Читать книгу Die Schrift - Simon Sailer - Страница 7

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Leo erforschte übrigens nicht den Inhalt der Texte. Für die Lebensweise der Ägypter interessierte er sich nur so weit wie zur Enträtselung der Bildzeichen nötig. Er wollte aus den alten Texten etwas über Schrift erfahren, und zwar nicht nur über ägyptische, sondern über jede Schrift. Er sprach zuweilen von seinem Vorhaben, eine eigene Bild-Lautschrift der Neuzeit zu entwickeln, und hielt deshalb immer nach charakteristischen Bildern der Zeit Ausschau. »Es überrascht Sie vielleicht, aber die Faust ist immer noch das elementare Symbol unserer Kultur« und dergleichen Sentenzen pflegte er von sich zu geben. Oder er entdeckte etwas, das ihn sichtlich überraschte: einen Aschenbecher, in dem eine Zigarette abbrannte, deren aschene Spitze herunterhing wie der Stab eines Seiltänzers. Dann zog er sein Notizbuch hervor und zeichnete mit kurzen, schnellen Linien eine Skizze. Er war ein geübter Zeichner, und obwohl er den Stift fast hektisch über das Papier schickte, ließ er kein Detail aus, nicht den Glanz der Keramik und nicht den Schattenwurf der Aschestange. Besonders gut traf er in seinen Zeichnungen die Oberflächen. Ein paar Striche, und man verstand, dass man es mit einem Stück Stoff oder mit der Maserung eines Holzes zu tun hatte. Für mich waren diese Skizzen kleine Kunstwerke, aber ihm waren sie nur Ausgangspunkt, Vorstufe zur eigentlichen Arbeit. Am nächsten Tag im Archiv vereinfachte und abstrahierte er sie und gelangte derart zu einem schlichten Symbol. So schloss er den Vorgang vorläufig ab. Ich sage vorläufig, weil das Symbol in einer Kiste landete, wo es darauf wartete, in das sich ständig erweiternde Schriftsystem entweder integriert zu werden oder in der Schublade der verworfenen Symbole zu enden, aus der kaum eines je entkam.

Nebenbei bemerkt arbeitete Leo fleißig, und noch in der Freizeit kreisten seine Gedanken um die Schriften. Dennoch klappte er allabendlich um fünf vor vier die Mappen zusammen und verstaute sie in seinem Schrank in der Archivecke. Er hatte vier tiefe Laden und darauf etwas Platz für Ordner, mehr brauchte Leo nicht. Die Originale holte er täglich neu aus der Bibliothek und die Fotografien benötigten wenig Platz. Die unbeschriebenen druckte er nicht einmal aus, sondern sammelte sie auf einer externen Festplatte, die über ein Netzteil separat mit Strom versorgt wurde und beim Laden ratterte und brummte. Alle Dateien hatte Leo nach Schriftsystemen und Epochen sortiert und auf entsprechend benannte Ordner verteilt. Kurz vor vier fuhr er seinen Computer herunter, steckte die Festplatte aus, rollte die Stromkabel ein und schloss alles zusammen in den Schrank. Seine Arbeit bedeutete ihm die Pyramiden von Gizeh und den Leuchtturm von Alexandria, aber er verstand wohl, dass sich außer ihm kaum jemand dafür begeisterte. Ich habe mich oft gefragt, wie manche Leute jahrelang einer Arbeit nachgehen können, für die sie höchstens die Anerkennung eines winzigen Kreises erhoffen dürfen. Wer keinen Ruhm erwartet, ist gegen sein Ausbleiben immun. Eine bessere Erklärung habe ich nicht – ich irre letztlich ohne Karte durch ein Labyrinth.

Um Punkt vier also trat Leo den Heimweg an, um für seine Frau Stefanie, die länger arbeitete als er, Abendessen zu kochen. Seine Frau war Ressortleiterin für Innenpolitik bei einer großen Tageszeitung und kam jeden Abend später als geplant und erschöpft nach Hause. Leos Arbeit war leicht und machte ihm Spaß, weshalb es sich gut anfühlte, ihr zumindest das Vergnügen frischer Eiernockerln, eines Strudels oder eines bunten Salats zu bereiten. Wenn sie den gedeckten Tisch sah, weiteten sich ihre Augen und sie drückte Leo und küsste ihn auf den Mund.

Die Schrift

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