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Die zweite Station

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Auf der Reise zum Himmel ist es tatsächlich so, dass der Weg dich findet. Aber Vorsicht: Das bedeutet nicht, dass dir unterwegs nicht auch Tiger begegnen. Ich erwähne dies, weil gerade in diesem Augenblick, als PILGERIN eine Einöde durchquert, ein riesiger Tiger sie beobachtet. Dieses Stück Land war früher vielleicht einmal genutzt worden; auf dem Asphalt verrotteten verrostete Schilder und alte Markierungen. Aber gegenwärtig lag es brach, überwuchert von rankendem Unkraut und eigentlich von niemandem gewollt.

»Ich kenne dieses Gefühl«, dachte PILGERIN.

Hätte es ihr, als sie das Tor hinter sich zuzog, geholfen, wenn sie gewusst hätte, was sie erwartete? Hätte WILL GOOD sie in ihrem Gespräch vor Tigern warnen sollen? Er hatte PILGERIN gesagt, sie solle dem Weg vertrauen und weitergehen, aber das ist leichter gesagt als getan, wenn Raubkatzen auf der Lauer liegen. PILGERIN versuchte unter allen Umständen, sich nicht die Laune verderben zu lassen.

»Du kannst nicht zurückgehen. Es wird nicht klappen, selbst wenn du es versuchst«, redete sie sich ein. »Also stellst du dich den Realitäten, auch wenn es ein lauernder Tiger ist!«

Aber Handeln war gefragt. Wie ihre Tante immer wieder so treffend bemerkte: »Schöne Worte bringen keine Butter aufs Brot.« PILGERIN entfernte sich jetzt von der Bestie.

»Freund oder Feind?«, rief sie ihr spielerisch zu, aber der Tiger starrte sie nur an, ließ PILGERIN jedoch weitergehen.

Das Fell des Tieres hatte eine wundervolle Zeichnung, sein Körper war schlank und anmutig. PILGERIN beschloss, ihm je nach Situation eine sehr gute Freundin, aber auch eine erbitterte Feindin zu sein, wobei eher mit Letzterem zu rechnen war. Der Tiger schlich um sie herum, hielt aber zehn Meter Abstand zwischen ihnen.

Diese zehn Meter waren ihr trotzdem irgendwie viel zu wenig. Der Mensch braucht als Komfortzone etwa einen halben Meter Abstand zu seinem Gegenüber, aber zwischen Mensch und Tiger sind zehn Meter unsozial nah, und Randis Schritt beschleunigte sich mehr und mehr. Der Tiger nahm die Herausforderung an und spielte mit, holte auf mit seinen scharfkralligen Pfoten. Und so begann eine sanfte Verfolgungsjagd.

Eins wusste PILGERIN ganz genau: Ein »Unentschieden« war keine realistische Erwartung. Einer von beiden würde am Schluss enttäuscht sein oder tot, und Randi wollte nicht sterben. Der Schweiß lief ihr über den Rücken, als sie noch an Tempo zulegte.

»Gott sei Dank, dass ich in der vergangenen Woche im Fitnessstudio war und gelegentlich Yoga gemacht habe!«, dachte sie.

Doch trotz des Yoga holte der Tiger langsam auf.

Und dann blieb die Raubkatze ganz unvermittelt stehen, und PILGERIN folgte ihrem Beispiel; es blieb ihr nichts anderes übrig, denn sie stand am Rand einer Klippe. Ihre Flucht war zu einem abrupten Ende gekommen. Der Weg ging erst dreißig Meter tiefer weiter. Kein Wunder, dass der Tiger keine Eile hatte. Es war ja nicht so, als könnte ihm die Beute entkommen. »Das ist kein guter Ort für eine Klippe«, dachte PILGERIN, während sie darüber nachdachte, welche Möglichkeiten sie hatte. Hinter ihr stand ein hungriger Tiger, vor ihr lag ein tiefer Abgrund.

»Entscheidungen, Entscheidungen.«

Wenn sie sprang, könnte sie dem Tiger entkommen, was gut war; aber sie würde nicht heil unten ankommen, sondern auf den Felsen zerschmettert werden. Wenn sie nicht sprang, würde sie nicht auf den Felsen zerschmettert werden, was gut war, aber der Tiger würde sie fressen. Beide Möglichkeiten hatten also ihr Für und Wider, doch keine entsprach PILGERINS Wunsch, weiterzuleben und zu atmen und auch den morgigen Tag zu erleben.

Der Tiger kam näher, brannte darauf zu töten, und auf einmal entdeckte PILGERIN die Ranke. Sie zog sich über die Klippe nach unten, war stark und dick und fest verwurzelt in dem Gestrüpp zu ihren Füßen.

»Wenn Gott dir Zitronen schenkt, dann musst du Limonade draus machen«, pflegte ihre Tante immer zu sagen. So packte sie die Ranke und kletterte über die Klippe.

Es fiel ihr schwer, festen Boden gegen dünne Luft einzutauschen, aber das herannahende Untier erleichterte ihr die Entscheidung. PILGERIN umklammerte die Ranke und vertraute darauf, dass sie ihr Gewicht hielt. Sie hatte auch keine andere Wahl, denn die große Raubkatze stand am Rand der Klippe und fauchte wütend, während sich ihr vermeintliches Opfer nur wenige Meter von ihrem sabbernden Maul und den spitzen Zähnen entfernt in Sicherheit brachte. PILGERIN klammerte sich an der Ranke fest, während sie mit den Füßen verzweifelt nach einer Spalte oder einem Felsvorsprung tastete.

Ihre Arme schmerzten, aber sie war immer noch im Spiel, was oberste Priorität hat, wenn man von Tigern gejagt wird.

»Sehen wir es doch positiv«, sagte sie sich. »Hier bin ich und bewege mich von dem Ungeheuer fort in Sicherheit. Ein langer Weg liegt noch vor mir, aber vielleicht schaffe ich es ja?«

Beim Klettern gibt es eine goldene Regel: Schaue nie nach unten. Es macht nicht gerade Mut, die reine Luft zwischen sich und dem Boden tief unten zu sehen oder sich vorzustellen, wie weit dein weicher Körper in die Tiefe stürzen wird und wie spitz die Felsen sind, auf die du aufschlagen wirst. Doch als PILGERIN nicht mehr länger widerstehen konnte und einen vorsichtigen Blick nach unten wagte, war es noch schlimmer als befürchtet. Nicht nur ging es weit in die Tiefe; unten am Fuß der Klippe entdeckte sie einen zweiten Tiger, der dort herumlungerte.

Du meine Güte! So hatte sich PILGERIN das nicht vorgestellt. Sie hoffte auf den Himmel, erlebte aber die Hölle. Jetzt war ein Tiger über ihr und ein Tiger unter ihr, und beide Kreaturen wussten, dass PILGERIN weit und breit die beste Mahlzeit war, die sie in hundert Kilometern Umkreis bekommen konnten.

»Ich will nicht sterben«, sagte sich PILGERIN voller Verzweiflung, während sie sich mit aller Kraft an die Ranke klammerte. Warum nur hatte sie beim Sport nicht mehr an den Seilen trainiert? In Wahrheit war dies die hoffnungsloseste Situation, die sie je erlebt hatte, und das Schlimmste an hoffnungslosen Situationen ist, dass sie hoffnungslos sind; es scheint absolut keinen Ausweg zu geben.

Und dann wurde alles noch schlimmer.

Die Ranke war PILGERINS einziger Rettungsanker.

»Die Ranke ist das zentrale Element«, dachte PILGERIN verschwitzt, und das stimmte.

Dieser starke Tentakel der Hoffnung hatte sie vor dem Tiger gerettet und bewahrte sie vor dem Tiger, der unten auf sie wartete. Ihre Füße fanden kurzfristig Halt, aber nur vorübergehend, denn der Felsen war sehr bröckelig, und kein Felsvorsprung bot ihr Zuflucht für ihr pochendes Herz und ihre brennenden Hände. Allein die Ranke war ihr Rettungsanker, der goldene Faden, durch den sie vielleicht Rettung finden könnte.

Doch jetzt nagte eine Ratte an dieser rettenden Ranke. War das zu fassen? Wo die Ratte hergekommen war, das wusste nur die Hölle, vielleicht kam sie sogar direkt daher. Man sagt, dass man nie mehr als sechs Meter von diesem Ungeziefer entfernt ist, und im Augenblick stimmte das ganz gewiss, denn da saß sie, wie festgenagelt auf dem Felsen und knabberte und nagte; eine Ratte mit einer Mission, und sie zerstörte alles, was PILGERIN Sicherheit bot.

Wenn jemand einen bedroht, fällt es schwer, nicht zu hassen, und welchen Hass empfand PILGERIN auf die Ratte! Sie stellte sich vor, dass eine riesige Falle zuschnappte und ihr das Genick brach; aber solche Fantasien hielten das Knabbern und Nagen nicht auf. Jetzt, wo die Ranke geschwächt wurde, war es nur eine Frage der Zeit, bis sie in einem mörderischen Tempo zur Erde stürzte, um dort gefressen zu werden. Was sollte dieser ganze Unsinn, sich auf das Schöne im Leben zu konzentrieren? Hier gab es nichts Schönes.

PILGERIN tat ihr Bestes. Sie rüttelte an der Ranke, um die Ratte abzuschütteln. Sie drehte den Strang, damit das Ungeziefer seinen Halt verlor, aber es nützte nichts, und als schließlich das Ende kam, kam es schnell. Die Ranke riss, und PILGERIN stürzte nach unten. In gewisser Weise war es eine Erleichterung; wenigstens konnte sie jetzt die Hoffnung aufgeben.

»Leb wohl, Hoffnung!«, rief sie. »Land der Hoffnung, das Ende naht!«

Die Leute stellen die Hoffnung als etwas Gutes dar, doch wenn sie dir ins Gesicht lacht, dann kannst du gar nichts Gutes mehr erkennen. Es ist viel besser, sich von der Hoffnung zu verabschieden, und nachdem sie das getan hatte, war PILGERIN beinahe entspannt, als sie auf dem Boden aufschlug.

Was für ein Anblick! Außer Atem, aber bei vollem Bewusstsein, blickte PILGERIN direkt in das Pelzgesicht der Bestie, und wenn es auch nicht unbedingt ein schönes Erlebnis war, so waren die Schneidezähne des Tigers doch ein denkwürdiger Anblick.

»Das ist eine wirklich gute Natursendung«, dachte Randi, »nur leider spiele ich mit.«

Die Erhabenheit dieses Geschöpfes war bemerkenswert, sein hohles Brüllen wie Honig und Diamanten, und seine starken Schenkel waren bereit zuzuschlagen. PILGERIN schloss die Augen und wartete; sie wartete darauf, dass die schnappenden Kiefer ihren dünnen Hals umschlossen.

Welche Bedeutung hatte ihr Leben tatsächlich gehabt?

Und dann Stille.

Etwas hatte sich verändert; etwas, das vorher da gewesen war, war jetzt verschwunden. PILGERIN lag still, wie gelähmt, und wartete auf die Hinrichtung. Doch sie war unversehrt. Sie wusste, dass sie in Sicherheit war, obwohl es ihr nicht gelang, die Augen zu öffnen. Und was sie erblickte, als sie die Augen dann schließlich doch öffnete, war der Tiger, der im Gebüsch verschwand. Er hatte es sehr eilig, und für PILGERIN hatte der Schrecken ein Ende. Sie hatte noch einen weiteren Tag zu leben, einen weiteren Augenblick zu atmen, ein weiteres Morgen zu bedenken.

Ihr Tagebucheintrag war kurz, aber glücklich:

Ich lebe!

Eine ganze Weile blieb sie in dem trockenen Gras und den Disteln liegen, in allumfassender Zufriedenheit. Dann tanzte sie einen Siegestanz um einen Baum und legte sich anschließend wieder hin. Ein Schmetterling flatterte aus einer dunklen Ecke hoch und traf in seinem wilden Flug beinahe ihre Nase, bevor er davonflog.

»Bis später, blau-oranger Schmetterling!«, rief PILGERIN fröhlich. Eine Frage durchzuckte sie: Was war eigentlich passiert?

»Hier bin ich, gesund und munter«, dachte sie, »obwohl ich eigentlich tot sein müsste. Anstatt von einem Tiger gefressen zu werden, plaudere ich mit einem Schmetterling. Wie ist das geschehen?«

Sie wusste, sie war am Leben, aber sie hatte keine Ahnung, wie und warum das so war.

Und ganz plötzlich ergriff die Furcht wieder von ihr Besitz. Da war etwas im Gestrüpp, das PILGERIN zwar hören, aber nicht sehen konnte. Eine Schlange vielleicht? Das wäre möglich; in so dürrem Gestrüpp wimmelt es von Schlangen. Was für ein trostloser Gedanke: War sie vor dem Tiger gerettet worden, um dann von einer Schlange getötet zu werden? Wenn man nichts sehen kann, spielt die Fantasie einem manchmal einen Streich.

Es raschelte noch stärker, und schließlich vernahm sie ein hohes Quieken. PILGERIN rollte sich erschrocken zur Seite, spürte, dass etwas in der Nähe war, klein, aber versteckt. Das war die schlimmste Art von Feind, ein Feind, den sie nicht sehen konnte. Und dann endlich entdeckte sie ihn. Auf einem Stein sitzend, die Pfoten wie ein Bettler in die Höhe gereckt, saß die Ratte, die beinahe ihr Ableben verschuldet hatte. PILGERIN überlegte, welchen überaus schmerzvollen Tod sie diesem Wesen bereiten könne.

Doch als sie näher hinschaute, geschah etwas Seltsames: Die Ratte begann zu quieken, oder vielleicht mit ihr zu sprechen? PILGERIN fing an, Worte zu verstehen, und wenn sie nicht von der Ratte kamen, woher sonst?

»Du schuldest mir was«, sagte das Ungeziefer.

PILGERIN war verblüfft, aber sie hatte keine Lust, sich mit einem Tier zu unterhalten.

»Entschuldige, aber ich rede nicht mit Tieren«, erklärte sie. Sie wollte von Anfang an ihre Position deutlich machen.

Die Ratte schwieg, und PILGERIN hatte das Gefühl, vielleicht doch ein wenig unhöflich gewesen zu sein. Sie lenkte ein. »Das ist nicht persönlich gemeint.«

»Wirklich?«, fragte die Ratte.

»Nun, natürlich ist es persönlich gemeint, aber es stimmt auch, dass ich das nicht tue. Ich bin auf dem Weg zum Himmel und nicht ins La-la-Land, darum wird es keine Gespräche mit Tieren geben; nicht in einer Million Jahren.«

»Wir haben dir nichts zu bieten?«, fragte die Ratte. »Dann wär’s das, denke ich.«

Es entstand eine unbehagliche Pause, und wieder fühlte sich PILGERIN verpflichtet, sie zu füllen.

»Ich bin froh, dass du das auch so siehst«, bemerkte sie. »Wie ich schon sagte, das ist nicht persönlich gemeint. Ich bin ein Mensch, du bist ein Tier, und ich möchte dich gar nicht näher kennenlernen.«

»Gleichfalls«, sagte das Ungeziefer.

»Wie bitte?«

»Ich habe auch nicht den Wunsch, dich kennenzulernen«, erklärte die Ratte. »Ich wäre auch nicht gekommen, wenn ich nicht darum gebeten worden wäre.«

»Nun, ich habe dich nicht darum gebeten.«

»Wer sagt denn, dass du das warst? Aber du schuldest mir trotzdem was.« PILGERIN traute ihren Ohren kaum.

»Ich schulde dir was? Wenn du nicht gewesen wärst, dann hätte ich sicher an meiner Ranke gehangen!«

Die Ratte lächelte das Lächeln von jemandem, der gerade etwas ausgesprochen Lächerliches gehört hatte.

»Sicher an deiner Ranke? Das ist ein interessanter Blickwinkel. Bist du schon immer blind gewesen oder ist das erst neuerdings so?«

»Das war eine gute Ranke, und du hast sie zerstört.«

»Und wie genau sah dein Rettungsplan aus, als du an der Klippe zwischen zwei Tigern gehangen hast?«

PILGERIN hatte keine Lust, sich von einem Tier in eine sinnlose Debatte verwickeln zu lassen, und entschied sich für ein würdevolles Schweigen. Der andere Grund war, dass das Ungeziefer natürlich recht hatte. PILGERIN hatte keinen Plan gehabt.

»Es gab nur einen Weg, dich zu retten«, fuhr die Ratte fort. »Dich auf den Boden zu befördern und sich dann des Tigers anzunehmen, was ich, zum Glück für dich, tun konnte. Tiger haben schreckliche Angst vor Ratten, du verstehst.«

Das alles klang sehr glaubhaft, und PILGERIN, in die Defensive gedrängt, beschloss zurückzuschlagen und die Ratte zu verletzen:

»Linguistisch verstehe ich das so«, bemerkte sie beiläufig, »alle Ratten sind Schädlinge, aber nicht alle Schädlinge sind Ratten. Ist das korrekt?«

»Ich bin eine Dumbo-Ratte«, erwiderte die Ratte.

»Tatsächlich?«

»Wir unterscheiden uns durch unsere Ohren, die sich an der Seite unserer Köpfe befinden und manchmal etwas größer sind als normal.«

»Ohren, die dich ansehen!«

Man kann einen Witz nicht bewerten, aber PILGERIN freute sich ganz besonders über ihren.

»Meine Identität scheint dir ziemlich egal zu sein«, sagte die Ratte. »Wir können nur hoffen, dass dir deine nicht auch so egal ist.«

Was meinte die Ratte? PILGERIN wusste nur, dass etwas in ihr vor Schmerz schrie.

»Du verwechselst mich mit jemandem, den das interessiert!«, erwiderte sie, entschlossen, ihr würdevolles Schweigen beizubehalten. Aber die Ratte fuhr fort:

»Es gibt unterschiedliche Rattenarten, doch für dich sehen sie zweifellos alle gleich aus. Nicht?«

»Vielleicht.«

»Alle sind klein und pelzig, also wo ist der Unterschied? Du kommst dir zu wichtig vor, um dich für solche Dinge zu interessieren. In deiner kleinen Welt existieren wir nicht als eigenständige Wesen innerhalb der gleichen Gattung. Aber glaube mir, eine Dumbo-Ratte unterscheidet sich von der Zwergratte oder der Albinoratte.«

»Rede nur weiter, ich finde das ziemlich langweilig«, sagte PILGERIN. »Kann ich jetzt gehen?«

»Aber zum Glück für dich«, fuhr das kleine Wesen fort, das sich mittlerweile für das Thema erwärmte, »hat der Tiger auch keine Ahnung. Der Tiger ist groß, stark, und kennt sich in der Rattenszene nicht aus, genau wie du. Er denkt, er müsse vor uns Angst haben, was natürlich lächerlich ist, doch heute kam uns das sehr gelegen. Du bist noch am Leben!«

PILGERIN starrte großmütig in die Ferne, während ihr gleichzeitig vor Scham der Schweiß ausbrach.

»Du scheinst der Wahrheit plötzlich ziemlich nahe zu sein«, bemerkte die Ratte.

»Nein – ich bin nur dir nahe.«

»Hast du Angst vor mir?«

»Ich soll Angst vor einem dummen Tier haben? Wie lächerlich!«

»Es wäre klüger, Angst vor deinem Stolz zu haben, meine Freundin. Du kannst nicht akzeptieren, dass du diese Ranke loslassen musstest, und dass ich dir zu dieser Erkenntnis verholfen habe.«

»Das hat damit gar nichts zu tun«, log PILGERIN.

»Aber das ist es doch: Erkenntnis ist nicht möglich, wenn wir uns an Dinge klammern, sondern nur, wenn wir sie loslassen. Es gibt so vieles, was man loslassen muss!«

PILGERIN bemerkte eine kreisende Gegenwart am Himmel. Das war derselbe Vogel, den sie bereits gesehen hatte, als sie ihr Heim verließ, aber in einem hatte sie sich geirrt: Das war kein Habicht, sondern ein Adler, der hoch oben in den Lüften seine Kreise zog und beobachtete, nach unten auf sie zuschoss und wieder aufstieg, hoch hinauf in den weiten, blauen Himmel. Etwas golden Glänzendes hing an seinem Hals, das im Licht funkelte.

»Ein großer Vogel«, meinte PILGERIN.

»Mach dir keine Gedanken um den Adler«, sagte die Ratte, die sie beobachtete.

»Ich mache mir keine Sorgen«, erwiderte PILGERIN.

»Du wirkst beunruhigt.«

»Ganz und gar nicht. Der Adler ist weder hier noch da, soweit es mich betrifft. Mit einem einzigen Schlag könnte ich ihm den Hals brechen.«

Zum ersten Mal in ihrem Leben führte PILGERIN den Karateschlag in der Luft vor.

»Keine gute Idee«, meinte die Ratte.

»Ich sage ja nur. Wie auch immer, eigentlich solltest du Angst haben, nicht ich. Adler fressen Ungeziefer.«

»Ich heiße übrigens Veronica«, stellte die Ratte sich vor. »Und du?«

»PILGERIN«, erklärte PILGERIN. »Aber mir ist unklar, warum du wissen willst, wie ich heiße; es ist ja nicht so, als würden wir uns wieder treffen.«

Wie viele von PILGERINS Annahmen sollte sich diese als falsch herausstellen. Es gab so vieles, was sie nicht wusste. Wenn es niedergeschrieben würde, würde sich der Text von hier bis zum Mars erstrecken und noch darüber hinaus.

Randis Reise

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