Читать книгу Entschuldigung? Ich bräuchte mal Ihr Kind! - Simon Bartsch - Страница 7
ОглавлениеDie Suche
Glaubt man meinem drogensüchtigen Bruder, gibt es an die Millionen Möglichkeiten, Frauen kennenzulernen. Um seine waghalsige These zu untermauern, hat er mir auch ein paar dieser Möglichkeiten genannt. Man könne sich zum Beispiel als Heimwerker verkleiden und bei einer Frau in durchsichtigem Seidennachthemd klingeln. Super Idee. Oder in eine Waschstraße fahren und die Tankfrau, die sich mit nassen Schwämmen einreibt, anquatschen. Jawoll. Ich bin mir nicht sicher, ob er denkt, die Pornos, die er sich massenweise anschaut, entsprächen der Realität. Sich Tipps von einem Menschen zu holen, der seine sexuelle Erfahrung einzig in einschlägigen Bordellen oder alleine unter der Decke gesammelt hat, ist sicherlich nicht die beste Idee. Mal ganz abgesehen davon ist meine Erfolgsquote bei Frauen grundsätzlich gar nicht schlecht. Allerdings haben sich die Suchkriterien ein wenig geändert. Seit der Trennung von Anne, die mittlerweile drei Wochen her ist, suche ich nicht nach Liebschaften, sondern nach einer ernsthaften Beziehung. Ich könnte mir vorstellen, dass für Anne das Thema „Beziehung mit dem mutigen Marc“ durch ist. Also muss ich mich neu orientieren. Das hat einen einfachen Grund: Die Zahl unter dem Strich auf meinem Konto nimmt existenzbedrohende Formen an. Ich habe mir wirklich – wenn auch nur kurze – Gedanken gemacht, wo ich beruflich unterkommen kann. Aber ein Büro-Job passt einfach nicht zu mir und als Kellner in einer Kneipe verdiene ich nicht ausreichend. Da schwebt mir schon ein etwas lukrativerer Job vor. Allerdings weist mein Curriculum Vitae erschreckende Lücken auf. Meine Mutter hat mir den Rat gegeben, etwas zu machen, das ich richtig gut kann. Tja … nur was kann ich richtig gut? Und dann ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen. Warum nennen meine Freunde mich noch gleich den Stecher? Na klar . Das ist die Lösung. Erst der Spaß, dann das Vergnügen und schließlich die BabyPrämie meiner Oma. Von 100.000 Euro könnte ich sicherlich ein paar Monate gut leben. Am besten wäre natürlich eine reiche Frau, die mir meine Kurztrips nach Malle spendiert. Nur woher nehmen, wenn nicht stehlen? Ich habe schon verschiedene Möglichkeiten in Betracht gezogen und in die Tat umgesetzt. Am vergangenen Wochenende habe ich tatsächlich an einem Speed-Dating teilgenommen. Es hat sich sehr schnell herausgestellt, dass die Worte „Animateur“ und „reihenweise Frauen“ aneinandergereiht in einem Satz nicht wirklich gut ankommen. Zu dem Wort „flachlegen“ bin ich gar nicht mehr gekommen. Überhaupt ist die Themenwahl bei dieser Art von Kennenlernen nicht ganz so einfach. „Frauenjagd“ sollte man zumindest nicht als Hobby angeben und mit der Anzahl der Liebschaften empfiehlt es sich auch nicht zu prahlen. Überhaupt finde ich, muss das Prinzip dieses Speed-Datings überdacht werden. In der kurzen Zeit, die man hat, ist es schwer, den Mädels meine durchaus imposante Lebensgeschichte zu erzählen. Mich wundert es, dass sie gar nichts von sich preisgeben wollen. Mal ganz abgesehen davon haben mich von den acht anwesenden Frauen maximal zwei sexuell angesprochen.
Christoph hat mich schließlich auf die Idee gebracht, mich im Internet bei einer Single-Börse anzumelden. Das ist mir zwar peinlich, doch in der Not frisst der Teufel bekanntlich Fliegen. Normalerweise ist es nicht ganz ungefährlich, empfohlene Internet-Seiten meines Bruders ohne Sicherheitsvorkehrungen zu öffnen. Doch zu meiner Überraschung öffnen sich weder Pop-ups von in die Jahre gekommenen, sexgeilen Ludern noch von irgendwelchen Glücksspielen. Ich wäge noch einmal die Not gegen die Peinlichkeit ab und die Not gewinnt. Deutlich. Aus Scham melde ich mich nicht unter meinem richtigen Namen an. Es könnten sich hier schließlich Menschen aufhalten, die ich ebenfalls kenne. „John29“ erscheint mir ein Supername. Jetzt soll ich ein Foto hochladen. Da ich mich für mein Aussehen nicht schämen muss und auch eine Chance bei den Mädels haben will, lade ich ein Foto vom letzten Sommerurlaub hoch. Als das Bild endlich angekommen ist, will ich eigentlich auf Brautschau gehen, als mein Plan jäh unterbrochen wird. Ich soll noch verschiedene andere Dinge angeben, die angeblich die Chance erhöhen, einen passenden Partner zu finden. Als wäre mein Foto nicht ausreichend genug. Die Angaben über mein Aussehen fallen mir relativ leicht. Lügen muss ich jedenfalls nicht. Gut, bei der Größe übertreibe ich ein wenig, aber alles in allem stimmen meine Angaben. Jetzt soll ich meinen Beruf angeben. Nicht leicht. Was könnte Frauen am meisten beeindrucken? Pilot und Arzt kämen bestimmt geil, gibt aber jeder Dritte an. Irgendwo in der Wohnung höre ich Christoph lachen oder weinen. Das schluchzende Geräusch kommt näher.
„Ich bin ausgerutscht“, sagt er, als er plötzlich in der Tür steht. Mit seiner vorgeschobenen Unterlippe könnte er einem Schaufelbagger locker Konkurrenz machen.
„Gut“, sage ich genervt. „Und jetzt?“
„Häh?“, fragt er verstört. Die Tränen trocknen langsam.
„Christoph, du bist 25 Jahre alt. Soll ich dir jetzt ein SchlümpfePflaster auf dein Knie kleben?“
Ich sehe, wie er darüber nachdenkt. Dann reibt sich Christoph verwundert die Knie. Schließlich schaut er mich ungläubig an und verlässt enttäuscht mein Zimmer. Aus voller Überzeugung und ohne wirklich zu schwindeln, trage ich „Kindergärtner“ in mein Profil ein. Das hat noch einen netten Begleiteffekt. Ich denke, so nimmt man mir eine gewisse Affinität zu Kindern eher ab. Eine alleinerziehende Mutter würde mir zumindest die nervige Schwangerschaft ersparen. Dementsprechend trage ich unter dem Punkt „Interessiert an: „Kleine Jungs“ ein. (Ein Mädchen kommt mir definitiv nicht in die Tüte. Puppen? Nein danke. Und wenn sie in die Pubertät kommt, muss ich ihren Liebschaften hinterherschnüffeln? No chance.)
Im Folgenden versuche ich, meinen Beruf mit einigen Angaben zu meinen Hobbies und Gewohnheiten zu untermalen. Dabei denke ich an verschiedene Situationen, die ich mit Christoph erlebt habe. So flunkere ich nur wenig. Ich halte es zudem für besonders lustig, ein Bild von Christoph hochzuladen. Etwas seltsam räkelt er sich, ausschließlich mit einer weißen altmodischen Männerunterhose mit Eingriff bekleidet, auf der Couch. Als Bildunterschrift wähle ich die Worte „Mein ältester“. Jede Frau mit einem Funken Humor muss sich doch auf diese Anzeige melden. In der Nähe höre ich Christoph kichern. Er hat sich wieder beruhigt. Vermutlich schaut er sich gerade Bilder von nackten Frauen an, darüber gerät selbst sein Ausrutscher in Vergessenheit. Als ich fertig bin, darf ich noch immer nicht auf „Frauenjagd“ gehen. Zumindest nur eingeschränkt. Um mir die anderen Profile anschauen zu können, soll ich 69 Euro überweisen und erhalte dafür im Gegenzug eine dreimonatige GoldMitgliedschaft. What the fuck ist eine Gold-Mitgliedschaft? Den Teufel werde ich tun. Ohne kann ich mich jedoch ausschließlich mit meinem eigenen Profil beschäftigen. So toll ich bei den Frauen auch ankommen mag, selbstverliebt bin ich nun wirklich nicht. Oder doch? Treffe ich meine Traumfrau, lohnt es sich ja vielleicht. Also gebe ich meine Kreditkartennummer ein und starte endlich die Suche. Schon nach wenigen Minuten will ich das Unterfangen wieder einstellen. Die meisten Frauen sind mir ein wenig zu schwer. Geht man davon aus, dass sie ihre Angaben ebenfalls ein wenig geschönt haben, sind sie mir sogar viel zu schwer.
Ein kleines Brief-Symbol leuchtet auf. In meiner „In-Box“ befindet sich die erste Nachricht. Ich bin ein wenig aufgeregt. Neugierig öffne ich die Mail. Sie heißt Ukalele und ist angeblich 30 Jahre alt. Wer heißt schon Ukalele, frage ich mich, blicke aber trotzdem neugierig auf ihr Foto. Ukalele ist eine deutlich ältere vollbusige Frau. Auf den ersten Blick würde ich sie nicht als Zentraleuropäerin einschätzen. Eher Zentralafrikanerin. Ich lese ihren Brief: „Ukalele mag große Schwanz!“ Na klasse.
Wieder höre ich Christoph kichern. Für einen Moment glaube ich, er gibt sich als Ukalele aus. Der Name könnte durchaus seinem schrägen Hirn entsprungen sein. Aber wie soll er an so ein Foto gekommen sein. Nein, für so einen Spaß ist Christoph definitiv zu hohl. In meiner Not chatte ich nahezu den gesamten Nachmittag mit Ukalele. Ich versuche es zumindest. Ihr Deutsch ist wirklich schlecht und mittlerweile hat sie mir zum 19. Mal ihre Vorliebe für große Schwänze gestanden. Ich würde sie sicherlich nicht enttäuschen. Innerlich freunde ich mich schon mit dem Gedanken an, einen schwarzen dicken Jungen mit großem Gemächt durch den Park zu führen. Ich weiß allerdings nicht genau, wie mein etwas konservativer Vater auf die Pigmentierung meiner Zukünftigen und unseres Filius reagieren würde. Da ich allerdings nicht wirklich auf „große“ Frauen stehe, wird es ohnehin nicht zu einer Vorführung meines besten Stückes kommen. Am frühen Abend meldet sich tatsächlich eine weitere Person. Sie heißt Yvonne, ist 34 Jahre alt und kommt ganz aus der Nähe. Ich bin beruhigt, dass sie mir nicht sofort ihre sexuellen Vorlieben auf die Nase bindet. Noch nicht. Yvonne will sich mit mir treffen. Schon morgen. Ich bin einverstanden, denn heute Abend will ich mit Jens auf eine Single-Party gehen. Erfreulicherweise gibt auch Yvonne an, Kinder zu mögen. Das ist ja schon mal eine gute Basis.
„It’s Party-Time. Yeah“, schreit Christoph, als Jens mich abholen kommt. Christoph trägt eine Trucker-Kappe, hat sich aus einer Büroklammer einen Ohrring gebastelt und eine leuchtend bunte Sonnenbrille verdeckt seine Augen. Ich bin mir nicht sicher, wo er diesen Modetrend her hat. Vor allem weiß ich nicht, wie er auf die Idee kommt, wir würden ihn mitnehmen.
„Christoph, irgendwer muss doch hier bleiben und die Pflanzen gießen“, schwindle ich unglaublich kreativ. Christoph lässt sich nur kurz aus der Ruhe bringen, dann lacht er mich an.
„Wir haben gar keine Pflanzen“, stellt er stolz fest. Mein Bruder ist erschreckend schlau. Er rennt in die Küche und kommt mit einem gelben Regenmantel bewaffnet zurück. Vielleicht doch nicht so schlau.
„Du willst nicht in diesem Mantel mitkommen?“, frage ich entsetzt. Christoph zieht eine Augenbraue hoch und nickt. Das soll vermutlich „doch“ heißen. Ich drehe mich entsetzt zu Jens. Der lächelt nur.
„Psssst“, höre ich hinter mir.
„Psssst“, wiederholt Christoph. Also gut, denke ich mir und tu’ ihm den Gefallen.
„Was?“, frage ich genervt und blicke ihn an. Er legt den Zeigefinger auf die Lippen und zieht dieses Mal beide Augenbrauen hoch. Ich bin überrascht, wie gut er seine Gesichtszüge unter Kontrolle hat. Mit einer schnellen Bewegung öffnet er den gelben Mantel. Ich atme tief durch, als ich sehe, dass er etwas unter dem Kleidungsstück trägt.
„Guck mal“, fordert er mich auf und lockt mich mit seinem Zeigefinger. Ich will nicht wissen, was er mir zeigen will. Doch ich bin ja ein guter Bruder und tue wie mir geheißen. Christoph zieht den Mantel aus. Auf seinen Rücken hat er einen Rucksack geschnallt. Ein dünner Schlauch führt aus dem knallroten Textil an seinem Hals vorbei.
„Das ist ein Rucksack“, sagt er.
„Das sehe ich“, antworte ich.
„Psssst“, wiederholt er und legt erneut den Zeigefinger auf die Lippen.
„Und?“, will ich genervt wissen.
„Da ist Wodka Lemon drin“, sagt er verschwörerisch. Ich blicke ihn etwas verstört an.
„In einer Plastiktüte?“, frage ich.
„Nein, in dem Rucksack. Sonst fällt es doch auf.“ Christoph schaut mich verständnislos an. Richtig, ein Rucksack unter dem gelben Mantel ist überhaupt nicht auffällig.
„Dir ist aber schon klar, dass der Rucksack nicht wasserdicht ist“, sage ich und schaue auf die Pfütze, die sich bereits unter seinen Füßen gebildet hat. Wieder blickt er mich verständnislos an.
„Mensch, Marc, deswegen trage ich doch den Regenmantel. Ist doch klar“, erklärt er mir.
Ich bin von der Party positiv überrascht. Es ist nicht die trostlose Veranstaltung, die ich erwartet hatte. Eigentlich hatte ich mit vielen gescheiterten Existenzen gerechnet, es laufen jedoch überraschend viele hübsche Menschen herum. An einem Aufkleber auf der Brust erkennt man, ob eine Person Single ist oder nicht. Das hat den Vorteil, dass ich den Tanten völlig ungeniert auf die Titten starren kann. Der Großteil trägt keinen Aufkleber. Ich auch nicht. Ist mir irgendwie peinlich. Jens und ich stehen an der Theke, checken die Lage und bestellen ab und zu Longdrinks. Christoph ist nicht dabei. Zu aller Überraschung ist er mit dem tropfenden Rucksack nicht am Türsteher vorbeigekommen. Hin und wieder prosten wir fremden Frauen zu, hin und wieder prosten sie zurück. Nach einer guten Stunde nehme ich all meinen Mut zusammen und quatsche eine Frau an. Die „918“. Ihren Namen habe ich nach zwei Sekunden wieder vergessen. Vielleicht nicht die beste Basis für eine ernsthafte Beziehung.
„Wie heißt Ihre Frau noch gleich?“
„Äh … Irgendwas mit 9 …?“, stelle ich mir den Dialog auf einem zukünftigen Geschäftsessen vor.
Sie ist allerdings so süß, dass ich momentan nicht an eine Beziehung denken mag. Eher an ein einsames Hotelzimmer oder an die Besenkammer. „918“ reicht mir als Name. Ich gebe ihr den einen oder anderen Longdrink aus und erzähle ihr von meinem Dasein als Pilot. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wovon ich spreche. Sie offenbar auch nicht. Sie lächelt. Als ich sie nach der Besenkammer frage, lacht sie und nickt ganz plötzlich. Ich bin positiv überrascht. Vielleicht wird ja sogar mehr aus uns beiden. Nach erster Begutachtung erscheint mir ihr Becken als sehr gebärfreudig. Der Abend nimmt sehr früh eine sehr positive Wendung. Ich drehe mich zu Jens und berichte ihm von meinem Vorhaben, und dass er nicht auf mich warten solle. Als ich mich zurückdrehe, steht ein Mann hinter der süßen Kleinen. Er trägt ganz offensichtlich eine falsche Brille und auch Haare und Nase scheinen nicht echt zu sein.
„Hallo“, sagt er mit tiefer Stimme zu der Kleinen. Die Stimme kommt mir beängstigend bekannt vor. Habe ich Karneval verpasst? Wir haben September, also eher nein. Aus einer viel zu engen Jeansjacke zieht der Mann seinen Studentenausweis.
„Kriminalpolizei Köln. Mein Name ist Kasulke, Liebesinspektor Kasulke. Ich würde gerne Ihren Tatort inspizieren“, sagt er, streichelt über den Herzaufkleber auf ihrer Brust und lächelt das Mädchen an. Mit einem gezielten Schlag in die Magengrube raubt die Kleine meinem Bruder sämtliche Luft. Liebesinspektor Kasulke hustet. Als er mich anraunzt, ich sei sein Bruder und solle ihm helfen, verschwindet die Kleine ohne ein weiteres Wort zu sagen. Ich werfe Christoph einen bösen Blick zu. Obwohl ich unglaublich sauer bin, schätzt er meinen Gesichtsausdruck offensichtlich komplett falsch ein.
„Alles eine Frage der Tarnung“, lächelt er mir zu, tippt sich mit dem Zeigefinger gegen die falsche Brille und grinst. Just in diesem Moment kehrt das Mädchen mitsamt zwei gut gebauten Türstehern zurück. Christoph reißt sich die Brille von der Nase und läuft los. Er ist unglaublich flink. Auf recht unkonventionelle Weise. Ich bin in diesem Moment erschreckend langsam. Zumindest haben die Türsteher kein Problem, mich ziemlich unsanft aus dem Gebäude zu begleiten. Auf dem Weg hinaus begegne ich nicht nur meiner Stalkerin Annette, viel schlimmer ist, dass auch Anne mich entsetzt anblickt, als ich den Boden vor der Disco küsse.
Seit langer Zeit frühstücke ich mal, ohne unter schlimmen Kopfschmerzen zu leiden. Der frühe Abgang am gestrigen Abend hat also auch etwas Gutes. Ich habe die Nacht noch mit Yvonne gechattet. Sie scheint sehr interessiert an mir zu sein. Auf jeden Fall stellt sie mir viele Fragen. Meine Idee, mich als Kindergärtner auszugeben, hat erstaunlich gut funktioniert, ein Großteil ihrer Fragen bezieht sich direkt auf meinen Job. Vermutlich macht sie auch etwas in diese Richtung. Ich werde sie irgendwann fragen. Vielleicht. Christoph ist jedenfalls nicht viel später nach Hause gekommen. Laut eigener Aussage habe er die Party ätzend gefunden. Vermutlich wird er ebenfalls rausgeflogen sein. Dafür spricht zumindest der lila Schatten unter seinem rechten Auge. Ansonsten ist er leider auch quietschfidel. Schon vor dem Frühstück hat er mir seinen neusten Plan offenbart, wie ich am besten an eine neue Freundin komme. Ein Ausflug. Er sagt, er habe bereits alles in die Wege geleitet und ich solle ihm doch mal vertrauen. Da ich ihn nun seit 25 Jahren gut kenne, ist aber genau das das Problem. Ich kann ihm nicht vertrauen.
Nach ewigem Hin und Her und allen Befürchtungen zum Trotz, lasse ich mich auf den Ausflug ein. Christoph ist schon ganz aufgeregt. Den ganzen Morgen läuft er wie verrückt durch die Wohnung. Vermutlich ist er auf Speed oder etwas Ähnlichem. Hin und wieder kommt er in die Küche und zeigt mir willkürlich Gegenstände, die er in der Wohnung gefunden hat. Einen Besenstiel, eine Gießkanne, einen Teppichklopfer. Mein Gott, wo hat er den denn her? Ob er mir irgendetwas sagen will? Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Um halb zehn steht er lachend vor mir.
„Es geht los“, sagt er. „Bist du auch schon so aufgeregt?“, fragt er mich.
„Nein.“ Mehr kommt mir gerade nicht über die Lippen. Der rote Rucksack vom Vorabend scheint ihn ebenfalls zu begleiten. Immerhin tropft er dieses Mal nicht. Wenige Minuten später verlassen wir gemeinsam das Haus. Christoph führt mich zu einem kleinen Platz, an dem abends Taxen auf Kundschaft warten. Tagsüber halten hier verschiedene Busse. Bislang dachte ich eigentlich, dass diese Fahrzeuge irgendwo in den Ostblock aufbrechen. Will Christoph mit mir nach Polen auswandern? Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Nach und nach sammeln sich verschiedene Menschen um uns herum. Nach meiner ersten Einschätzung sind wenig Polen dabei. Das beruhigt. Allerdings nur kurz, denn es stehen einige Frauen mit Kopftüchern um uns herum. Sie sehen orientalisch aus. Ich sehe mich schon in einem Ausbildungslager für Terroristen wieder. Nach einer halben Stunde Wartezeit fährt ein Bus vor. Als ich die Aufschrift eines Freizeitparks lese, atme ich erleichtert aus. Ich bin von Christophs Einfall positiv überrascht. Als sich die Türen öffnen, drängelt sich mein 25-jähriger Bruder an allen Kindern vorbei und betritt als Erster den Bus. „Wegen der besseren Eintrittskarten“, erklärt er mir, als das Fahrzeug schließlich losfährt. Der Freizeitpark bringt tatsächlich Abwechslung. Allerdings nicht nur positive. Ich muss gestehen, ein paar Mal bin ich kurz davor, Christoph in eins der Tiergehege zu werfen, die sich ebenfalls in diesem Park befinden. Bereits nach zehn Minuten fleht er mich an, ihm ein Eis zu kaufen. Er gibt mir sogar Geld. An einem Pinguin-Gehege bleibt er abrupt stehen.
„Sind sie nicht süß?“, fragt er mich. Ich muss ihm Recht geben. Diese Pinguine haben tatsächlich etwas Süßes. Zumindest einige.
„Schau mal“, ruft Christoph plötzlich. „Der da vorne winkt mir“, fügt er grunzend hinzu und zeigt auf einen besonders hässlichen Pinguin. Ich blicke mich um. Der Pinguin winkt Christoph mit großer Sicherheit nicht zu. Ich habe eher den Eindruck, er leide unter einem epileptischen Anfall. Aber Christoph dieses Leiden zu erklären, ist verhältnismäßig schwer.
„Was meinst du, was der kostet?“, fragt er mich. Ich gucke ihn verwundert an. „Na, jetzt tu nicht so“, sagt er. „Da steht kein Preisschild dran.“
„Wir befinden uns auch nicht im Supermarkt. Ich glaube nicht, dass du hier einen Pinguin kaufen kannst.“
„Aber der ist doch so süß“, sagt er und lächelt ganz verliebt. Zum Glück kommt gerade ein Tierpfleger vorbei, den er fragen kann. Als dieser den Kopf schüttelt, ist Christoph niedergeschlagen. Erst als ich ihm eine Zuckerwatte ausgebe, scheint er sich wieder zu beruhigen. Er nimmt die Zuckerwatte in die rechte Hand und starrt sie ungläubig an. Dann wackelt er mit den Hüften und gibt eine Elvis-Presley-Imitation. Zumindest meine ich, das an dem Lied zu erkennen. Doch das ist nur der Auftakt einer ganzen Show. Mit einer Waffel dreht er sich ganz langsam im Kreis und summt ein unmelodisches Lied. Um ihn abzulenken, gehe ich mit ihm auf die Achterbahn. Tatsächlich kommt er hier ein wenig zur Ruhe. Zumindest phasenweise. Bei den steilen und rasanten Passagen schreit er natürlich wie ein hysterisches vorpubertäres Mädchen. Schweißgebadet verlassen wir die Achterbahn. Ich frage mich, was meine Eltern bloß falsch gemacht haben. Christoph schnappt nach Luft und fasst sich an die Brust als wir einen kleinen Asphaltweg lang gehen. Ich gönne ihm eine kleine Pause und wir setzen uns auf eine alte Holzbank. Endlich bekomme ich den Inhalt seines Rucksacks zu sehen, bin darüber aber nicht erfreut. Neben zwei Äpfeln, einer trockenen Scheibe Schwarzbrot, einem Playstation-Controller und einem Kompass, hat er auch einen dicken Hammer und einen Fahrradhelm dabei. Ich gucke ihn ungläubig an. Er grinst nur.
„Wie MacGyver“, sagt er. Aus einem Seitenfach zieht er schließlich ein kleines Plastiktütchen und ein Blättchen. Bevor ich ihn auf die Kinder in direkter Nähe aufmerksam gemacht habe, hat er seine Tüte schon fertig gebaut, angezündet und zieht genüsslich dran. In manchen Situationen ist er überraschend schnell.
„Vermutlich hat MacGyver nicht gekifft. Zumindest nicht vor Kindern“, stelle ich trocken fest und suche den Park mit einem ängstlichen Blick nach einem Sicherheitsmann ab.
„Weißt du’s?“, fragt er mich und inhaliert eine weitere Fuhre THC. Nein, ich weiß es nicht. Ich muss zugeben, dass Christoph bekifft ein ganz angenehmer Konsorte ist. Er wirkt viel entspannter und plappert nicht ununterbrochen irgendeinen Mist. Überhaupt ist der Nachmittag nun viel ruhiger.
Einen wahren Höhepunkt erfährt Christoph in einer kleinen Bummelbahn, die quer durch den Park fährt. Aus Angst vor einer rasanten Fahrt hat er sich den Fahrradhelm aufgezogen. Ich habe mich drei Reihen hinter ihn gesetzt, was ihm zum Glück noch nicht aufgefallen ist. Bei jedem Schlagloch schreit er kurz auf und kichert anschließend hysterisch. Nur als wir erneut an dem Pinguin-Gehege vorbeifahren, blickt er noch einmal wehmütig zurück. Dennoch hat er offensichtlich eine neue Leidenschaft entdeckt. Jedenfalls bleibt er an der Endstation sitzen und bittet mich um eine weitere Fahrt. Da ich nicht vor Langeweile sterben möchte, er aber nicht von dieser Idee abzubringen ist, muss er wohl oder übel alleine fahren. Nachdem ich ihn siebenmal gefragt habe, ob er wisse, wo der Bus stehe und wann dieser abfahre, überlasse ich ihn der Menschheit. Ein spontanes Gefühl von Mitleid breitet sich in mir aus, als ich mir die anderen Zugteilnehmer anschaue. Ich suche mir ein ruhiges Restaurant. Ich versuche es zumindest. Ein ruhiges Restaurant in einem Freizeitpark ist jedoch so wahrscheinlich wie ein abgeschlossener Studiengang meines Bruders. Als ich gerade in meinen, in der Mikrowelle zubereiteten, Hamburger beißen will, steht ein hässlicher Junge vor mir und popelt in der Nase. Und wieder einmal wird mir bewusst, wie sehr ich Kinder hasse. Und zwar sehr! Der Junge starrt auf meinen Hamburger und leckt sich die Lippen. Wäre er nicht so dick und würde ich Kinder nicht dermaßen hassen, würde ich ihm vielleicht etwas abgeben. So grinse ich den Jungen an und lecke mit ausgestreckter Zunge über den Hamburger. Der Junge ist für seine zehn Jahre überraschend schlagfertig. Er popelt noch ein bisschen tiefer, ein kleiner grüner Tropfen hängt ihm aus der Nase. Schließlich kommt er ein paar Schritte näher, zieht die Nase hoch, nimmt mir den Hamburger aus der Hand und leckt ebenfalls drüber. Ganz spontan überlege ich mir, dass die Zunge des Jungen gut und gerne Bekanntschaft mit meinem Messer machen kann. So ein kleines Piercing würde dem hässlichen Jungen gut stehen. Ich belasse es bei dem Impuls und wäge noch einmal ab, ob ein Kind die Prämie wirklich wert ist. Dann denke ich an den Q5 aus dem Parkhaus und nicke.
Wenige Minuten später sitze ich genervt in dem bereits gut gefüllten Reisebus. Eine Doppelbank gibt es nicht mehr. Da Christoph noch nicht da ist, setze ich mich auf den Platz neben einer hübschen Blondine. Wieso ist Christoph eigentlich noch nicht da? Vielleicht war meine siebenfache Erinnerung doch nicht deutlich genug. Genervt blicke ich erneut auf meine Armbanduhr. Soll er doch hierbleiben, mir ist es egal.
„Hi, ich bin Marc“, quatsche ich die Blondine an. Sie lächelt. Eine Antwort gibt sie mir nicht.
„Willst du mir nicht deinen Namen sagen?“, hake ich nach. Sie lächelt erneut. Vermutlich spricht sie meine Sprache nicht. Oder sie will meine Sprache nicht sprechen. Aber dafür gibt es ja eigentlich keinen Grund.
„Komm schon“, fordere ich sie auf. Genau in diesem Moment startet der Motor. Ich blicke auf die Uhr, dann aus dem Fenster, von Christoph ist noch nichts zu sehen. Ich stehe also auf und gehe widerwillig zum Busfahrer. Eigentlich habe ich nichts dagegen, dass er den Bus verpasst. Das ist vermutlich für alle Beteiligten das Beste, doch ich bezweifle, dass er dann jemals nach Hause finden würde. Der Busfahrer ist verständlicherweise wenig erfreut, räumt meinem bekloppten Bruder aber noch genau fünf Minuten ein. Genau diese fünf Minuten benötigt Christoph allerdings auch. Zu meinem Erstaunen rennt er. Das ist aus zweifacher Sicht überraschend. Zum einen wusste ich bis gerade nicht, dass Christoph überhaupt rennen kann, zum anderen glaube ich nicht, dass er weiß, dass er zu spät ist. Er hat einen sehr eigenwilligen Laufstil, der sehr unkoordiniert, aber überraschend schnell ist. Alle paar Sekunden dreht er sich nervös um. Flüchtet er? Zutrauen würde ich es ihm. Vor Wasser triefend springt er in den Bus.
„Fahr schon!“, brüllt er den Busfahrer aggressiv an. Dieser ist so überrascht, dass er ohne weitere Nachfrage den Bus in Bewegung setzt. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, er war schwimmen. Er schaut sich noch immer um. Klitschnass geht er den Gang entlang und flüstert etwas. Die hübsche Blondine soll nicht erfahren, dass es sich bei dem gestörten Menschen um meinen Bruder handelt. Also drehe ich mich demonstrativ weg. Doch Christoph hat gar keine Augen für mich. Triefend setzt er sich auf einen Platz auf der Rückbank. Ein paar Minuten später habe ich ihn schon wieder vergessen, als ein Raunen den Bus durchzieht. Dann ein Kichern. Plötzlich watschelt ein zuckender Pinguin an mir vorbei, gefolgt von einem durchnässten fluchenden Christoph.
Mit einer halben Stunde Verspätung treffe ich schließlich zur Verabredung mit Yvonne ein. Es war gar nicht so einfach, den Tierpflegern des Erlebnisparks Christophs Kopfkrankheit klarzumachen. Andererseits ist der Diebstahl eines Pinguins alles andere als der Norm entsprechend. Zu meiner Überraschung ist Yvonne tatsächlich noch da und auf mich noch nicht einmal sonderlich böse. Damit sammelt sie jetzt schon viele Pluspunkte. So eine unkomplizierte Frau ist mir noch nie untergekommen. Ich bin beeindruckt. Es entwickelt sich sehr schnell ein angenehmes Gespräch. Allerdings fragt mich Yvonne wieder über meinen Umgang mit Kindern aus. Langsam mache ich mir doch Sorgen. Zum einen, weil sie mir so gut gefällt, zum anderen ist ihre offensichtliche Vorliebe für Kinder etwas zu krass. Wenn sie heute mit den „Planungen“ beginnen will, bin ich auf ihrer Seite. Schließlich sieht sie nicht schlecht aus. Mit dem Kinder kriegen kann sie, wenn es nach mir ginge, aber gerne noch ein paar Jahre warten. So an die 60. Ich merke, dass mir das Thema nicht wirklich liegt und etwas zu Kopf steigt. Warum will sie wissen, ob ich auch schon mal Kinder mit zu mir nehme? Jetzt wird es langsam unangenehm. Sie fragt mich nach Fotos der Kinder. Irgendetwas stimmt hier nicht. Können Frauen auch pädophil sein?
Mit einem lauten Knall fliegt die Tür auf.
„Das ist er!“, schreit Christoph und zeigt auf mich. Er trägt noch immer die nassen Klamotten, aber darüber sollte ich mir keine Gedanken machen. Erschrocken springe ich auf. Yvonne legt mir ihre Hand auf die Schulter und einen Ausweis auf den Tisch.
„Wir haben einen anonymen Hinweis erhalten, dass Sie sich verstärkt für Kinder interessieren, Herr Wagner. Wir sollten uns vielleicht direkt auf dem Revier weiterunterhalten“, sagt Yvonne, die laut Ausweis in Wirklichkeit Oberkommissarin Brigitte Schaaf heißt. Mittlerweile finde ich sie nicht mehr so interessant. Ich bin mir nicht sicher, ob sie mir die Baby-Prämie als Erklärung abnehmen wird. Christoph lächelt selbstgefällig, als er wieder auf mich zeigt.
„Das ist er, dieser Pädophile!“, schreit er und grinst über beide Ohren. Von einem anonymen Hinweis zu sprechen, ist vielleicht minimal übertrieben.