Читать книгу Entschuldigung? Ich bräuchte mal Ihr Kind! - Simon Bartsch - Страница 6

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Das Aus

Es ist eine laue Nacht im Spätsommer oder Frühherbst. Was auch immer es für eine Nacht ist, sie ist zu warm. Viel zu warm. Wenn es nicht über Nacht eine Klimakatastrophe gegeben hat, muss es brennen, oder Christoph hat noch zu später Stunde einen Kamin installiert und ihn bereits in Betrieb genommen. Ich schiebe die Bettdecke zur Seite. Obwohl ich mir angewöhnt habe, nackt zu schlafen, ist mir nach wie vor unglaublich heiß. Ich weiß nicht so recht, ob ich vor Wärme wach geworden bin oder von der wilden Stöhn-Orgie im Nachbarzimmer. Nur langsam traue ich mich, die Augen zu öffnen. Die vergangenen Monate auf Mallorca haben mich vergessen lassen, wie gestört mein Bruder ist und zu was er fähig ist. Ein Kamin in meinem Schlafzimmer wäre keine wirkliche Überraschung. Selbst ein Elefant mitsamt dem dazugehörigen Wanderzirkus würde mich nicht wirklich wundern. Langsam öffne ich die Augen. Ein Smiley mit platt gedrückter Kakerlakennase lächelt mich an. Ja, ich lebe wieder in meiner alten Wohnung. Gemeinsam mit Christoph. Die Wärme hat etwas nachgelassen. Dafür kommt mir das Gestöhne unglaublich nahe vor. Eine rhythmische Bewegung zu meiner Rechten lässt mich endgültig wach werden. Ich reibe mir verwundert die Augen. Christoph liegt neben mir und schaut gebannt auf den Fernseher. Seine filzigen Dreadlocks bewegen sich ganz langsam hin und her. Ich folge seinem Blick, ohne der rhythmischen Bewegung weitere Beachtung zu schenken. Als ich das wilde Treiben auf dem Fernseher verstehe, wird mir bewusst, dass meine Nachlässigkeit ein Fehler war. Ich schaue auf den Bildschirm, dann auf Christoph und schließlich auf die rhythmische Bewegung, die sich zum Glück unter meiner Bettdecke abspielt. Christoph lässt sich nicht beeindrucken. Er macht fröhlich weiter. Schließlich registriert er meinen skeptischen Blick doch. Er schaut mir in die Augen, lächelt mich an, zieht die Augenbrauen drei Mal hoch und widmet sich wieder seinem „Job“.

„Was machst du da?“, schreie ich ihn an.

„Wonach sieht es denn aus?“, schreit er wütend zurück. Mein Atem stockt. Ich bin sprachlos. Würde ich mich nicht gerade unglaublich vor ihm ekeln, würde ich ihn verprügeln. Er scheint meine Ratlosigkeit wahrzunehmen.

„Onanieren“, sagt er kurz angebunden und zieht wieder dreimal die Augenbrauen hoch. „Versuchs doch auch mal“, fordert er mich auf. Ein Sabberfaden bahnt sich seinen Weg aus dem Mund in Richtung Bettdecke. Meine Wut wird größer.

„Wieso in Gottes Namen machst du das hier?“, frage ich deutlich zu laut. Christoph bricht sein Unterfangen abrupt ab. Er wirkt verärgert.

„Mann, wie soll ich mich so konzentrieren?“

„Christoph! Wieso in Gottes Namen machst du das nicht bei dir?“, frage ich jetzt leiser. Mein werter Bruder scheint sich wieder ein wenig beruhigt zu haben. Der Zorn in seinen Augen ist verschwunden. Er lächelt.

„Das ist doch eklig“, grinst er. „Stell dir vor, da tropft was auf meine Decke“, fügt er hinzu und schüttelt den Kopf. Recht hat er und ich denke kurz darüber nach, seinen Kopf ebenfalls zu schütteln. Ich überlege, ihn vielleicht neben die Schabe zu kleben. „Außerdem hast du einen größeren Fernseher. Da kann man die Details besser erkennen“, fährt er fort und greift wieder unter die Decke. Eigentlich bin ich ganz froh, dass seine rechte Hand dort wieder verschwindet. Ich blicke auf den Fernseher und sehe sofort, was Christoph mit den besonderen Details meint. Da mich ein großer Penis aber nicht besonders antörnt, schaue ich wieder auf Christoph.

„Du bist ekelhaft!“

„Wir sind Brüder“, verteidigt er sich knapp, ohne sich stören zu lassen.

„Seit wann bist du hier?“, frage ich. Diesmal lässt Christoph verärgert von seinem Vorhaben ab.

„Ich habe doch gesagt, ich hole uns ein paar Videos aus der Videothek. Ich kann nichts dafür, dass du bei Shrek eingeschlafen bist und die Klassiker verpasst hast!“

„Klassiker? Welche Klassiker?“

Jedes Böckchen stößt ein Röckchen, Liebesgrüße aus der Lederhose, …“ Ich höre ihm am besten gar nicht mehr zu. Bevor ich noch weitere stupide Titel erfahre oder viel schlimmer: etwas seiner Körperflüssigkeiten abbekomme, verlasse ich das Bett. Wenn ich ihn mir so bei seinem „Hobby“ anschaue, kann man nur hoffen, dass er die Baby-Prämie wieder vergessen hat. So sollten ihn potentielle Kinder lieber nicht sehen. Die Wohnung sieht aus wie ein Saustall. Eigentlich hatte ich mir geschworen, diese Räume nie wieder zu betreten. Doch erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. Tatsächlich bin ich froh, die Wohnung noch nicht verkauft zu haben. Sonst hätte ich nun womöglich kein Dach über dem Kopf. Vor sieben Tagen von Mallorca wiedergekommen, seit drei Tagen Single und seit zwei Nächten Christophs WG-Bruder. Ich könnte kotzen! Dabei bin ich mir gar nicht sicher, was Anne letztlich dazu bewogen hat, mich vor die Tür zu setzen. Was auch immer es war, es ist besonders ärgerlich. Meine Wohnung kann ich mir nicht mehr lange leisten, zudem ist eine Hochzeit anberaumt, auf deren Kosten ich nun sitzen bleiben könnte.

Vier Tage zuvor

Es ist Wochenende. Unser erstes gemeinsames Wochenende seit meiner Rückkehr. Eigentlich hatte ich mich tatsächlich auf einen gemütlichen Wochenausklang mit meiner Freundin gefreut. Ein bisschen Fernsehen, ein wenig Kuscheln, ein bisschen, na gut, viel Sex. Daraus wird nichts. Anne hatte mir wohl schon vor einigen Wochen am Telefon erklärt, dass sie die Nacht mit ihren Freundinnen verbringen will. Jungesellinnenabschied. An diesen Termin kann ich mich nicht erinnern, doch das hat nichts zu bedeuten. Ich kann mich nur an wenige Aussagen meiner Freundin erinnern. Einzig ihr Wunsch nach Nachwuchs klingelt mir seltsam nachhaltend in den Ohren. Vorsichtshalber habe ich ihr hier und da eine ExtraPille untergejubelt. Man hört so oft von den arglistigen Täuschungen nachwuchswilliger Frauen. Trotz ihrer Abwesenheit werde ich an diesem Wochenende sexuell nicht leer ausgehen. Ich habe nämlich beim Einkaufen eine ehemalige Klassenkameradin getroffen. Lena. Zunächst habe ich sie nicht erkannt, denn sie hat sich ordentlich weiterentwickelt. Ihre Brüste sind unglaublich gewachsen und stehen damit in direkter Konkurrenz zu ihrer gigantischen Nase. Und die Brüste sind wirklich groß. Lena kenne ich noch aus der Grundschule. Wenn ich sie mir so angucke, würde ich eine chirurgische Vergrößerung nicht ausschließen. Allerdings an der Nase. Lena hat mich direkt auf meinen gezielten Mäppchenwurf in der zweiten Klasse angesprochen. Ich muss lächeln. Meine Wurfgenauigkeit scheint ihr schwer imponiert zu haben. Vielleicht auch mein unglaubliches Aussehen. Jedenfalls will sie sich heute Abend mit mir treffen. Mein Auge ist auf das Einschätzen der richtigen Körbchengröße perfekt geschult. 80D würde ich bei Lena schätzen. Aber diese Nase. Egal, denke ich mir, denn auch ihr Hintern ist gut in Form. Und das ist bekanntlich wichtiger als die Nase. Wie gewöhnlich spulen sich hinter meiner Stirn sämtliche Szenarien ab, wie dieser Abend „erfolgreich“ verlaufen kann. Auf Mallorca gäbe es Tausende Möglichkeiten. Am Strand, in der Disko, im Hotelzimmer, unter einer Palme, im Swimmingpool und so weiter. Da es seit meiner Ankunft ununterbrochen regnet und Anne mit unserem Auto den Ausflug zu ihrer Freundin angetreten ist und ich zudem in unserem Ort bekannt bin wie ein bunter Hund, ist die Auswahl hier ein wenig begrenzt. Der Spruch „bei mir oder bei dir“ ist zwar ein wenig plump, doch in diesem Fall vielleicht genau das Richtige. Bevor ich die Frage überhaupt stelle, macht mir Lena einen Strich durch die Rechnung.

„Wir müssen uns aber bei dir treffen. Meine Eltern sind zu Hause.“ Okay, sie ist mindestens 28 und wohnt noch zu Hause. Das ist zwar ein wenig komisch, schreckt mich aber nicht von einer gemeinsamen Nacht ab. Die Eltern werden wohl kaum dabei sein. Wobei ich nicht weiß, wie gut ihre Mutter aussieht. Ich schmeiße kurz meinen Prozessor an. Wir haben 14 Uhr. Anne ist am frühen Mittag gefahren und wird nicht vor vier Uhr in der Nacht zurück sein. Wenn Lena um 18 Uhr kommt, bleiben mir zehn Stunden Spaß. Das dürfte reichen. Ich gucke mich in dem Supermarkt nach Kondomen um, von Mallorca sind nicht viele übrig geblieben.

„Du hast doch keine Freundin, oder?“, fragt sie mich. Wie ich diese Frage hasse.

„Nein. Leider nicht“, antworte ich und lüge damit noch nicht mal wirklich, denn Anne ist genau genommen meine Verlobte. Zur Bestätigung setze ich mein unwiderstehliches Kevin-Costner-Lächeln auf. Es wirkt. Sie lächelt mich zufrieden an.

„Cool. Fremdgehen ist nämlich scheiße“, sagt sie und zwinkert mir zu. Ich muss mir ein Lächeln verkneifen. Wenn ich ehrlich bin, ist Fremdgehen ziemlich geil. Zumindest, wenn die Partnerin stimmt. Ein bisschen Abwechslung kann ja nicht schaden. In Lenas Welt gehen vermutlich nur die Männer fremd. Dass dabei eine Frau unwillkürlich mitspielt, ist ihr wohl gerade nicht bewusst. Ich lasse sie in ihrem Glauben und lächle sie an.

„Finde ich auch total doof“, sage ich zuckersüß. Jedoch auch mit einer gehörigen Portion Wehmut. Schließlich weiß ich nicht, ob ich nach meiner Hochzeit noch oft die Gelegenheit zu einem „Auswärtsspiel“ haben werde. Zum Glück habe ich mein Pokerface jahrelang trainiert. Lena ist begeistert. Ich nicht. Ich muss mich jetzt beeilen. Wir verabreden uns für acht. So habe ich zwei Stunden Zeit, sämtliche Anne-Spuren zu beseitigen. Da Anne nicht viel für frauentypischen Schnickschnack übrighat, dürfte das reichen.

Zurück in der Wohnung mache ich mich direkt an die Arbeit. Im CSI-Stil nehme ich mein Handy und fotografiere jedes Anne-Utensil aus verschiedenen Perspektiven. Anne hat zwar nicht mitbekommen, dass ich Annette einst drei Meter Luftlinie von ihrem Schlafplatz genommen habe, steht ihre Haarspray-Dose aber nicht exakt an dem Ort, an dem sie sie abgestellt hat, ist der ganze Spuk aufgeflogen. An ihr ist eine gute Kriminalistin verloren gegangen. Erst wenn alles genau fotografiert ist, kann ich ihre Gegenstände wegräumen. Mir bleibt gerade noch genug Zeit, mich kurz abzuduschen, bevor Lena klingelt. Sie hat sich nett parat gemacht und lächelt mich süß an. Das kann jedoch leider nicht über ihre große Nase hinwegtäuschen. Zum Glück bin ich an ihrem Gesicht weniger interessiert. Lena brabbelt etwas vor sich hin. Ich hör’ ihr gar nicht mehr zu. Ohne große Umschweife ziehe ich sie ins Schlafzimmer. Als ich die Bettdecke aufschlage, fällt mir Annes Nachthemdärmel auf. Er lugt unter ihrem Kissen hervor. Etwas umständlich lasse ich mich genau auf das Kissen fallen. Mit der linken Hand halte ich Lena, die rechte Hand pfriemelt das Nachthemd in die Ritze zwischen den beiden Matratzen. Entweder Lena denkt, ich kratze mich in der Kimme, oder sie hat es nicht gesehen. Sie sagt nichts, lässt sich auf mich fallen und der Spaß beginnt. Ich muss zugeben, Lena kennt einige gute Bewegungen. Ich bin so beeindruckt, dass ich mich zu einer kleinen Fotostrecke hinreißen lasse. Mein Handy liegt in unmittelbarer Nähe. Ich danke dem asiatischen Hersteller für die kleine unscheinbare Kamera, die er serienmäßig in das Gerät eingebaut hat. Noch während ich sie beglücke, schaue ich mir die ersten Bilder an. Ich nicke zufrieden. Die erste Runde mit Lena dauert vielleicht zehn Minuten. Ich habe mir abgewöhnt, auf die Uhr zu schauen. Als sie so vor mir sitzt und mich süß anlächelt, fällt mir ein langes blondes Haar auf, das sich von ihrem schwarzen Haupthaar quer über das Gesicht bis ans Kinn zieht. Das ist zwar optisch ganz nett, doch da das Haar definitiv zu einer anderen Frau gehört, streichle ich ihr gekonnt über die Wange. Wenige Minuten später werden die nächsten Runden eingeläutet.

Es ist stockdunkel, als ich aufwache. Instinktiv schaue ich auf die Uhr. Halb eins. Ich atme tief durch. Es hätte theoretisch auch schon halb fünf sein können. Aber dann wäre ich vermutlich von einem dumpfen Schrei meiner Freundin geweckt worden. Oder von einem dumpfen Gegenstand. Je nachdem. Was für ein grausamer Tod. Lena liegt noch neben mir. Was ich zwar nicht sehen kann, dafür aber höre. Diese unglaublich große Nase macht auch unglaublich laute Geräusche. Abgesehen davon, dass ich für heute genug Sex hatte, nervt mich dieses Röcheln unermesslich. Ich muss sie loswerden und zwar schnell. Zwar habe ich noch gute zwei Stunden, bis ich Annes Sachen wieder zurückräumen muss, dennoch nervt sie mich unglaublich. Also schreibe ich Jens eine SMS, er solle mich umgehend anrufen. Er müsse dringend ins Krankenhaus oder sonst was, soll er sagen. Ungeduldig starre ich auf mein Handy. Das Röcheln wird lauter. Ich denke kurz darüber nach, wie gut ein Daunenkissen wohl dämpfen kann. Die große Nase würde vermutlich schwere Kissenschäden verursachen. Auf dem Nachttisch erweckt eine kleine Metall-Wäscheklammer meine Aufmerksamkeit. Dazwischen hat Anne einige Postkarten geklemmt. Deko. Völlig überbewertet, aber in diesem Moment genau richtig. Gerade als ich mich zu dem Nachttisch hinüberbeuge, klingelt mein Handy.

„Endlich“, sage ich. „Mann, ich brauche eine richtig gute Ausrede. Du musst mein Alibi spielen“, füge ich selbstsicher hinzu.

„Wovon sprichst du überhaupt?“, fragt mich eine vertraute Stimme. Ich gebe zu, es wäre gar nicht so dumm gewesen, vor der Gesprächsannahme aufs Handy zu schauen. Jetzt gerate ich in arge Erklärungsnot.

„Anne“, sage ich und versuche, nicht überrascht zu klingen. Vergebens. Schweiß läuft mir den Rücken hinunter. Jetzt muss mein Hirn funktionieren. „Christoph sitzt im Wohnzimmer und will mit mir Nachtangeln gehen. Ich brauche dringend eine Ausrede. Du musst mir helfen“, lüge ich und lächle stolz über meine Kreativität. Dann stößt Lena einen weiteren unglaublichen Nasenlaut aus. So etwas habe ich noch nie gehört. Bevor Anne skeptisch wird, huste ich laut in den Hörer. Mit meiner linken Hand kralle ich das Kopfkissen und versuche, es Lena auf die Nase zu werfen. Leider muss ich feststellen, dass mein verfehlter Mäppchenwurf damals nicht einfach nur Pech war. Obwohl die Nase so unglaublich groß ist, verfehle ich sie um mehrere Zentimeter. Zum Glück durchbricht Anne die Stille.

„Sag ihm doch, du müsstest mich jetzt von der Bahn abholen“, schlägt Anne vor.

„Gute Idee“, sage ich und suche vergeblich ein weiteres Kissen.

„Schatz, ich wollte dir nur sagen, dass ich mich jetzt auf den Heimweg mache. Ich denke, ich bin in einer knappen Stunde zu Hause.“ Ich blicke auf meine Armbanduhr, dann auf Lena. Sämtliche Alarmglocken schrillen. Das wird eng. Manch ein Drehbuchautor mag staunen, ich bin ganz spontan auf den Filmtitel „Wie werde ich sie los, in zehn Minuten“ gekommen.

„Ich freu mich“, flüstere ich in den Hörer und lege auf. Lena schläft noch immer. Ich schüttele sie. Als sie nach dem zweiten Versuch noch immer röchelt wie Luke Skywalkers Vater, werde ich etwas grob und schlage ihren Kopf auf das Kissen. Das wirkt, führt aber unweigerlich zu Unannehmlichkeiten.

„Was soll das?“, schimpft sie und blickt mich schlaftrunken an.

„Was denn?“, frage ich scheinheilig, lächle und suche mit meinem Blick ganz unauffällig den Boden nach ihren Klamotten ab.

„Du hast meinen Kopf auf das Kissen geschlagen.“ Noch immer liegt in ihrem Blick eine große Portion Unglauben.

„Nein“, sage ich kackdreist. „Du musst geträumt haben.“ Mittlerweile habe ich begonnen, ihre Sachen zusammenzusuchen. Ich merke, dass ich ein bisschen nervös werde und nicht rational handele. Aber das ist egal. Lena war nett, muss aber nicht unbedingt wiederkommen.

„Du musst jetzt gehen“, sage ich ganz ruhig. Lena blickt mich skeptisch an.

„Wieso?“, fragt sie. „Du hast doch eine Freundin“, stellt sie dann fest. Die Feststellung einfach zu bejahen, wäre die einfachste Variante. Ich entscheide mich für die etwas kompliziertere. Schließlich war Lena nicht so schlecht. Wer weiß, was die Zukunft bringt, denke ich mir. „Nein“, sage ich und merke, dass meine Aussage etwas zynisch geklungen hat. Lena merkt das nicht. Sie klebt förmlich an meinen Lippen. „Iwo“, schon wieder ertappe ich mich beim Zynismus. „Fremdgehen finde ich echt doof“, schiebe ich hinterher und verkneife mir ein Lachen. Tatsächlich glaubt sie mir. Der Biss auf meine Lippen wird langsam schmerzhaft. „Meine Mutter hat gerade angerufen.“ Ich deute auf mein Handy, das neben dem Bett liegt. „Meine Oma ist im Krankenhaus“, fahre ich fort und greife mir mit einer Hand theatralisch ans Auge. Für diese Leistung habe ich einen Oscar verdient, zumindest einen Bambi. „Ihr geht es gar nicht gut. Es kann sein, dass es ihre letzte Nacht ist.“ Lena will mich in den Arm nehmen. Ich weiche ihr ein wenig zu schnell aus. „Tut mir leid, ich muss sofort los.“ Lena nickt verständnisvoll.

„Ich kann auch hier bleiben und auf dich warten“, schlägt sie vor.

„Nein“, sage ich entschieden. „Ich will lieber bei meinen Eltern bleiben.“ Etwas unbeholfen drücke ich Lena die Wäsche in die Hand und schaue demonstrativ auf meine Armbanduhr. Lena ist sauer, das sehe ich. Doch sie hat auch Mitleid. Mein Plan ist aufgegangen. Ich habe Lena gerade etwas unsanft aus der Tür geschoben, schon öffne ich die Bildergalerie meines Handys. Schließlich bleibt mir nicht wirklich viel Zeit. Die ersten Schnappschüsse lassen mich doch kurz innehalten. Lena hat eine Top-Figur und wenn ich mir die Bilder von ihrem Intimbereich so anschaue, fällt mir auf, dass ich mich nicht schlecht als Fotograf gemacht hätte. Als Fotograf für einschlägige Magazine. Schließlich kümmere ich mich doch noch um Annes Gegenstände. Ich habe sehr genau gearbeitet, sodass mir der Wiederaufbau nicht schwerfällt. An ihrem Haarspray wird sie jedenfalls nichts merken. Natürlich mache ich nicht den Fehler und krame den Staubsauger hervor. Ich bin lange genug in diesem „Geschäft“, um zu wissen, dass eine Reinigungsaktion meinerseits vor Anne unter keinen Umständen zu erklären wäre. Ich habe gerade Annes hässlichen Plüschelefanten auf dem Kopfkissen platziert, als meine Freundin den Schlüssel umdreht. Ich schalte den Fernseher ein und suche vergeblich eine Sendung, die Marc Wagner in den vergangenen Stunden gesehen haben könnte. Ich finde keine. Also entscheide ich mich für einen Musikkanal. Anne kommt direkt ins Schlafzimmer. Sie lächelt, als sie mich sieht.

„Hattest du einen schönen Abend?“, fragt sie. Ich gähne, um ihr zu symbolisieren, wie langweilig dieser war.

„Puh“, sagt sie und rümpft die Nase. „Hier stinkt es. Hast du Sport gemacht?“, fragt sie und fühlt mit der Hand über das Ergometer. Sie wartet meine Antwort glücklicherweise gar nicht ab und geht ins Badezimmer. Ein paar Minuten später kommt sie abgeschminkt zurück und drückt mir einen Kuss auf die Wange. Dann zieht sie die Bettdecke zur Seite und blickt sich suchend um.

„Was hast du heute gemacht?“, fragt sie mich. Eine einfache, aber gefährliche Frage. Jetzt heißt es einen kühlen Kopf bewahren.

„Bis Christoph gekommen ist, habe ich ein wenig Playstation gespielt“, lüge ich und gähne erneut. Anne sucht irgendwas. Das ist kein gutes Zeichen. Möglichweise gibt es einen Systemfehler. Sie blickt auf den Fernseher.

„Seit wann schaust du dir Musiksendungen an?“, fragt sie. Hat sie mich jetzt erwischt? Ahnt sie möglicherweise etwas?

„Da lief eben unser Lied. Habe ich zufällig gesehen.“ Anne grinst mich an. Ich weiß nicht genau, warum. Vielleicht weil wir bis genau zu diesem Zeitpunkt kein gemeinsames Lied hatten. In diesem Moment findet sie in der Bettritze ihr Nachthemd. Kopfschüttelnd zieht sie sich um.

Genüsslich trinke ich meine Cola leer. Ich lächele Anne an. Nicht, weil ich so unglaublich verliebt bin, vielmehr, weil sie mich nicht erwischt hat und alles gut gegangen ist. Als sie eingeschlafen war, habe ich das erste Stoßgebet zum Himmel geschickt, als sie heute Morgen bei Tageslicht nichts Auffälliges entdeckt hat, habe ich ein weiteres dankbares Gespräch mit Gott geführt. Eher einen Monolog. Wenn ich ehrlich bin, glaube ich nicht, dass Gott wirklich viel mit mir zu tun haben will.

Mittlerweile sitzen wir in Christophs Wohnzimmer. Er hat uns zum Brunch eingeladen. Eigentlich eine schöne Idee. Eigentlich. Wenn Christoph gewusst hätte, was ein Brunch ist. Schon die Begrüßung ist etwas abstrus ausgefallen. Ich bin mir nicht sicher, ob er glaubt, er habe Geburtstag. Anders kann ich mir den Papphut, den er trägt, und die kleine Papiertröte nicht erklären. Anstatt eines freundlichen Hallos wurden wir also mit einem ebenso freundlichen, aber auch extrem nervenden „Tröööööööt“ begrüßt. Doch das ist noch das Harmloseste. Es ist elf Uhr am Vormittag und es gibt Erbsensuppe mit Hämmsche und dazu Vanillepudding mit bunten Schokolinsen und Zitronenlimonade. Ich bin froh, dass die Zitronenlimonade, die einzige unpassende Ingredienz ist. Christoph ist zu weitaus schlimmeren Dingen in der Lage. Dennoch ist mir momentan alles andere als nach Erbsensuppe zumute. Trotz seiner Einladung hat es mein gestörter Bruder gerade einmal zehn Minuten mit uns ausgehalten. Eigentlich sogar nur fünf. Nach ein wenig Smalltalk hat er sich der Tröte und etwas, das nach seiner Aussage die Nationalhymne sein soll, gewidmet. Ich bin mir nicht sicher, welche Nationalhymne er meint. Ich kenne sie jedenfalls nicht. Mittlerweile turnt er in der Wohnung herum. Ab und zu ist mal ein vereinzeltes „Trööööt“ zu hören. Es nervt ein wenig. Ich habe Anne schon drei Mal gefragt, ob wir nicht gehen können. Ihr Blick war jedes Mal Antwort genug. Sie hat ein Herz für arme Seelen und für Christoph ganz besonders. Was mir wiederum ein absolutes Rätsel ist.

„Trööööt“, schallt es aus Christophs Schlafzimmer. Plötzlich kommt er am Wohnzimmer vorbeigerannt. Die Tröte hat er noch immer im Mund. Er kommt noch einmal zurückgerannt, wirft einen Blick ins Wohnzimmer. Dann öffnen sich seine Augen. „Tröööööt.“

Langsam macht er mir ernsthafte Sorgen.

„Christoph!“, ruft Anne. Es dauert einen kurzen Moment, dann kommt das Tröten näher.

„Trööööt?“, fragt er, als er das Wohnzimmer betritt.

„Willst du nicht ein bisschen mit Marcs Handy spielen?“, fragt sie und tätschelt mir liebevoll übers Bein. Christoph, der selber nur ein uraltes Handy hat, wobei Handy deutlich übertrieben ist, ist von meinem Smartphone und den dazugehörigen Apps begeistert. Ich denke, er weiß gar nicht, dass es sich bei diesem Gerät um ein Telefon handelt. Eher eine Spielkonsole für unterwegs.

„Tröööt“, nickt er. Das soll wohl ‚ja“ heißen. Anne meint es gut. Sie hofft, dass wir so die nervende Tröte loswerden. Ich glaube da noch nicht dran. Christoph krallt sich mein Handy und verschwindet. Aus dem Nachbarzimmer sind vereinzelte „Trööööts“ zu hören. Sie lächelt mich liebevoll an. Sie hat wirklich ein gutes Herz und ich weiß es zu schätzen. Eigentlich bin ich sehr glücklich mit ihr und ich könnte mir so langsam Gedanken machen, ob wir nicht einen Schritt weitergehen und schon in Kürze heiraten. Ein schallendes Lachen durchbricht die Stille. Fast schon hysterisch. Wäre es nicht Christoph, würde ich mir Sorgen machen.

„Eine Scheide“, ruft er plötzlich. Ich frage mich, was in Gottes Namen ihn jetzt auf die Idee einer Scheide bringt. Dann lacht er wieder.

„Noch eine“, hören wir aus dem Nachbarzimmer. Anne lächelt mich an. Ich muss zugeben, es hat was Lustiges. Plötzlich steht Christoph in der Tür. Er hält mein Telefon in der Hand und hält es in die Luft.

„Ist das deine Scheide?“, fragt er Anne und zeigt auf das Display. Anne lächelt nicht mehr.

Drei Tage später

Christophs Morgenshow hat mich dazu veranlasst, das Weite zu suchen. Ich habe den restlichen Vormittag in einer Kneipe verbracht. In den letzten Tagen habe ich generell viel Zeit in Kneipen verbracht. Von Anne habe ich seit der Fotonummer nicht mehr viel gehört. Mehr als zweimal „Arschloch“ war nicht drin. Eins, als sie Christophs Wohnung verlassen hat, und eins, als ich unsere Wohnung mitsamt meinen Sachen verlassen musste. Mehr nicht. Nicht mit einer SMS hat sie mir auf meine gefühlten 300 geantwortet. Noch im Schlafzimmer am Morgen habe ich versucht, sie anzurufen. Nach dem zweiten Klingeln habe ich aber wieder aufgelegt. Christoph war mit seinem Filmchen noch nicht fertig und das wilde Gestöhne im Hintergrund hätte Anne möglicherweise nicht so gut gefallen.

In der Kneipe starre ich wieder auf mein Handy. Ich muss zugeben, es geht mir schlecht. Vor allem finanziell mache ich mir langsam ernsthafte Sorgen. Wenn ich ehrlich bin, hatte ich Pech mit meinen bisherigen Ausbildungen. Naja … wenn man es genau nimmt, habe ich bislang gar keine absolviert. Als erfahrener Animateur könnte ich höchstens Kinder im örtlichen Kindergarten oder Senioren in einem Altenheim bespaßen. Tolle Wurst. Auf irgendeine Hilfsarbeit habe ich auch nicht wirklich Bock. Vielleicht wendet sich das Blatt ja irgendwann doch noch zum Guten. Tief in meinem Inneren glaube ich, dass Anne sich früher oder später melden wird. Das war bis jetzt immer so. Obwohl das Vergessen ihres Geburtstags möglicherweise nicht mit dieser Situation zu vergleichen ist. Zumindest nicht ganz. Jens klopft mir auf die Schulter, als er am frühen Abend die Kneipe betritt. Auf ihn ist auch in schweren Zeiten Verlass.

„Hast du sie angerufen?“, fragt er mich und bestellt mit einer Handbewegung die nächste Runde. Ich schüttele den Kopf.

„Das solltest du aber“, sagt er und nickt freundlich zwei Frauen an einem Nachbartisch zu. Sie sind mir bislang noch gar nicht aufgefallen, was sehr verwunderlich ist. Schließlich ist zumindest eine von ihnen einigermaßen ansprechend. Vorerst nehme ich mir Jens’ Rat zu Herzen und wähle erneut Annes Nummer. Zu meiner Verwunderung nimmt sie nach dem zweiten Klingeln ab.

„Ich vermisse dich“, sagt sie, nachdem ich mich zum 18. Mal entschuldigt habe.

„Ich dich auch.“

„Lass uns später reden. Ich habe Besuch“, sagt sie. „Und so wie sich das anhört, bist du mit Jens unterwegs“, fügt sie hinzu. „Ruf mich an, wenn du zu Hause bist. Dann reden wir nochmal darüber“, sagt sie liebevoll. Ich spüre, wie mein Herz einen Satz macht. Sie wird mir noch eine Chance geben. Vermutlich die Letzte. Dieses Mal darf ich es nicht versauen.

Keine zehn Minuten später sitzen wir an dem Tisch der beiden Mädels, die sich als Stewardessen vorgestellt haben. Vermutlich haben sie auch ihre Namen genannt, doch sie sind nicht haften geblieben. Einige Runden Bier und Wodka später sitzen wir nicht mehr in der Kneipe. Wir sitzen in Christophs Wohnung. Ohne Jens. Mein Kumpel wollte früh ins Bett. Er habe einen anstrengenden Tag vor sich. Wenn ich es mir recht überlege, wollte er ein wenig zu dringend weg. Mittlerweile glaube ich, es handelt sich nicht um zwei Stewardessen, sondern vielmehr um Nutten, die Jens mir freundlicherweise besorgt hat. Eigentlich ist das nicht mein Ding, aber solange er zahlt, soll es mir recht sein. Außerdem hatte ich unglaublicherweise noch nie einen Dreier. Also wird es Zeit. Christoph schläft. Zum Glück in seinem eigenen Bett. Die beiden Mädels sind ziemlich wild. Sie ziehen nur gewisse Teile meiner Kleidung aus. Ich realisiere, dass mich der Alkohol etwas duselig macht. So merke ich nicht, dass ich mit meinem Hintern aus Versehen die Wahlwiederholung meines Handys betätige. Ansonsten hat sich der Abend fast gelohnt.

Entschuldigung? Ich bräuchte mal Ihr Kind!

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