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Die dritte Station

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Wo bin ich?«, fragte sich PILGERIN, das Gesicht an einen Felsen gepresst, auf dem ein Käfer fröhlich in der Sonne saß. Wo immer sie sich befand, sie fühlte sich gut. Sie hatte tiefer geschlafen als zu Hause, wo ihr Schlaf nicht immer ruhig war.

Langsam kamen ihr die jüngsten Ereignisse wieder in Erinnerung. Da waren die Tiger gewesen, das Drama auf der Klippe und eine seltsame Begegnung mit einer Ratte namens Veronica. Ach ja, und davor war sie ziemlich unhöflich zu GERNRAT SENFGEB und TUSSI FLITTER gewesen. Und davor hatte sie alles, was ihr vertraut war, zurückgelassen und sich auf eine hirnverbrannte Reise zum Himmel begeben. Was war nur in sie gefahren?

Erst kürzlich, so erinnerte sie sich, hatte sie zu der Ratte gesagt, sie sei müde und brauche Schlaf, und die Ratte hatte erwidert, das sei eine gute Idee. Aber jetzt war sie hellwach und nahm seltsame Geräusche in ihrer Umgebung wahr. Da war ein Summen, Klingeln und Rasseln von Karussellmusik, Löwen brüllten, Seehunde husteten, Pferde schnaubten, Hunde bellten, und Menschen lachten fröhlich. Das konnte nur eines bedeuten: Ein Zirkus war in der Nähe.

»Höchste Zeit für ein wenig Ablenkung, finde ich!«, sagte PILGERIN, während sie sich dem fröhlichen Treiben näherte.

»Nur hereinspaziert, meine Damen und Herren!«, rief ein Mann mit einem zwirbeligen Schnurrbart und verschmitzten Augen mit lauter Stimme. Er trug einen Zylinder aus glänzendem Stoff, einen Gehrock und eine ordentlich gebügelte Kaschmirhose. »KANNABIS’ Halluzinatorischer Psycho-Zirkus bietet Unterhaltung und Zerstreuung am laufenden Band und ohne Ende!«

Als er PILGERIN entdeckte, eilte er auf sie zu.

»Du, junge Dame!«

»Ja?«

»Wünschst du dir nicht eine Pause von der Realität?«

»Ich weiß nicht«, erwiderte sie. »Ich bin auf dem Weg zum Himmel.«

»Das ist doch dasselbe! Deine Reise ist vorbei. Dies ist der Himmel!«

»Wirklich? Ich hatte mich auf eine etwas längere Suche eingestellt.«

»KANNABIS’ Halluzinatorischer Psycho-Zirkus ist der Himmel auf Erden!«

Sein Gesicht kam ihr unangenehm nahe, und PILGERIN roch seinen Zwiebelatem, aber hey, die Menschen waren eben unterschiedlich, und den Zirkus hatte sie immer geliebt. Doch ob dies tatsächlich der Himmel war, da hatte sie so ihre Zweifel. Natürlich hatte sie keine Ahnung, wie der Himmel aussah – ich meine, wer konnte das schon wissen? Doch wenn der Himmel am Ende ein Zirkus war, welchen Zweck erfüllte er dann? Sie beschloss, das Thema anzusprechen.

»Zirkusse machen viel Spaß«, sagte sie, »aber sie schienen mir nie besonders, nun ja, nützlich.«

»Nützlich?«, schnaubte er. »Du redest wie ein Bischof in einer Talkshow, ernst und langweilig!«

Dieser Vorwurf traf ins Schwarze, und PILGERIN errötete vor Scham.

»Ich wollte nicht –«

»Wer will denn schon etwas Nützliches«, redete Zwiebelatem weiter. »Werd’ locker, meine Freundin! So ein hübsches Gesicht sollte niemals Langeweile haben!«

»Ja, entschuldige. Ich möchte wirklich nicht daherreden wie ein Bischof.«

»Natürlich nicht. Wir wollen hier nichts ›Nützliches‹, sondern Verdrehtes, Raffiniertes, Faszinierendes, Fesselndes und schwindelerregend Verblüffendes oder Grausames!«

»Wenn du das so ausdrückst –«

»Komm herein und bestaune den Mann, der ein lebendiges Huhn verspeist«, pries er an, »mit Krallen und allem! Das musst du gesehen haben!«

PILGERIN war nicht davon überzeugt, doch entschlossen, ganz bestimmt nicht daherzureden wie ein Bischof.

»Das klingt ziemlich cool«, meinte sie.

»So ist es schon besser!«, erwiderte ihr himmlischer Gastgeber. »Ernste Mädchen mögen wir nicht!«

»Das ernste Mädchen ist tot«, erklärte PILGERIN. »Leben und leben lassen, sage ich immer! Es sei denn natürlich, du bist das Huhn.«

Vermutlich war es die Ratte, die ihr alle Lebensfreude genommen hatte, aber das war jetzt vorbei. Schließlich ging es im Himmel doch darum, Spaß zu haben, nicht?

»Ich werde mich prächtig amüsieren!«, verkündete sie, und mit diesen Worten führte KOSTAS KANNABIS – so hieß er nämlich – sie zu den Ständen und Buden, wo die verschiedenen Attraktionen um ihre Aufmerksamkeit wetteiferten.

»Wir werden den heutigen Abend in vollen Zügen genießen«, versprach er, während er sie mit festem Griff durch die Menge schob.

»Ich habe noch nie so viele Menschen gesehen!«, staunte PILGERIN, die sich von der fröhlichen Atmosphäre anstecken ließ. »Und anscheinend haben alle nur das eine Ziel, sich zu amüsieren!«

»Lass mich dir die Arbeit des Zirkus erklären«, sagte KANNABIS, während er sie auf eine Bank drückte.

»Oh, bitte!«

»Was Menschen dazu bringt, in die Show zu gehen, ist nicht, was sie auf ihren Sitzen hält.«

»Tatsächlich?«

»Oh, nein!«

PILGERIN hatte Spaß daran, sich von diesem faszinierenden Mann in die Geheimnisse des Zirkus einführen zu lassen.

»Löwen sind an der Plakatwand aufregender als in einer Zirkusvorstellung«, erklärte er.

»Sie locken Menschen an, können ihnen aber keine Befriedigung verschaffen?«, bemerkte PILGERIN und freute sich an ihrer intelligenten Bemerkung.

»Das ist der Zweck einer Attraktion, kluges Mädchen! Sie zieht Menschen an.«

»Und dann?«

»Wen interessiert das? Du hast sie in deinen Fängen und kannst anfangen, ihnen das Geld aus der Tasche zu ziehen!«

Sie gingen gemeinsam weiter, vorbei an dem bunten Baldachin des Karussells. Fröhliche Kunden ritten auf Holzpferden, klammerten sich an ihre Messingruten, während die Orgel plärrte und das Geld gezählt wurde. Wo sie auch hinblickte, herrschte ausgelassene Begeisterung. Gewehrschüsse knallten, muntere Fröhlichkeit, Kokosnuss-Würfe und der Schlag der großen Glocke, der durch die Luft hallte, wenn wieder ein starker Mann seine Kraft mit dem Holzhammer ausprobierte.

PILGERIN war im Himmel und hatte einen Riesenhunger. Schnell schlang sie den Zwiebelkuchen aus Kittys Küche hinunter und als Nachtisch noch ihre berühmte Kirschtorte mit Sahne. Und was für ein Zirkus das war! Er zog sich über die Ebene, so weit das Auge sehen konnte! Hinter dem Rummel wurden von Männern mit nacktem Oberkörper noch mehr Zelte aufgebaut. Das war eine harte und schweißtreibende Arbeit. Ihre dicken Bäuche quollen über ihre breiten Gürtel mit den großen Schnallen.

»Dieser Zirkus ist ganz schön groß!«, rief PILGERIN.

»Er ist eine Welt für sich«, erwiderte KANNABIS. »Und wir möchten nicht, dass jemand uns verlässt!«

»Also, ich habe gar nicht das Bedürfnis zu gehen. Ich glaube, ich könnte für immer hier bleiben!«

»Das ist das Ziel!«

»Hier ist so viel los, und ich will nichts verpassen!«

KOSTAS KANNABIS blickte PILGERIN mit seinem schlangenäugigen Lächeln an, das sie für Respekt hielt. Sie kamen vorbei an dem Hotdog-Stand und dem Verkäufer, der seine gebrannten Mandeln anbot. PILGERIN nahm von beidem. Ihr Geld wurde langsam knapp, aber wen kümmerte das? Das war das Leben.

»Was ist die erstaunlichste Darbietung, die du je gesehen hast?«, fragte PILGERIN, die Jüngerin, den Herrn.

»Bei einer Darbietung standen drei Menschen übereinander auf einem Pferd«, erzählte KANNABIS.

»Tatsächlich?«

»Oh ja, die Fossetts haben das in der Dreifacher-Jockey-Nummer vorgeführt. So etwas sieht man nicht so häufig.«

»Und die ausgefallenste Darbietung?«

»Das war die Dame mit dem Schweinsgesicht.«

»Wer war sie?«

»Madame Stevens wurde sie genannt, obwohl sie eigentlich ein Braunbär war, dessen Gesicht man glattrasiert hatte.«

»Die Dame mit dem Schweinsgesicht war ein Bär? Das ist wirklich eine Illusion. Wie wurde es gemacht?«

»Ganz einfach. Weiße Handschuhe verdeckten ihre Pfoten, an die sich dicke weiße Arme anschlossen.«

»Rasiert?«

»Gut rasiert, ja. Sie saß in Haube, Schal und Hauskleid an einem Tisch, und unter dem Tisch hockte ein Junge mit einem Stock.«

»Was hat er gemacht?«

»Er hat sie jedes Mal, wenn der Showmaster ihr eine Frage gestellt hat, angestoßen, damit sie brummte. Und nach jedem Brummen erklärte der Showmaster dem Publikum: ›Wie Sie sehen, meine Damen und Herren, versteht die junge Dame, was gesagt wird, obwohl die seltsame Form ihres Kiefers sie der Möglichkeit beraubt hat, menschliche Laute zu äußern.«

»Nicht wirklich wahr.«

»Nichts ist wahr. Trotzdem, dann fragte er sie, ob sie heiraten würde, wenn sie den richtigen jungen Mann kennenlernen würde.«

»Und was hat sie geantwortet?«

»Bei dieser Frage stach der Junge fester zu, was ärgerliche Schmerzenslaute von dem gequälten Bären zur Folge hatte.

›Ist gut, ist ja schon gut!‹, sagte der Showmaster. ›Ich habe ja nur gefragt!‹ Danach ließ er den Hut herumgehen.«

»Und die Leute haben geglaubt, was sie gesehen haben? Waren sie nicht bei Verstand?«

»Der Verstand hat im Zirkus keinen Platz, mein Mädchen. In einer Menge glauben die Menschen die verrücktesten Dinge.«

PILGERIN war bekannt, dass der menschliche Herdentrieb manchmal die seltsamsten Blüten trieb, aber zum Glück standen sie und KOSTAS KANNABIS über den Dingen.

»Sieh dich nur um!«, forderte er sie mit einer ausladenden Geste auf.

PILGERIN beobachtete die vielen Menschen, die hin und her eilten.

»Die Leute wollen ihrem normalen Leben entfliehen«, erklärte er. »Sie sehnen sich danach, den besonderen Kick des Unerwarteten oder der Freude zu erleben; alles, wenn es sie nur von sich selbst ablenkt!«

PILGERIN gefiel die Idee, von sich selbst abgelenkt zu werden, und auf einmal durchzuckte sie ein ungewöhnlicher Gedanke.

»Vielleicht könnte ich hier arbeiten?«, fragte sie vorsichtig.

»Du?«, fragte KANNABIS und betrachtete sie mit neu erwachtem Interesse.

»Warum nicht?«, erwiderte PILGERIN, erstaunt darüber, dass sie so einen Vorschlag machte und sich tatsächlich sogar dafür erwärmte.

Ihr kurzer Besuch im Zirkus hatte sie eines erkennen lassen: wie langweilig ihr Leben war. Vielleicht war das der Grund, warum sie auf diese Idee mit der Reise zum Himmel gekommen war – um ihrer langweiligen Existenz zu entfliehen. Vielleicht war dieses ganze Gerede vom Himmel nur ein Aberglaube, den die Menschen brauchten.

»Glaubst du an den Himmel?«, fragte PILGERIN.

»Wer braucht den Himmel, wenn man im Zirkus leben kann?«, erwiderte KANNABIS mit sichtlichem Unbehagen. Nicht, dass PILGERIN dies aufgefallen wäre, denn im Psycho-Zirkus nimmt man so etwas nicht mehr wahr. Es ist einfach zu viel los, um etwas anderes zu sehen als die nächste Attraktion.

»Und wer braucht schon Freunde wie Veronica«, dachte PILGERIN, »wenn man einen Lehrer wie KOSTAS KANNABIS haben kann, den dunklen und gefährlichen Hohepriester der Ablenkung?«

»Kannst du jonglieren?«, fragte KANNABIS.

Ihm schien die Idee, dass sie im Zirkus arbeitete, zu gefallen.

»Ist das ein Einstellungsgespräch?«, fragte PILGERIN aufgeregt.

»Könnte gut sein, junge Dame.«

»Also, ich kann nicht wirklich jonglieren, nein. Vielleicht mit einem Apfel, aber nicht mit mehreren –«

»Dann kannst du vielleicht am Trapez arbeiten?«

»Große Höhen sind ein Problem.«

»Du könntest bei den Tieren mithelfen.«

»Warum nicht? Früher hatte ich einmal einen Hund!«

»Ahh! Dann könntest du die wilden Löwen zähmen und einem Geparden ein Ballettröckchen anziehen?«

»Der Hund war ein Labrador. Löwen und Geparden sind schon eine ganz andere Herausforderung.«

»Wir finden bestimmt irgendwo einen Platz für dich.«

»Oh, vielen Dank!«

»Solange du bezahlen kannst.«

»Bezahlen?«

»Natürlich! Das hier ist doch keine Wohltätigkeitsveranstaltung, du dumme Trantüte!«

Die Atmosphäre kühlte sich ab, als hätte sich plötzlich eine Wolke vor die Sonne geschoben.

»Dumm?«, fragte PILGERIN.

Sie war entsetzt darüber, dass ihr neuer Held sie beschimpfte.

»Das ist doch nur so ein Wort«, winkte KANNABIS ab.

»Und ›Trantüte‹?«

»Auch nur ein Wort.«

»Keine besonders schönen Wörter«, meinte PILGERIN. »Und ich kann nicht bezahlen, weil ich kein Geld mehr habe. Ich habe alles hier ausgegeben.«

»Du hast kein Geld mehr?«

»Keinen Cent!«

»Dann hör’ auf, meine Zeit zu vergeuden!«

»Deine Zeit vergeuden?«

»Leute wie du machen mich krank!«

»Aber ich dachte, wir wären Freunde?«

»Freunde? Hier im Zirkus geht es um Raffiniertes, Faszinierendes, Unerwartetes und Grausames! Freundschaft spielt hier keine Rolle. Du bedeutest mir gar nichts, und ich habe einen Zirkus zu organisieren.«

»Aber wir hatten doch ein so interessantes Gespräch!«

Plötzlich kam sein Gesicht ihrem ganz nahe.

»Du wärst erstaunt, wie schnell ich mich anderen Dingen zuwenden kann. Ich schlage vor, du tust das auch.«

Und mit diesen Worten wandte sich KANNABIS ab, stapfte davon und war bald nicht mehr in der wogenden Masse der Getäuschten zu sehen.

PILGERIN wusste nicht, was sie machen sollte. Sie hatte ihr ganzes Geld für Fahrten ausgegeben, die sie nur im Kreis herumgeführt und dann wieder dort abgesetzt hatten, wo sie gestartet war. Sie war der Verlockung erlegen, aber zurück blieb eine große Leere, sowohl in ihren Taschen als auch in ihrer Seele. In der kalten Zirkusluft begann sie zu zittern. Sie entfernte sich von der Menge, und in einer dunklen Ecke ließ sie sich auf einem ausrangierten bunten Sofa nieder, zutiefst verzweifelt.

»Ooaaahh!«

PILGERIN fuhr erschrocken zusammen. Das Stöhnen kam nicht von ihr. Es erinnerte sie ein wenig an einen alten Freund, aber der war jetzt in Australien. Er konnte es also nicht sein. Und über der Frage: »Wer?« stand die Frage: »Warum?« Warum sollte jemand in einem Zirkus stöhnen? Der Zirkus war ein Ort, wo Fröhlichkeit herrschte, oder etwa nicht? Man stöhnte beim Zahnarzt oder während einer langen Predigt, aber nicht im Zirkus, wo es nur Ausgelassenheit und Begeisterung gab. Sie blickte sich um, konnte aber in der Dunkelheit niemanden entdecken.

»Vermutlich habe ich mir das eingebildet!«, dachte sie, als sie sich wieder hinsetzte.

»Uuooohh!«

Nein, sie hatte sich das nicht eingebildet! Das war definitiv ein Stöhnen, lauter als das erste, und es kam von dem bunten Sofa, das sich bei näherer Betrachtung als ein auf dem Boden liegender Clown entpuppte.

»Es tut mir sehr Leid«, entschuldigte sich PILGERIN. »Ich habe dich für ein buntes Sofa gehalten.«

»Nein, ich bin ein trauriger Clown.«

»Aber du lächelst.«

»Das ist nur das Make-up.«

»Natürlich«, erwiderte sie und kam sich dumm vor. »Ich lerne gerade, dass in einem Zirkus vieles nicht real ist. Ich bin übrigens PILGERIN, und ich bin auf dem Weg zum Himmel.«

»Das klingt nett.«

»Es ist nicht alles Gold, was glänzt, glaube mir«, erwiderte sie und dachte an die beiden Tiger. »Aber sag mir: Warum liegst du auf dem Boden, obwohl du die Kinder doch eigentlich zum Lachen bringen solltest?«

»Das willst du gar nicht wissen.«

»Doch, ich möchte es gern wissen.«

»Ich wollte den Zirkus verlassen«, erklärte er.

Der Clown hielt sich beim Reden die Seite. Ganz eindeutig hatte er Mühe beim Atmen.

»Und?«, fragte PILGERIN verwirrt.

»Das gefiel ihnen nicht.«

»Wem gefiel es nicht?«

»Halte dich lieber da raus.«

»Ich stecke doch schon mitten drin, und stoß’ mich nicht immer zurück«, erklärte PILGERIN. »Wo ist das Problem, wenn du gehen willst?«

»Sie mögen es nicht, wenn du gehen willst.«

»Jeder kann gehen, wohin er will!«

»Tatsächlich?«

PILGERINS Worte blieben ihr im Hals stecken, als sie die Verletzungen am Kopf des Clowns entdeckte.

»Was ist denn passiert?«, fragte sie.

»KANNABIS hat mich vermöbeln lassen.«

»Vermöbeln?«

»Verprügeln, durch die Männer dort drüben.«

PILGERIN betrachtete die Männer mit den nackten Oberkörpern, die die Zelte aufbauten, mit neuen Augen. Sie hatte sie für fröhliche Kerle gehalten, aber sie hatten ganz eindeutig auch eine dunklere Seite. Sie beobachtete jetzt auch, dass sie Steine in den Himmel warfen.

»Sie tun, was ihnen aufgetragen wird«, sagte der Clown.

»Und was machen sie gerade?«

»Sie wollen den Adler vertreiben.«

»Ich habe den Adler schon mal gesehen.«

»Ein schöner Vogel!«

»Mag sein.«

»Sie hassen diesen Vogel.«

»Keine angenehme Gesellschaft, das kann ich dir sagen, und es tut mir Leid, dass sie dich so behandelt haben. Aber sag mir – warum wolltest du denn den Zirkus verlassen?«

»Ich heiße MR. HAPPY.«

»Ein schöner Name, und alle lieben dich dafür.«

»Aber was ist, wenn MR. HAPPY traurig ist?«

»Traurig?«

»Ich glaube, ich bin traurig.«

»Bist du sicher?«

»Ich durfte so lange nichts empfinden, da fällt es schwer, sicher zu sein. Aber ich glaube, wegen meiner Traurigkeit wache ich nachts auf.«

»Und das ist ganz bestimmt nicht gut, oder? Niemand möchte einen traurigen Clown sehen. Ich werde versuchen, dich aufzuheitern.«

»Ich möchte nicht aufgeheitert werden.«

»Warum denn nicht, um alles in der Welt?«

»Ich möchte die Traurigkeit einfach eine Weile empfinden dürfen.«

»Niemand sollte traurig sein«, sagte PILGERIN, die anderen Menschen gern Lösungen anbot, auch wenn sie für sich selbst keine fand. »Ich werde das nicht zulassen!«

»Alle müssen von Zeit zu Zeit im GARTEN DER TRAURIGKEIT spazieren gehen, meine Freundin«, erklärte HAPPY. »Wirst du mir helfen, hier wegzukommen, damit ich wieder fühlen kann?«

PILGERINS Blick wanderte nervös zu den muskelbepackten Männern mit den Zelten.

»Natürlich.«

Die Männer waren sehr groß.

»Ich meine, in diesem Streit kann ich offensichtlich keine Partei ergreifen«, fügte sie aus Gründen ihres eigenen Wohlergehens hinzu. »Ich betrachte mich eher als Vermittlerin.«

Oh nein, hatte sie das wirklich gesagt? Sie redete schon wie GERNRAT.

»Du ergreifst doch schon Partei, PILGERIN, und ich habe einen Plan.«

PILGERIN war verblüfft über dieses entschlossene Eingreifen von MR. HAPPY.

»Was ist denn mit deiner Stimme passiert?«, fragte sie. »Sie scheint auf einmal drei Oktaven höher zu sein. Ist das der Stress?«

»Das war nicht meine Stimme«, erwiderte MR. HAPPY.

»Wessen Stimme war es denn dann?«, fragte PILGERIN.

»Meine«, antwortete Veronica.

»Verfolgst du mich?«

Doch mit der Hilfe von PILGERIN und Veronica gelang MR. HAPPY tatsächlich die Flucht aus KANNABIS’ Halluzinatorischem Psycho-Zirkus. Sie fanden einen falschen Schnurrbart, legten ihm PILGERINS Mantel um und im passenden Augenblick lenkte Veronica den Torhüter ab, indem sie an seinem Hosenbein hochkletterte.

»Da ist ein Frettchen an meiner Hose!«, schrie er, und im allgemeinen Durcheinander schlüpften PILGERIN und HAPPY durch das Tor und verschmolzen mit der Menschenmenge hinter den Drehkreuzen. Veronica gesellte sich kurz darauf zu ihnen, ein wenig mitgenommen, aber unverletzt.

»Wie war der letzte Abschnitt der Reise?«, fragte sie Veronica.

»Erstaunlich haarig.«

»Ich will nichts mehr hören«, sagte PILGERIN.

Schweigend wanderten sie gemeinsam über die Ebene. Als sie sich umwandten, war der Zirkus weitergezogen. Zurück blieb nur der Müll und heruntergetrampeltes Gras. Veronica bemerkte PILGERINS Erstaunen.

»Der Psycho-Zirkus kommt und geht«, erklärte sie.

»Aber es schien so real zu sein«, erwiderte PILGERIN.

»Er wirkt sehr real, wenn du darin gefangen bist.«

»Danke«, sagte HAPPY und atmete tief die Luft der Freiheit ein.

»Gern geschehen«, sagte Veronica. »Ich hörte, du hast versucht, dort wegzukommen.«

»Ich habe es niemandem erzählt.«

»Du hast es gedacht. Das reicht.«

»Das hat man auch zu mir gesagt«, fügte PILGERIN hinzu und erinnerte sich an die Worte des Umzugshelfers. »›Wir haben gehört, du wolltest gehen‹, sagte er. Der Mann behauptete sogar, ich hätte angerufen.«

»Welcher Mann?«, fragte HAPPY.

»Er nannte sich WILL GOOD«, antwortete PILGERIN. »Aber aus Erfahrung kann ich sagen, sei vorsichtig mit dem, was du dir wünschst. Was wünschst du dir übrigens?«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte HAPPY. »Aber ich weiß, was ich mir nicht wünsche.«

Und manchmal reicht das natürlich schon aus.

Randis Reise

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