Читать книгу Die Schrift - Simon Sailer - Страница 9

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Eines Morgens fand Leo auf seinem Schreibtisch eine Nachricht. Der Brief lag ohne Kuvert auf dem Tisch, war ungefaltet und vom Druck noch warm. Leo fragte Kerstin Stummer, die Archivarin und die Einzige, die um diese Zeit schon arbeitete, ob sie etwas über das Schreiben wisse. Sie sagte, der Zettel sei hinterlegt worden, aber von wem könne sie nicht sagen.

Wie das möglich sei, wollte Leo wissen. »Es war doch vor Ihnen niemand hier, und gestern bin ich als Letzter gegangen.«

»Der Brief lag auf dem Platz, als ich kam«, sagte Kerstin.

Leo hätte sich über die Sache nicht weiter gewundert, wenn der Inhalt des Briefes nicht so eigenartig gewesen wäre. Eine Anrede fehlte, und es stand nur ein Satz:

Bin in den Besitz einer alten Schrift gelangt, die Sie interessieren muss. Kommen Sie nach Ihrer Arbeit zum Donaukanal. Keine Unterschrift. Leo faltete das Blatt zweimal sorgfältig und steckte es in die Sakkotasche. Der Befehlston gefiel ihm nicht. Offenbar wollte ihm jemand etwas verkaufen, ein Dieb vielleicht, ein Grabräuber. Aber warum wendete sich der oder die Unbekannte an ihn? Er verdiente wenig. Jedenfalls wusste, wer immer den Brief geschrieben hatte, wie lange Leo arbeitete und auch, dass er einer alten Schrift nicht widerstehen konnte. Beides war kein Geheimnis.

Leo überlegte, ob er sich Verstärkung holen sollte, jemanden ins Vertrauen ziehen. Er wunderte sich, dass das Treffen so spät angesetzt war. So könnte er den ganzen Tag nutzen, um Vorkehrungen zu treffen. Vielleicht wurde er beobachtet und der Deal würde platzen, wenn er das Haus früher verließe als sonst. Leo überlegte, die Polizei einzuschalten, aber bislang war nichts Illegales geschehen. Außer es handelte sich tatsächlich um ein Angebot zum Verkauf eines gestohlenen Schriftstücks. Aber bewies der Brief das bereits?

Da fiel ihm Peter ein, den er hin und wieder traf. Leo hatte das Gefühl, die Archivarin würde zu ihm herüberschielen. Er legte den Brief zur Seite und tat, als vertiefe er sich in seine Arbeit. Ganz so, als wäre der Brief eine bereits vergessene Nebensache. Nachdem er zwanzig Minuten dahingewerkelt hatte, unfähig sich recht zu konzentrieren, ging er auf die Toilette und wählte Peters Nummer.

»Hallo, alter Ägypter«, meldete sich Peter.

»Hallo, Peter«, flüsterte Leo und räusperte sich.

»Bist du krank?«

»Ich bin auf der Toilette und kann nicht frei sprechen.«

»Du klingst gehetzt.«

»Ich brauche deine Hilfe, Peter, zumindest deinen Rat.«

Peter erklärte sich zu allem bereit.

»Auf meinem Schreibtisch«, sagte Leo, »lag diesen Morgen ein Brief. Jemand bietet mir eine ›alte Schrift‹ an. Ich soll nach der Arbeit zum Donaukanal kommen.«

»Sonst nichts?«

»Keine Anhaltspunkte, keine Anrede, keine Unterschrift.«

Peter gab zu, dass es seltsam war.

»Soll ich die Polizei verständigen?«

»Wo am Donaukanal ist der Treffpunkt?«

»Steht dort nicht.«

»Dann folgt dir jemand von der Arbeit.«

»Meinst du?« Leo sah sich um.

»Sonst könnten sie dich nicht finden.«

»Du glaubst, es sind mehrere?«

»Das habe ich nur so gesagt.«

»Peter, bist du noch dran?«

»Warte, ich denke.«

Leo wartete.

»Wir machen es so«, sagte Peter schließlich. »Du machst einfach deine Arbeit wie immer und verlässt das Haus wie immer. Das ist um vier, nicht?«

»Punkt vier, ja.«

»Dann gehst du zum Donaukanal, und zwar zu dieser Stelle gegenüber der Urania.« Peter schnalzte ein paar mal schnell und leise mit der Zunge. »Ich werde im Café Urania sitzen und mir die Sache ansehen. Wenn etwas schiefgeht, gibst du mir ein Signal und ich verständige die Polizei.«

»Was für ein Signal?«

»Du streckst dich einfach«, schlug Peter vor. »Als wärst du müde und verspannt, die Arme hoch über den Kopf, damit ich es gut sehe.«

Leo willigte ein, fragte noch, ob alles gut gehen würde. Peter beruhigte ihn, er müsse sich keine Sorgen machen, er werde vorher die Gegend erkunden, es bestehe keine Gefahr.

Auch den Rest des Tages hatte Leo Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Die Archivarin räumte Dokumente von einem Schrank in den anderen und saß ansonsten an der Rezeption und las Facebook. Manchmal lachte sie auf. Dann hatte ihr ein Tiervideo besonders gefallen; ihre Wall war voller Tiervideos.

Abgesehen von Karin war nur Professor Kinnel im Archiv, eine Spezialistin für meroitische Schrift: eine junge Schrift, die den Bildcharakter der ägyptischen Hieroglyphen abgelegt hat und Buchstaben mit Silbenzeichen kombiniert. Die Schrift hatte man decodiert, aber man verstand die Sprache nicht. Kinnel redete immerzu davon, die meroitische Sprache zu entschlüsseln. Ihre Vorlesungen drehten sich dementsprechend hauptsächlich um linguistische Fragen. Manchmal aß Leo mit ihr in der Kantine zu Mittag und ließ sich von den Fortschritten berichten. Anscheinend näherte sie sich der Lösung des Problems. Soweit ich weiß, nähert sie sich noch heute. Die Schwierigkeit liegt vor allem darin, dass wir so wenig über das Leben der Meroer wissen. Manchmal frage ich mich, ob eines Tages Archäologen einer fernen Zukunft die Trümmer unserer Hochkultur untersuchen und angesichts der Flut von Dokumenten und Daten an der kryptischen deutschen Sprache verzweifeln werden. Und dann gäbe es eine wie Greta Kinnel, die es sich in den Kopf setzen würde, die Facebook-Wall von Kerstin Stummer zu begreifen.

Heute aß Greta auswärts mit einer Freundin. Das tat sie sonst nie, und Leo fragte sich, ob ihr Verhalten mit dem Brief zusammenhängen mochte. Womöglich steckte sogar sie hinter der Sache. Andererseits hasste die brave Forscherin Geheimnisse. Wobei – Leos Augenlid zuckte – die besten Geheimnistuerinnen wohl eben diesen Eindruck zu erwecken verstanden.

Eine Fliege setzte sich auf die Fotografie einer demotischen Hieroglyphe. Leo wischte mit der flachen Hand über das Blatt, wobei ein frischer Strich verschmierte. Die Fliege wich aus, zeichnete eine Acht in die Luft und setzte sich diesmal auf Leos Arm. Als Kind konnte er Fliegen erschlagen, aber aus irgendeinem Grund gelang es ihm nicht mehr. Entweder waren die Fliegen schlauer und schneller geworden oder er langsamer. Er ließ die Fliege an seinem linken Unterarm lecken und zeichnete sie dabei. Kein schlechtes Schriftzeichen, eine Fliege, dachte Leo.

Die Schrift

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