsten Flug auf die Toilette gehen kann, ohne Angst haben zu müssen, durch das Klo nach außen gezogen zu werden.
Jemand klopft an die Tür und fragt, wie lange ich denn noch brauche. Was soll ich darauf bloß antworten? „Gib mir deine Hose und du darfst aufs Klo“. Oder „Ich bin ein Terrorist, und wenn du mir weitere blöde Fragen stellst, jage ich die Maschine in die Luft“. Beide Antworten gefallen mir, lösen aber mein Problem nicht. Also beiße ich in den sauren Apfel und verlasse nur mit Boxershorts und T-Shirt bekleidet das Klo. Da ich mich auf einem Rückflug von Malle nach Köln befinde, ernte ich überraschend wenig irritierte Blicke. Für weitaus mehr Aufsehen dürfte da schon mein übervorsichtiger Gang auf Zehenspitzen sorgen.
Als ich den Platz 17B erreiche, wackelt der Typ immer noch und die dicke Frau leckt sich die Lippen. Ich weiß nicht genau, ob wegen meiner schwer attraktiven Beine oder voller Vorfreude auf eine weitere Tüte Chips. Ich setze mich kommentarlos auf meinen Platz. Von Katharina fehlt jede Spur. Ich blicke aus dem Fenster. Für einen Samstagmittag im Spätsommer und die Flughöhe ist es draußen beunruhigend dunkel. Zur Linderung aviophobischer Symptome trägt das nicht gerade bei. Der folgende dumpfe Knall und eine starke Erschütterung auch nicht. Sofort schaue ich auf den Wackler. Er hält keinen Zünder in der Hand. Es sei denn, er ist in der kleinen Kette versteckt.
Unmittelbar nach der Erschütterung meldet sich der Pilot: „Liebe Freunde, hier ist das Cockpit. Wie Sie sicherlich mitbekommen haben, fliegen wir geradewegs auf ein Gewitter zu. Da wir Ihr und unser Leben gerne deutlich verlängern wollen, werden wir die Route ändern. Das hat zur Folge, dass wir wahrscheinlich eine halbe Flugstunde mehr in Kauf nehmen müssen. Sie können jedoch davon ausgehen, dass wir schon bald in Köln/Bonn landen werden. Vorausgesetzt es kommt kein weiteres Gewitter und der Sprit reicht aus.“
Ach wie schön, denke ich mir. Ein lustiger Pilot. Immer für ein Späßchen zu haben. Vielleicht ist der Clown aber auch einfach nur rotz voll. Ich konzentriere mich wieder auf meinen Nachbarn, der gerade seine Boardingkarte herausgeholt hat, um sich damit die Zahnzwischenräume zu säubern. Nach einigen überaus unauffälligen Blicken kann ich seinen Namen entziffern: Ali Hassan Mohammad. So kann kein Ausländer heißen. Das wäre als würde ein Deutscher Thomas Müller Hinz und Kunz heißen. Das kann kein Zufall sein. Dieser Name kann nur einem bekifften Chefselbstmordattentäter durch den Kopf geschossen sein. Taliban hätte ich durchaus mehr zugetraut. Noch nicht einmal mein drogenabhängiger Bruder wäre auf so einen Namen gekommen. Doch Ali macht noch immer keine Anstalten, die Maschine in die Luft zu jagen. Langsam wird es mir unheimlich. Wer weiß, welchen Kurs der Pilot genommen hat. Vielleicht befinden wir uns schon lange auf dem Weg nach Afghanistan und ahnen noch gar nicht, dass wir dort dann selbst zu Selbstmordattentätern gedrillt werden. Ich habe mir immer einen neuen Job gewünscht. Der Job des Animateurs zermürbt auf lange Sicht. Der Job als Attentäter erscheint mir ein wenig zu kurzlebig. Als ich mich mit meinem Schicksal langsam abfinde, wird uns von Katharina das Essen gereicht. ‚Uns‘ ist übertrieben. Ich bekomme keins. Noch nicht einmal ’ne Cola. Dafür erhält die dicke Person neben mir gleich zwei Sandwiches. Katharina lächelt mich hämisch an, als sie mir eine Serviette reicht. In das Stück Papier ist etwas eingewickelt. Mein Portemonnaie und ein kleiner Brief. Meine Geldbörse ist überraschend leer. Sie hat alles rausgenommen. Mein Geld, meinen Führerschein, meine Kreditkarte, ja selbst eine Liste mit den wichtigsten Namen und Telefonnummern, wie der meiner Freundin (ich hab ein sehr schlechtes Namen- und Zahlengedächtnis) fehlen. Auf dem Brief stehen immerhin vier „lieb gemeinte“ Wörter: „Fick dich! Deine 71!“ Katharina scheint keine Freundin des gehobenen Briefverkehrs zu sein. Eine Brieffreundschaft entwickelt sich aus so einem Eröffnungstext wohl eher schwer. Doch verdenken kann ich es ihr nicht. Neben einem überheblichen Grinsen meiner stinkenden Banknachbarin hat mir dieses kurze Intermezzo einige Minuten wertvolle Zeit eingebracht. Nur noch wenige Augenblicke und wir landen hoffentlich. Entweder ich habe es dann tatsächlich überstanden oder mein Leben hinter mich gebracht. Irgendwo draußen erhellt ein weiterer Blitz den dunklen Himmel. Nur um mir selbst sicher zu sein, wackle ich den Platz 17B vorsichtig hin und her und überprüfe mit einem sanften Fußstoß die Stabilität des Bodens. Das hätte ich vielleicht vor dem Start machen sollen. Dann hätte ich wenigstens noch eine reale Chance gehabt, zu fliehen. Ganz spontan schießt mir die Frage nach dem Sprit in den Kopf. Ob sie diese kleine Routenänderung miteinkalkuliert haben. Ich erinnere mich dunkel an eine Legende, nach der man Autos im Notfall mit Alkohol betanken kann. Flugzeuge auch? Ich drehe mich langsam um und suche die verschiedenen Tische nach kleinen Alkohol-Fläschchen ab. Vielleicht sitzt auch irgendwo ein Chemiker, der die genauen chemischen Voraussetzungen kennt, oder Jesus. Wenn er aus Wasser Wein machen konnte, wird er wohl auch aus Wodka Kerosin machen können. Tatsächlich sitzt hinter mir ein Mann mit Vollbart. Es ist nicht Jesus. Es fehlt der Heiligenschein und er streckt nicht zwei Finger in die Höhe, so wie sich das für einen ordentlichen Jesus gehört. Vor allem trägt er aber einen Rauschebart und einen Turban. Jesus scheidet aus. Rauschebart, Turban? Ach du Scheiße, denke ich. Ali Hassan Mohammad, formerly known as „der Wackler“, ist plötzlich total unwichtig und so in Vergessenheit geraten, wie die komischen Knetmännchen aus der Serie „Luzie, der Schrecken der Straße“. Ich hab andere Probleme. Hinter mir sitzt die perfekte Kopie von Osama bin Laden und grinst mich an. In den verbleibenden Minuten lasse ich Osama nicht mehr aus den Augen. Ihn scheint das nicht besonders zu freuen. Das ist mir egal, schließlich steht mein Leben auf dem Spiel. Ich bin mir noch nicht so ganz sicher, wie ich Osama von einem mörderischen Sturzflug in den Kölner Dom abhalten soll. Ich könnte ihm eins mit dem Paddel überbraten. Allerdings werden der Dom und noch viel schlimmer das Brauhaus, das in unmittelbarer Nähe des Bauwerks gelegen ist, bereits in Schutt und Asche liegen, bis ich es endlich unter meinem Sitz hervorgekramt habe. Mal ganz abgesehen davon, dass der Schwung wahrscheinlich das Flugzeug ins Wanken bringen und ich später als Märtyrer in die Annalen eingehen würde. Eine vielversprechende Lösung scheint es nicht zu geben. Ich werde ihn jedenfalls nicht aus den Augen lassen.
Trotz weiterer unglaublicher Wackelattacken meines Platznachbarn und zwei heftigen Niesanfällen Osamas, die einen halben Herzinfarkt in mir ausgelöst haben, landet der Flug DE6742 in Köln/Bonn. Inklusive Platz 17B. Allerdings nicht, ohne beim Landeanflug noch einmal durchgestartet zu sein, und mir damit noch den letzten Rest gegeben zu haben.
Als ich aus dem Flugzeug steige, wird mir bewusst, dass es für einen Gang im Freien ohne Hose definitiv zu kalt ist. Doch mir bleibt ja nicht wirklich eine Alternative. Mein Nacken ist ein wenig steif. Schläfer-im-Auge-behalten ist nicht gesund, denke ich mir. Immerhin scheint es aber was gebracht zu haben. Schließlich lebe ich noch. Am Gepäckband verfluche ich sämtliche Gesetzentwickler. Welcher Vollidiot hat sich bloß Murphy’s Law einfallen lassen? Grundsätzlich ist mein Gepäckstück das Letzte. Natürlich auch heute, was mir, nur mit Boxershorts bekleidet, ganz besonders gut passt. Erst jetzt fällt mir ein, dass ich in meiner Tasche keine weitere lange Hose habe. Ich werde also mit einer Sporthose bekleidet den Flughafen verlassen. Ich bereite mich jetzt schon auf die abfälligen Kommentare meiner Freundin vor. Nach weiteren zwanzig Minuten des Wartens – ich bin seit mindestens zehn Minuten ganz allein in der Halle – kommt auch meine Tasche. Offen. Einzelne Kleidungsstücke liegen verstreut auf dem Band. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, Katharina hat sich einen weiteren gelungenen Spaß erlaubt. Und tatsächlich kommt Katharina keine zwei Minuten später mit ihrem kleinen Flugköfferchen triumphierend an mir vorbeigestapft.
„Sehr erwachsen!“, rufe ich ihr zu.
„Das habe ich mir damals auch gedacht“, antwortet sie.
Ich drehe mich genervt um und sammle die einzelnen Kleidungsstücke ein. Meine Sporthosen suche ich vergebens. Na klasse. Da ich keine Lust habe, noch länger zu warten, nehme ich den Verlust meiner Wäsche sowie den Heimweg ohne Hose in Kauf. Ich stopfe die vorhandenen Klamotten in meine Tasche und schlendere ganz langsam dem Ausgang entgegen. Der Zöllner an der Pforte erkennt – wahrscheinlich an meiner Beinbekleidung – direkt, dass ich nicht viel zu verzollen habe, und würdigt mich nicht mal eines Blickes. Ich merke, wie sich mein Körper langsam entspannt. Die Angst ist wie weggeflogen. Langsam kommt sogar ein wenig Freude in mir auf. Freude, Anne wiederzusehen. Aber vor allem Freude, den Rest des Tages auf der Couch mit deutschem Fernsehen und einem fettigen Abendessen zu verbringen. Irgendetwas brodelt da jedoch noch in meinem Hinterkopf. Das Terminaltor öffnet sich und ich sehe Anne und … neben Anne steht Annette. Mein Herz rutscht mir in die Hose, beziehungsweise in die Boxershorts. Annette ist nicht nur Annes neue Freundin, sie ist zudem meine ehemalige Spielgefährtin und seit einiger Zeit meine Stalkerin. Ihr Hobby, mir nachzustellen, bringt sie jedes Jahr für mehrere Wochen nach Mallorca. In mein Hotel, versteht sich. Gut, da sie nicht wirklich hässlich ist, habe ich sie bislang nie von, sondern ausschließlich auf der Bettkante gestoßen. Dennoch stellt sie mir eindeutig nach, schreibt mir Hunderte von Briefen und hat mich sogar schon in Annes und meiner gemeinsamen Wohnung besucht. Anne hatte zu diesem Zeitpunkt schon geschlafen. Ich weiß bis heute nicht, warum ich Annette damals reingelassen habe. Anne hat davon zum Glück nichts gemerkt. Sie hat aber auch einen tiefen Schlaf.
Anne lächelt mich an. Bis sie meine Beinbekleidung sieht. Ich sehe, wie ihr Mund die Worte „Oh mein Gott“ formt. Doch ein Laut kommt nicht über ihre Lippen. Trotzdem nimmt sie mich in den Arm.
„Hallo Schatz“, sagt sie und küsst mich sanft auf die Wange.
„Hallo Süße“, antworte ich und füge in Gedanken versunken „Hallo Annette“ hinzu. Ein folgenschwerer Fehler. Anne wird sofort hellhörig. Sie blickt mich an, dann Annette. Ein peinlicher Moment der Stille entsteht.
„Kennt ihr euch?“, fragt sie nach wenigen Sekunden. Eine berechtigte, aber kaum zu beantwortende Frage. Was soll ich sagen? „Ja, ich habe Annette mal flachgelegt, als du in geschätzten drei Metern Entfernung seelenruhig gepennt hast.“ Oder lieber „Nein, ich habe auf Malle eine Ausbildung bei Uri Geller gemacht und habe Annette schon vor Monaten in meinen Gedanken gesehen.“ Beide Antworten sind ziemlich doof.
„Wir haben vor Jahren in Bonn in der Kneipe zusammen gearbeitet“, sagt Annette plötzlich und rettet mir den Arsch. Doch Anne scheint noch immer Zweifel zu haben. Eine bekannte Stimme lenkt sie zum Glück ab.
„Kommt ihr? Ich stehe im Parkverbot“, ruft Christoph durch die ganze Halle. Mein Bruder hält einen bunten, überdimensional großen Lutscher in der Hand und sieht damit noch bescheuerter aus als sonst.
„Willst du deinem Bruder nicht Hallo sagen?“, fragt Anne meinen Bruder. Christoph denkt nach. Lange. Christoph war noch nie der Hellste. Deswegen wundert es mich, dass er im zarten Alter von 25 Jahren doch noch den Führerschein bestanden hat. Vielleicht hat er sich aber auch nur einen gemalt.
„Hast du mir was mitgebracht?“, fragt er ohne mich zu begrüßen.
„Ja klar. Ich habe meine Hose gegen eine alte Tasche eingetauscht, damit du nicht leer ausgehst“, sage ich leicht genervt.
„Echt? Wie geil. Du gibst dein letztes Hemd für mich? Dann lass mal die Tasche rüberwachsen.“ Mit der Hand fordert er mich auf, ihm die Tasche direkt zu geben. Keine schlechte Idee, so trägt er sie ins Auto. Abrupt bleibt er stehen, lässt die Tasche fallen und rennt wie ein Hund, der eine heiße Spur gewittert hat, durch die Flughalle. Vor einem kleinen Jungen bleibt er stehen und überreicht diesem mit einer majestätischen Verbeugung den Lolli. Als der Junge schließlich zu weinen beginnt, entreißt Christoph ihm den Lutscher wieder und kommt missmutig zu uns zurück. Er deutet meinen verwirrten Blick offenbar richtig. „Kein Junge, keine Prämie“, erklärt er mir freundlicherweise.
„Ich habe gedacht, wir könnten vielleicht schnell noch mit zu Christoph. Er wollte mit uns anstoßen. Aber du willst vermutlich nach Hause und dir eine Hose anziehen, oder?“, fragt Anne und beendet meinen irritierten Gedankengang. Vorerst. Bevor ich antworte, liefert meine Freundin selbst die Antwort. „Also ich würde ja schon gerne erst mit zu Christoph. Annette wollte sich dort mal umsehen. Sie will da vielleicht mit einziehen. Natürlich ist das deine Wohnung und du sollst selbstverständlich mitentscheiden.“ Richtig, es ist meine Wohnung und ich plane, sie möglichst schnell zu verkaufen. Doch jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, die Bombe platzen zu lassen. Christoph fängt an, wie wild zu kichern. Wir gucken ihn verstört an.
„Mitentscheiden“, wiederholt er. „Versteht ihr? MitentSCHEIDEn.“ Dann bleibt er erneut wie angewurzelt stehen und rennt auf ein weiteres Kind zu. Dieses Mal zieht er aus seiner Tasche eine Tüte Gummibärchen. Der Junge wirkt zunächst interessiert, wird dann aber von einem ziemlich genervten Typen – vermutlich dem Vater – weggezogen. Seine Enttäuschung kann Christoph nur schwer verbergen, als er zu uns zurückkehrt. „Scheiß auf die Prämie“, nuschelt er mehr zu sich selbst. Anne scheint meine Verwunderung nicht entgangen zu sein.
„Deine Oma“, erklärt sie und ich ahne Schlimmes. Meine reiche, aber etwas verrückte Oma – bestimmt hat Christoph den Großteil seiner Gene von ihr geerbt – ködert uns, solange ich denken kann, mit irgendwelchen Prämien. Ich sehe sie vor meinem geistigen Auge mit einem Fünfeuroschein winken. Früher hat das geklappt. Hier zwei Mark fürs Treppe fegen, da drei Mark fürs Füße massieren. Seit Mitte der 90er haben mich ihre Angebote nicht mehr wirklich interessiert. 7,50 Mark für das Einseifen ihres schrumpeligen Rückens hielt ich für unterbezahlt und auch die 4,60 Mark für das Schneiden ihrer Fußnägel würden bei Verdi bestimmt auf Unverständnis stoßen (46 Pfennig pro Zeh kann sie doch nicht ernst meinen). Christoph fand die Prämien da schon faszinierender. „Sie hat eine Baby-Prämie ausgelobt“, fährt Anne plötzlich fort und mein Herz setzt für mehrere Sekunden aus. Das kann nichts Gutes bedeuten. Ich hasse Kinder. „Sie sagt, sie wolle unbedingt noch einen Urenkel erleben. Der erste Vater von euch beiden kriegt die Prämie. Bis Ende nächsten Jahres habt ihr Zeit.“
„Dann muss Christoph sich aber ranhalten“, schlage ich vor und bin durchaus bereit, meinen Bruder bei diesem Unterfangen zu unterstützen. Bereitwillig halte ich nach einem Kiosk Ausschau. Eine Tüte Zitronendrops sollte für seine Kinderjagd doch drin sein.
Wie aufs Stichwort lacht Christoph schelmisch. Dieses Mal hat er ein Mädchen entdeckt. Doch Anne hält ihn zurück. „Ich glaube, deine Oma meint ein eigenes Kind“, erklärt sie Christoph. Mein Bruder starrt sie ein paar Augenblicke ungläubig an.
„Ist doch dann meins“, erklärt er und rennt lachend wieder los.
„100.000 Euro“, flüstert Anne und blickt mich mit treulosen Hundeaugen an.
„100.000 Euro“, wiederhole ich leise. Eine ordentliche Summe. Doch selbst die Stange Geld kann mich nicht von einem Kind überzeugen. Braucht sie auch nicht. Schließlich hat Anne auch ohne die Baby-Prämie genug auf dem Konto. Meine Freundin streichelt mir vorsichtig über den Arm.
„Und?“, fragt sie schließlich.
„Und was?“, will ich etwas genervt wissen.
„Was ist mit einem Baby?“, hakt sie nach. Das kann sie nicht ernst meinen. Sie weiß, dass ich Kinder hasse und niemals Nachwuchs haben möchte. Die Vorstellung, Windeln wechseln zu müssen, verursacht bei mir Übelkeitsattacken. Sie kennt mich gut genug, um zu wissen, dass mein Schweigen als Antwort ausreichend ist.
„Ich mag Kinder auch nicht“, ist Annette mit mir einer Meinung und mir dadurch für einen kurzen Moment sympathisch. Vielleicht können wir ja unser kurzes Intermezzo noch einmal wiederholen. Vorerst belassen wir es bei dem Thema, doch ich könnte mir vorstellen, dass es schneller wieder auf den Tisch kommt, als mir lieb ist.
Auf den gefühlten hundert Metern zum Auto wiederholt Christoph „Scheide“ mindestens fünfzehn Mal und lacht noch immer. Wahrscheinlich hat er am Morgen schon das ganze Pensum Gras zu sich genommen, das ein extrem THC-Süchtiger in einem Jahr verbraucht. Christoph ist total verstrahlt.
Natürlich hat er inzwischen vergessen, wo er das Auto geparkt hat. Viel erschreckender ist allerdings, dass er offensichtlich auch vergessen hat, was für ein Auto er besitzt. Zumindest schaut er in jedes Fahrzeug, an dem wir vorbeikommen, ob er irgendwelche Wertgegenstände wiedererkennt. Oder er übt sich als Kleinkrimineller. Auch das traue ich ihm durchaus zu. Plötzlich lächelt er. Er zieht seinen Autoschlüssel aus der Tasche und betätigt den Clip. Irgendwo öffnet sich ein Auto. Aufgeregt blickt sich Christoph um. Dann läuft er los. Wir haben Schwierigkeiten, ihm zu folgen. Irgendwo lacht er laut auf. Ich denke, er hat das Auto gefunden. Vielleicht hat aber auch jemand in seiner unmittelbaren Nähe das Wort „Scheide“ in den Mund genommen oder er hat ein Kind für seinen teuflischen Plan gefunden. Der alte Clio steht schräg geparkt in einer Behindertenparkbucht. Natürlich. Zu viert zwängen wir uns in das kleine Gefährt. Auf der anderen Seite steht ein geräumiger Audi Q5. Genau das richtige Auto für mich. Irgendwie muss ich an die Prämie meiner Oma denken. Dann an schmutzige Windeln. Zufrieden klemme ich mich hinter Christoph.
Eine Viertelstunde später stehen wir vor Christophs Wohnung. Er hat einen Parkplatz direkt vor dem Haus gefunden. Erinnerungen werden wach. Vor fünf Jahren habe ich die Wohnung gekauft. Ein Onkel, der Bruder meines Vaters, hatte uns damals einen Haufen Geld vermacht. Sehr zur Freude meines Vaters, der leer ausgegangen war und seinen Bruder daraufhin aus sämtlichen Erinnerungen gestrichen hatte. Das ging so weit, dass er jegliche Familienfotos mit Onkel Uli vernichtet hat. Von meinem Teil des Geldes habe ich mir damals die Wohnung gekauft. Genau die richtige für einen Studenten wie mich: drei große Zimmer. Ein Schlafzimmer, ein Wohnzimmer und das sogenannte Bumszimmer. Schon in der Pubertät war ein Traum von mir und meinem besten Kumpel Jens, eine Bums-WG zu eröffnen. Jens lebt noch zu Hause. Mit Anfang dreißig. Schon in der ersten Nacht habe ich das Bumszimmer eingeweiht und meine Nachbarin, eine naive kleine spanische Studentin aus reichem Elternhaus, flachgelegt. Christoph ist mit seinem Erbe nicht ganz so clever umgegangen. Auch er hatte sein Geld in ein Bumszimmer investiert. Allerdings nicht in sein eigenes. Den Großteil des Geldes hat er aber in ein todsicheres Geschäft eingebracht. Zunächst wollte er sich mit einem Sicherheitsunternehmen selbständig machen. Nachdem er sich das nötige Equipment besorgt hatte – unter anderem ist er irgendwie an eine Pumpgun gekommen – und acht Monate auf den ersten Auftrag gewartet hat, wurde er bei genau diesem so dermaßen zusammengeschlagen, dass er die nächsten vier Monate zitternd auf der Couch unserer Eltern verbracht hat. Dann hatte er die wahnwitzige Idee, einen Wanderzirkus zu eröffnen. Nachdem er ein halbes Jahr eine Clownschule irgendwo in der Ukraine besucht hat, kam er zu dem Schluss, dass ein Wanderzirkus ohne Tiere und ordentlichen Direktor keinen Sinn machen würde. Da ich weder Interesse an dem Posten des Direktors noch an dem des Tigers hatte, ließ er auch diese Geschäftsidee sausen. Dann hat er sich eine Eismaschine gekauft und ein Ladenlokal in der Kölner Innenstadt gemietet. Bahnbrechende Eissorten wollte er kreieren. Er hatte nicht bedacht, dass der Ertrag des BohnenSorbets, Pangasiuseis und Mousse au Remoulade möglicherweise die Mietkosten des Ladenlokals nicht komplett decken würde. Ziemlich schnell war er ziemlich pleite. Kurz zuvor hatte mein Vater ihn wegen absoluter Blödheit des Hauses verwiesen. Als ich dann vor drei Jahren mit Anne zusammengezogen bin, habe ich dem armen Kerl meine Wohnung überlassen. Miete zahlt er nicht, denn er hat nach wie vor kein geregeltes Einkommen. Er hat eine Zeitlang Pizza ausgefahren, nicht lange. Er kam sehr oft mit den Adressen durcheinander. Zumindest landete ein Großteil der auszuliefernden Pizza erst in seiner Wohnung und schließlich in seinem Magen.
Wehmütig betrete ich das Haus. Es wird mir nicht leichtfallen, Christoph zu erklären, dass ich die Wohnung nun verkaufen muss. So viel Geld Anne auch auf der hohen Kante hat, sie wird nicht akzeptieren, dass Christoph umsonst in meiner alten Wohnung lebt. Zumal ein Großteil des Erlöses für die extravagante Hochzeit meiner Freundin draufgehen wird. Im Flur stinkt es nach Fett. Je höher wir im Treppenhaus emporsteigen, umso intensiver mischt sich ein weiterer Duft in die vorzügliche Note. Es riecht nach Gras. Die Wohnung hat definitiv schon bessere Zeiten gesehen. Das ehemals warme Gelb ist einem grünlichen Ton gewichen. Ich weiß allerdings nicht, ob eine andere Farbe gestrichen worden ist, oder ob der Schimmel, der sich auf der Wand ausgebreitet hat, diese neue Farbkreation erschaffen hat. Die Möbel sind mit einer nicht zu identifizierenden Masse verziert. Überall stehen benutzte Teller und halbvolle Gläser rum. Als Tischdekoration hat sich Christoph etwas ganz Besonderes einfallen lassen: Der Tisch ist mit einzelnen Pommes und Chicken Nuggets versehen. Ähnliche Deko befindet sich auch in der Küche und sogar im Schlafzimmer. Es ärgert mich, was der Kerl aus meiner Wohnung gemacht hat, aber das werde ich mit ihm ein anderes Mal klären.
„Na, Annette, gefällt es dir? Ist doch gemütlich?“, fragt Christoph.
Annette ringt sich ein Lächeln ab. Gemütlich ist hier nichts mehr. Der Fernseher ist vor lauter Schmutz und Staub nicht mehr zu sehen. Ich habe ernsthafte Bedenken, dass wir Ärger mit den anderen Mietern bekommen. Hier wohnen nämlich entgegen der Hausordnung einige Haustiere. Auch wenn die meisten von ihnen über mindestens sechs Beine verfügen. Doch auch diese armen Tierchen wären wahrscheinlich ein Fall für Amnesty International. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass hier irgendwer artgerecht gehalten wird.
Eines der kleinen Tierchen, das mich spontan an ein lustiges mexikanisches Lied, gesungen von einem gewissen Speedy Gonzales, erinnert und in unseren Gefilden freundlich als gemeine Küchenschabe bezeichnet wird, klebt platt gedrückt an der Decke. Da das ziemlich unappetitlich aussieht, hat Christoph in liebevoller Kleinarbeit einen Smiley um das Insekt gemalt. Der Körper bildet die Nase. Christoph weiß nicht, dass ein echter Smiley keine Nase hat. Vor einer gründlichen Renovierung wird hier sicherlich niemand einziehen.