Читать книгу Die Schrift - Simon Sailer - Страница 11

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So vertrieb er sich den Tag, zeichnete schließlich noch das Muster der Deckenpaneele und die Maserung des Schreibtisches. Zwanzig vor vier kribbelten seine Beine, und er musste auf und ab gehen, um sich davon abzuhalten, früher einzupacken als gewohnt. Die Fliege lag am Fensterbrett, die Beinchen steif verschränkt nach oben gestreckt. Leo fiel ein, dass er sich zu Hause verspäten würde und nicht kochen könnte. Er schrieb seiner Frau eine vage Textnachricht, verschloss die Sachen im Schrank und schlüpfte in seine für die Jahreszeit eigentlich zu warme Daunenjacke. Er verabschiedete sich freundlicher als sonst von der Archivarin und Professor Kinnel, die ebenfalls freundlicher als sonst zurückgrüßten.

Trotz des kühlen Windes saßen an jenem Oktobernachmittag noch Menschen vor den Cafés auf den Straßen. Es war vom Institut aus nur ein kurzer Fußweg zur Urania, wo der Wienfluss in den Donaukanal einmündete und immer ein paar Fischer verseuchte Karpfen aus dem Wasser zogen. Leo sah mit Sorge einen alten Bekannten auf ihn zukommen. Er kannte Walter Immensteiner noch aus der Studienzeit und war gelegentlich bei ihm zum Tee. Immensteiner war Historiker, sie hatten zusammen ein Seminar über untergehende Hochkulturen besucht. Leo interessierten die Ägypter, Immensteiner vor allem das Römische Reich.

Leo hob die Hand, als Immensteiner in Rufweite kam, und begrüßte ihn.

»Leo«, grüßte Immensteiner zurück und erkundigte sich nach dessen Befinden und Bestimmungsort.

»Es geht mir ausgezeichnet«, sagte Leo. »Ist es nicht ein wunderbarer Tag für einen Spaziergang?« Er wollte schon weitergehen, doch dann besann er sich seiner Höflichkeit: »Und selbst? Was treiben die Kinder?«

Immensteiner bestätigte die eigene Gesundheit und berichtete knapp von seiner Tochter, die gerade einen Preis beim Fußball gewonnen hatte. Dann blickte er bekümmert auf seine Uhr, klopfte zweimal dagegen und verabschiedete sich, zu Leos großer Erleichterung. Schon im Fortgehen drehte er den Kopf über die Schulter und sprach eine Einladung zum Tee aus: »Nächsten Sonntag um fünf?«

»Vielleicht kommt auch meine Frau«, sagte Leo und ging seines Weges.

Kurz nach vier. Es gab keinen Grund, sich zu hetzen. Als er die Urania passierte, bemühte er sich, nicht verstohlen in Richtung Terrasse zu blicken, wo Peter hoffentlich schon in Stellung saß. Leo ging langsam, den Blick nach vorne gerichtet. Die Daunenjacke spannte am Nacken, und er hätte sich fast gestreckt und dadurch, ohne es zu wollen, das Signal gegeben. Er schüttelte den Kopf, um sich aufzuwecken, ging über die Brücke, die Rampe hinunter, die zum Kanal führte, und setzte sich auf eine Parkbank. Der grüne Lack war an einigen Stellen abgesplittert und abgerieben. In das freiliegende Holz hatten wahrscheinlich Jugendliche Botschaften und Symbole geschnitzt. »S+L forever«, Stefanie und Leo, schmunzelte Leo. Nicht unwahrscheinlich, dass unter den zahllosen Initialen passende dabei waren. Er fand auch »L+P«, Leo und Peter.

Eine bieder aussehende Frau kam geradewegs auf die Bank zu. Sie bewegte sich steif und trug das Haar hochgesteckt. Leo glaubte einen Moment, Greta Kinnel zu erkennen, aber diese Frau hatte ein dünneres Gesicht und war größer als die Kollegin. Eigentlich ähnelte sie Professor Kinnel nicht im Geringsten, sondern ging nur wie sie. Leo war kurzsichtig und verabsäumte es schon seit einer Weile, seine Brille anzupassen. Deshalb konnte es vorkommen, dass ihn Personen aus der Ferne an jemanden erinnerten, mit dem sie aus der Nähe betrachtet keinerlei Ähnlichkeit verband.

Die Frau setzte sich neben ihn auf die Bank, faltete umständlich eine Ausgabe der Zeit auf und vertiefte sich in den Wirtschaftsteil. Das Feuilleton legte sie zwischen Leo und sich auf die Bank. Die Schlagzeile lautete: »Umstrittene Ausstellung in Kairo«.

»Können Sie mir sagen, wie spät es ist?«, erkundigte sich Leo.

Die Frau warf einen Seitenblick auf seine Uhr, bevor sie auf die ihre sah, Auskunft gab und ein Stück von Leo wegrutschte.

»Beschäftigen Sie sich mit Ägypten?«, fragte er weiter, indem er auf den Zeit-Artikel zeigte.

»Nein … ach so, nein.«

Leo war sein Verhalten plötzlich unangenehm. Die Frau musste denken, er wolle sie kennenlernen. Er hätte so tun können, als würde er seine Uhr stellen, kam es ihm. Vermutlich hätte das nichts geändert. Die dumme Frage nach Ägypten. Am liebsten wollte er gehen, aber damit hätte er das schiefe Bild nur verfestigt. Außerdem musste er in der Gegend bleiben, und das würde erst recht unheimlich wirken.

Er entschied sich für die Flucht nach vorne: »Darf ich?« Leo griff nach dem Feuilleton.

»Bitte«, sagte die Frau.

Leo las den Artikel, ab und zu aufsehend, um festzustellen, ob sich jemand näherte. Es näherte sich niemand: Ein Pärchen spazierte vorbei, Jogger liefen den Kanal entlang und scheuchten die Tauben auf, die Krümel vom Beton pickten. Der Artikel berichtete von einer Ausstellung im Ägyptischen Museum in Kairo, die Raubgut zeigte, welches Archäologen in Zusammenarbeit mit internationalen Behörden zurückzuholen gelungen war. Der Druck des Artikels wirkte fleckig, die Buchstaben waren unterschiedlich dick. Gerne hätte Leo seinen Kugelschreiber hervorgezogen und in den Text Hervorhebungen eingefügt. Er dachte an den Stift in seinem Notizbuch, aber seine Banknachbarin hielt ihn auch so schon für verrückt genug. Er sah verlegen auf die Uhr: schon fast fünf.

»Dürfte ich diese Seite vielleicht mitnehmen?«, fragte Leo.

»Darf ich sehen?« Sie beugte sich vor. »Das Feuilleton können Sie nehmen, das lese ich nie.«

Leo bedankte sich und stand auf, rollte die Zeitung ein und klemmte sie unter den Arm. Er wich einer besonders hurtigen Joggerin aus, schlenderte ein wenig flussabwärts und kehrte, als nichts passierte, zur Urania zurück.

Peter saß vor einer halb aufgegessenen Sachertorte und einer frischen Melange. Er lehnte sich weit zurück und hielt die Arme hinterm Kopf verschränkt.

Leo setzte sich zu ihm und bestellte seinerseits eine Melange.

»Zumindest ist dir vor lauter Anspannung nicht der Appetit vergangen.«

Peter ging nicht auf die Bemerkung ein, sondern erkundigte sich stattdessen nach der Dame auf der Bank.

Leo zuckte mit den Schultern. »Ehrlich gestanden, glaube ich nicht, dass die Nachricht von ihr stammt.«

»Und die Zeitung?«

Leo schilderte, wie es sich zugetragen hatte, worauf ihm Peter die Zeitung aus der Hand nahm und den besagten Artikel begutachtete. Er räumte ein, dass der Druck ungleichmäßig war.

»Es muss nichts bedeuten«, sagte Leo.

»Es bedeutet sogar ziemlich sicher nichts«, sagte Peter. »Du hast nach etwas gesucht, das ins Bild passt, und irgendetwas findet sich immer.« Er brach mit der Gabel ein Stück von seiner Sachertorte, bedeckte es mit Schlagobers und führte es zum Mund. Dann spülte er den Bissen mit einem Schluck Kaffee herunter.

»Das kannst du nicht wissen«, sagte Leo. »Es ist schon ein seltsamer Zufall, dass sie mir gerade einen Artikel über ägyptische Grabräuber hinlegt.«

»Sie hat ihn dir nicht hingelegt, sie hat einfach die Zeitung neben sich gelegt. Hast du nicht gesagt, sie hätte extra noch geschaut, welchen Teil du überhaupt lesen wolltest?«

»Das war, sozusagen, Tarnung.«

Peter nippte nachdenklich an seinem Kaffee. »Natürlich ist dieser Zufall für sich allein betrachtet unwahrscheinlich. Aber so unwahrscheinlich auch wieder nicht. Eins zu tausend? Und wie viele Dinge passieren täglich, jede Minute? Die wahrscheinlichen ignorieren wir und die unwahrscheinlichen behandeln wir wie Orakel.«

Leo richtete sich in seinem geschwungenen Plastikstuhl auf und ließ sich wieder fallen: »Das ist doch hier etwas anderes.«

»Was sagt denn der Code?«

»Ich muss erst in Ruhe daran arbeiten.«

Peter schüttelte den Kopf: »Das ist doch keine Schnitzeljagd. Wenn dir jemand etwas verkaufen will, wird sich die Person an dich wenden.« Er drückte die vom Schlagobers aufgeweichten Krümel zwischen die Rillen seiner Gabel und schleckte sie ab, gurgelte mit dem letzten Schluck lauwarmer Melange und schluckte. »Übrigens ist dir niemand gefolgt. Ich habe erst die Gegend ums Institut erkundet und dann bin ich dir nach. Niemand hatte den gleichen Weg wie du.«

»Vielleicht haben sie dich gesehen.«

»Das glaube ich nicht. Ich war ein normaler Spaziergänger unter Dutzenden.«

»Hast du zufällig mitbekommen, wohin Greta zum Mittagessen gegangen ist?«

»Ist das die Archivarin?«

»Nein, Greta Kinnel, du kennst sie von meinem Geburtstag, sie unterrichtet am Institut.«

Peter bat um die Rechnung. »Zu Mittag war ich noch nicht da. Übrigens hätte ich sie gar nicht erkannt. Wieso?«

»Sie war heute irgendwie anders.«

Peter fragte, ob sie gut befreundet seien.

»Das wäre zu viel gesagt. Wir essen oft gemeinsam zu Mittag.«

»Jetzt schält sich die Nuss, sie hat dich versetzt. Gefällt sie dir?«

Leo lockerte seine Krawatte. »Wahrscheinlich bilde ich mir nur Dinge ein. Diese Nachricht. Ich weiß gar nicht, wie sie auf meinen Schreibtisch gekommen ist. Kerstin wollte nichts sagen.«

»Das ist jetzt aber die Archivarin?«, fragte Peter.

Leo nickte und ließ sich von Peter auf den Arm tätscheln. Sie zahlten und verabschiedeten sich.

In seiner Erzählung betonte Peter, dass er beim Abschied an jenem Tag Leo vor Paranoia gewarnt habe und davor, voreilige Schlüsse zu ziehen. Denn schon damals habe er die Gefahr gespürt und überaus ernst genommen. Er habe seine Befürchtungen nur verborgen, um Leo nicht zusätzlich zu beunruhigen. Mir kommt es dagegen so vor, als beurteilte er vor dem Hintergrund der späteren Ereignisse sein damaliges Verhalten verzerrt. Nachher wollen es immer alle schon früh geahnt haben.

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