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Kapitel 2

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Am nächsten Morgen sah die Welt schon wieder anders aus. Gleich nach dem Frühstück ritten wir mit Sissis Lipizzaner-Wallach Midnight aus. Dass ich diesen weißen Arrogantling, der auf der Musicalbühne den Winterschlitten des Königs zog, nicht unbedingt mag, ist ja bekannt. Ich hasse es, wie er sich zwischen Sissi und mich drängt, ja, ich bin eifersüchtig, wenn sie mit ihm schmust, ihm einen Kuss auf die rosa Nüstern haucht, seine Mähne hingebungsvoll kämmt, seine Schönheit und seinen Adel rühmt und jedem, der es nicht wissen will, erklärt, dass er auf den berühmten Lipizzaner-Hengst Conversano zurückgeht. Da kann ich durchaus dagegenhalten: Meine Vorfahren hatten schon mit König Ludwig II. gespielt. Der Zwinger, aus dem ich stamme, »Die Zwerge aus der Pöllatschlucht«, ist deutschlandweit für die schönsten und klügsten Jack-Russel-Terrier berühmt. Oder sogar weltweit? Egal.

Trotz allem, die Ausritte sind toll. Dann kann ich frei neben den beiden laufen und mich des Lebens freuen, mal hier, mal da schnüffeln, dann wieder flotte Sprints hinlegen. Nur an den viel befahrenen Straßen muss ich an die Leine, weil Sissi meint, dass es zu gefährlich sei für einen kleinen Hund wie mich.

An diesem Maitag bot das Allgäu eine kunterbunte Kulisse für alle Aktivitäten in der freien Natur. Der Löwenzahn stand in voller Blüte; lustvoll reckten sie ihre gelben Sonnenblüten in die Höhe, wunderbar der herrliche Kontrast, den sie zum frischen Grasgrün der Blätter boten, wenn man an ihnen vorüberging. In der Entfernung jedoch verschwammen die Abertausend Blüten zu einem gelben anschmiegsamen Netz, das jemand über die weich geschwungenen Hügel gelegt zu haben schien. Einige Berggipfel trugen noch weiße Zipfelmützen. Dieser Anblick erinnerte mich an die berühmte Schweizer Schokolade, die Sissi so gern in sadistischer Manier vor meinen Augen genoss, ohne mir auch nur ein kleines Berggipfelchen zukommen zu lassen.

Ich liebte es, die Berge zu betrachten. Bei den näher gelegenen konnte man einzelne Wege und sogar Bäume erkennen. Ich liebte die Vorstellung, an einem Felsvorsprung auf einem der grauen Riesen zu sitzen, den Kiesabhang herunter auf mein geliebtes Voralpenland zu sehen und das Kitzeln im Bauch zu spüren. Oder ich malte mir aus, ich wäre ein Adler und würde einfach zu den Felsen fliegen, irgendwo zwischen den Latschenkiefern landen und die Ruhe und den Ausblick genießen. Die Indianer sagen, die Berge geben Kraft. Wie sie seit Jahrtausenden allen Widrigkeiten trotzen; nur geringe Spuren hat der Zahn der Zeit an ihnen hinterlassen. Und bei uns Lebewesen? Welche Spuren hinterlässt das Leben bei uns?

Sissis Motzereien holten mich aus meinen Träumereien. Sie beklagte sich, dass die Löwenzahnfelder schon in einigen Wochen vom Hahnenfuß verdrängt werden würden, der zwar ähnlich gelb blühte, aber nicht so schön intensiv leuchtete. Außerdem war er giftig für Pferde.

Ich schnupperte am Gras. Bald würde das erste Gras geschnitten werden, das Allergikern wie Sissi das Leben schwermachte. Sissi sah diese Monokulturlandschaft kritisch und wünschte sich bunte, naturbelassene Wiesen mit allerlei gesunden Kräutern und Wildblumen. Manchmal pflückte sie einen bunten Strauß und stellte ihn auf den Küchentisch. Sehr hübsch sah das aus und wie es erst duftete …

Müde, aber glücklich ließ ich mich nach dem Ausritt ins Heu fallen, während Sissi das Pferd absattelte und versorgte. Dann fuhren wir nach Hause.

Um zwei Uhr nachmittags kam Nikolaus und wir setzten uns gemeinsam auf der Terrasse in die Sonne. Während beide es vermieden, den Überfall auf Ellen anzusprechen, kam das Gespräch auf die bevorstehende Musicalpremiere. Die Vorbereitungen liefen auf Hochtouren. Ich hatte auch schon fleißig mitgeprobt, schließlich durfte ich wieder auf dem Königsschlitten neben dem König sitzen. Toll. War ja auch die beste Szene des ganzen Musicals.

»Das wird der Knüller, Sissi! So eine Premiere hat die Welt noch nie gesehen!« Nikolaus’ hellblaue Augen strahlten noch mehr als sonst, während er das samtweiche Fell meines Kopfes genau an der richtigen Stelle streichelte.

Sissi lauschte jedes Mal gespannt, wenn er davon erzählte. Seit sie im Büro des Festspielhauses arbeitete, bekam sie nicht mehr so viel vom Trubel hinter der Bühne mit wie damals, als sie noch öfter mit Midnight an den Proben teilgenommen hatte. Vor und nach unseren Auftritten hatte sie Zeit in ihrem geliebten Theater und mit den Schauspielern verbracht. Mittlerweile gab es dauerhaft ein zweites Musicalpferd, das sich mit Midnight abwechselte. Eine Bereiterin war eigens dafür angestellt worden. Sie durfte – Sissi hatte ihre Erlaubnis gegeben – auch Midnight vor der Vorstellung vorbereiten und ihn durch seinen Auftritt führen. Mein Frauchen wurde als ihre Urlaubsvertretung eingeteilt und sonst nur einmal unter der Woche. So hatte sie mehr Zeit für Nikolaus an den Wochenenden.

Auch für meinen Part gab es eine zweite Besetzung. Natürlich war dieser Jack-Russel-Terrier mir weder in Aussehen noch in Sachen Stammbaum ebenbürtig. Aber nun ja, wer könnte sich schon wirklich mit mir messen? Moritz hieß er. Ich hatte ihn nur ab und zu bei allgemeinen Besprechungen und Proben gesehen und ihm keine weitere Aufmerksamkeit geschenkt.

Meine Menschen saßen nebeneinander auf der gelben Hollywoodschaukel auf unserer Terrasse. Nikolaus hatte den Arm um Sissi gelegt, während er lebhaft erzählte: »Und weißt du, was der Clou wird?«

»Nein, seit unserem Abendessen spannst du mich ja auf die Folter«, stellte Sissi trocken fest.

»Stimmt, also, normalerweise verschwindet König Ludwig ja beim Schlussakt im Wasserbassin, gell?« Er machte eine theatralische Pause und vor meinem inneren Auge sah ich auf einmal wieder, wie Andreas Fischbach damals auf Thomas Gubath, den König-Ludwig-Darsteller, mit einer Latte eingeschlagen hatte. Ich schüttelte mich und wollte dieses unschöne Bild schnell wieder loswerden. Doch es erinnerte mich schmerzlich daran, dass Thomas zwar nicht an jenem Abend, aber kurz darauf tatsächlich ermordet worden war. Dass es selbst im idyllischen Ostallgäu solche Dramen gab, war beängstigend. Sissi betonte oft, wie hart die Menschen hier seien, was damit zusammenhänge, dass dieser Ort, der Königswinkel, mit spiritueller Energie geradezu überflutet sei. Und weil dort, wo viel Licht, eben auch viel Schatten sei. Schon König Ludwig II. hatte an diesen »kosmischen Einstrahlungspunkten« seine Schlösser bauen lassen.

»Bei der Premierenfeier am Freitag wird er nicht ins Wasser gehen, sondern …«, Nikolaus ging mit der Stimme hoch, sah Sissi mit hochgezogenen Augenbrauen von der Seite an und gestikulierte wie ein Moderator, der den Höhepunkt einer Show präsentiert.

»… aus dem Wasser kommen?«, beendete Sissi ungläubig den Satz und sah Nikolaus mit einem großen Fragezeichen im Gesicht an.

»Genau!«, rief er erfreut aus wie ein kleiner Junge, der gerade ein Legoauto fertig gebaut hatte und das Lob seines Vaters einholte.

»Hä?«, kam es nun von Sissi.

»Ist doch logisch! Das ist ein prima Symbol dafür, dass jetzt der König wieder da ist.« Er drückte Sissi fest an sich.

»Ach so«, sagte sie und musste sich diese Interpretationsmöglichkeit wohl erst einmal durch den Kopf gehen lassen. »Seit wann stehst du denn eigentlich auf mollig?«, fragte sie dann betont beiläufig und wollte witzig dabei klingen, was ihr allerdings nicht gelang.

Ich wusste, was sie bedrückte. Sie hatte neulich, als sie sich schnell einen Kaffee aus der Cafeteria holen wollte, gesehen, wie Nikolaus dort mit Sonja Schön saß. Die Schön war eine unangenehme Zeitgenossin, die gekonnt ihre Ellbogen einsetzte und sich bei den wichtigen Leuten einschleimte, wenn es darum ging, ihre ehrgeizigen Ziele zu erreichen. Ich hasste sie und sie hasste mich und Sissi. Schon bei der Premiere von »Ludwig und Richard« hatte sie dafür plädiert, »den Hund« aus der Nummer zu streichen. Was mich hingegen amüsiert, ist die Erinnerung an den Empfang damals, als ich am Buffet versehentlich das Tablett mit den Leberkässemmeln heruntergerissen hatte und alle dachten, sie hätte es mit ihrem dicken Hintern heruntergestoßen. He, he, Sissi weiß bis heute nichts von den gestohlenen Leberkässemmeln.

Nun war Frau Schön, die alle aufgrund ihrer Körperfülle nur »Blunzn« nannten, wieder im Team, sehr zum Ärger von Sissi und mir. Nikolaus hatte es nicht verhindern können, obwohl er einer der Anteilseigner war, und es uns damit zu erklären versucht, dass sie als Personalrätin schwer kündbar wäre und die neuen Eigentümer von ihrer Leistung recht angetan wären.

Nikolaus hob nun die Augenbrauen erstaunt. »Ach so, mei, ich liebe es halt, mit gewichtigen Persönlichkeiten …«

»Griaß euch, störet mir?«, kam es von hinter der Ecke. Schon steuerte Wackerl die Holzbank vor dem Wohnzimmerfenster an.

»Nein, Wackerl, sei doch nicht so unhöflich, wir wollten euch wirklich nicht stören«, ergänzte Rosl ihren forschen Mann in feinstem Hochdeutsch.

»Schmusa könnens no lang genug. Wir waren grad in der Nähe und dachten, wir schauen mal bei euch vorbei«, sagte er und machte es sich auf der Bank gemütlich. Dabei grinste er und zeigte seine schönen Zähne. Ich lief schwanzwedelnd auf die beiden zu. Die beiden waren echte Freunde geworden. So viel hatte man schon zusammen erlebt.

»Super, schön, dass ihr da seid«, rief Sissi aus und holte Gläser und Getränke, stellte sie auf den Tisch und drückte sich wieder an Nikolaus.

Ich kuschelte mich neben Wackerl auf die Bank und lauschte. Natürlich unterhielten sie sich hauptsächlich über das Musical.

»Wisst ihr schon, dass der Nikolaus jetzt auf mollig steht?«, fragte Sissi in die Runde, während Nikolaus gespielt genervt mit den Augen rollte. »Ja, die Blunzn und er haben neulich zusammen in der Cafeteria gesessen. Und amüsiert haben sie sich!«

Wackerl schaute erstaunt. »Dass man gwampede Weiber mog, ist ja okay, aber so böse muss man sich nicht antun.«

Sissi lachte laut auf.

»Sie mag ja nicht die Sympathischste sein, aber lasst sie halt einfach in Ruhe«, nahm Rosl die Schön in Schutz, obwohl auch sie und Wackerl die intrigante Art der Blunzn längst durchschaut hatten.

»Entschuldigung, die hat sich an meinen Tisch gesetzt. Soll ich dann vielleicht aufstehen und gehen?«

»Zum Beispiel«, stellte Sissi fest, was sie auch ernst meinte.

Nikolaus guckte sie fragend von der Seite an. »Entschuldigung, ich bin ein höflicher Mensch, außerdem habe ich mit ihr gesprochen und nicht …« Er schüttelte den Kopf. »Die Gelassenheit ist eine anmutige Form des Selbstbewusstseins, frei nach Marie von Ebner-Eschenbach.« Souverän grinste er in die Runde.

»Ich glaub auch, dass der Nikolaus schon weiß, was er an seiner Sissi hat, und beruflich und privat gut trennen kann«, meinte Rosl, während sie ihr sonnenbebrilltes Gesicht in die Sonne streckte und mit ihrer braunen Kurzhaarfrisur und den feinen Gesichtszügen gut aussah wie immer.

Sissi ging in die Küche, ich trabte nebenher. Wenn sie in die Küche ging, verhieß das immer etwas Gutes …

Sorgfältig schnitt sie eine Ananas und eine Melone auf. Dann stolzierte sie wieder auf die Terrasse und stellte den Teller mit den Obststücken in die Mitte des Tisches. Ich hüpfte zu Wackerl auf die Bank und stellte meine Vorderpfoten auf seine Oberschenkel.

»Ja, Ludwig, mogsch auf mein Schoaß?« Und schon saß ich breit auf seinen Beinen. »Ja frisst der o a Obscht?«, fragte er Sissi.

Du kannst mich auch selbst fragen! Und fressen tu ich auch nicht! Ich guckte ihn vorwurfsvoll an.

»Mogscht ebbas?« Mit diesen an mich gerichteten Worten ergriff er einen Melonenschnitz und eh er sich’s versah, tauchte ich mein Raubtiergebiss in das saftige Stück Melone. Das rote Fruchtfleisch spritzte und tropfte nur so. Laut schmatzend schlang ich die fruchtige Erfrischung hinunter und Sissi hatte Mühe und Not, mir die grüne Schale zu entreißen. Alle am Tisch lachten, Wackerl schien nicht glauben zu können, dass ich auch gesunde, vegetarische Kost genussvoll verspeiste.

Er muss noch viel über mich lernen.

Sissi war mit einer Serviette herbeigeeilt, um Wackerls Hose vor den Fruchtflecken zu retten. Aber zu spät.

Auf einmal raschelte es hinter der Hausecke. Noch mehr Besuch?

Es war Ellen, die um die Ecke geeilt kam.

»Hallöle!«, rief sie in die Runde. »Das ist ja ein netter Kaffeeklatsch hier, darf ich mich dazugesellen?«

»Sigscht du do an Kafä?«, fragte Wackerl grinsend.

»No, itta!«, äffte Ellen Wackerl fröhlich nach.

Wackerl, der in seinem Beruf als Schauspieler deutlich und meistens auch Hochdeutsch sprechen musste, war ein großer Verfechter des Allgäuer Dialekts. Er dichtete auch nette Gedichtbände in Mundart, die sich als kleine Büchlein nicht nur in Bayern gut verkauften. Leser in Cuxhaven zum Beispiel brauchten dafür wahrscheinlich einen Dolmetscher.

»Freilich darfst du dich dazugesellen und Kaffee kannst du auch gern haben«, meinte Nikolaus, während Sissi Ellen zur Begrüßung umarmte.

Ich sprang von Wackerls Schoß und holte mir meine Begrüßungsstreicheleinheiten von Ellen ab. Sie trug einen luftigen Sommeroverall, dazu braune Sandalen, die schulterlangen Haare hatte sie klassisch zu einem Dutt gebunden. Ihre braunen Augen strahlten heute nicht ganz so wie sonst. Ob das an ihrer Platzwunde lag, die mit einem Pflaster bedeckt war? Noch ehe Wackerl diesbezüglich einen dummen Spruch tun konnte, eilte sie zu Sissi in die Küche, die dort Cappuccino zubereiten wollte.

Hatten die beiden etwas Geheimes zu besprechen? Nicht ohne mich. Und siehe da – Ellen packte Sissi an der Schulter und sah sie mit funkelnden Augen an. »Ich muss dir was sagen.«

»Kann ich was helfen?«, tönte es von der Terrasse dazwischen.

»Nein danke«, zwitscherte Sissi zurück. »Schieß los!«, flüsterte sie, während ich mich groß vor Ellen aufstellte, um alles mitzubekommen.

»Ich hab dir doch erzählt, dass ich vor zwei Wochen jemanden kennengelernt habe.«

Oh je, ich ahnte Schlimmes. »Jemanden kennenlernen« heißt bei meinen lieben Zweibeinern, sich zu verlieben. Und wenn ich da nur an Ellens letzten Lover, den aalglatten Immobilienfuzzi, dachte, wurde mir angst und bange. Oder war da noch einer dazwischen gewesen?

»Er hat mich gestern Abend noch angerufen. Franz Ferdinand von Hohenstein heißt er und ist so …«

»Hand ihr ebbas Geheimes zum Verzella?«, rief es von der Terrasse dazwischen.

Sissi und Ellen kicherten wie junge Mädchen.

»Ne, ne, guter Cappuccino braucht seine Zeit«, antwortete mein Frauchen laut. »Franz Ferdinand von Hohenfels, klingt toll!«, erwiderte sie nun wieder im Flüsterton.

»Hohenstein«, korrigierte Ellen. »Und er sieht umwerfend aus«, schwärmte sie und erklärte en detail, wie toll der dunkelhaarige, schlanke Mann daherkam. Dieser oberflächliche Damen-Gossip interessierte mich nicht wirklich, obwohl ich eigentlich schon gern gewusst hätte, mit wem sich Ellen so abgibt. Dennoch hörte ich, dass er das Musicaltheater sponserte und Nikolaus also nicht unbekannt war.

»Da muss er ja richtig reich sein!«, stellte Sissi fest.

»Ja, irgendwie selbstständig, aber wie, habe ich auch noch nicht ganz verstanden.« Als die Cappuccinos fertig waren, gingen Sissi und Ellen wieder nach draußen. Ich folgte ihnen.

Wackerl nutzte die Gelegenheit: »Was hosch du denn am Hiara?« Ellen jedoch winkte nur ab und schüttelte den Kopf, dabei verdrehte sie die Augen.

Sissi erzählte Wackerl von Ellens unschöner Begegnung mit dem Katzenmörder Klaus, während diese sich genussvoll ihrem Cappuccino widmete, Zucker unter den Milchschaum rührte und genussvoll den Löffel zum Mund führte. Ich setzte mich neben sie und sah sie sehnsuchtsvoll aus meinen Mandelaugen an. Vielleicht durfte ich ja die Tasse auslecken. Ich liebte Milchschaum …

Wie es der Zufall so wollte, kam die Rede auch auf die Sponsoren des Musicals. Auch der Name Hohenstein fiel. Sissi und Ellen warfen sich verschwörerische Blicke zu.

»Was hat Ellen denn mit dem von Hohenstein zu tun?«, fragte Nikolaus mein Frauchen, als sie abends auf dem Sofa saßen.

»Wieso?«

»Ich frag ja nur!«

»Kennst du ihn näher? Hat er Dreck am Stecken, wenn du schon so fragst?« Jetzt maß sie ihn mit Blicken ab.

»Nein.« Er wiegelte ab und schüttelte den Kopf, als wollte er den Gedanken loswerden, dass Ellen und Hohenstein ein Paar wären.

»Was?«, bohrte Sissi nach und sah Nikolaus fest in die Augen.

Er atmete aus, wählte seine Worte – wie immer – mit Bedacht: »Ich finde nur … aber ich kenn ihn ja nur von Besprechungen … Ich finde, er passt nicht zu Ellen. Aber mach dir selbst ein Bild von ihm, du wirst ihn bei der Premiere kennenlernen.«

»Wieso? Ist er ein arroganter Schnösel? Ein Stenz? Ein Weiberheld?« Sissis Fantasie schlug wieder Purzelbäume.

Doch sie erhielt keine Details mehr über diesen Unbekannten. Nach dem Sonntagskrimi im Fernsehen gingen wir zu Bett.

Am Dienstag in der Frühe ertönte das Rammstein-Gitarrenriff. Sissis Handy. Sie las die Textnachricht. Ich stupste sie an den Oberschenkel, da ich auch wissen wollte, was los war.

»Boah, Ludi. Ellen hat geschrieben. ›Der Typ ist vielleicht doch nicht so toll. Hat ein Kosmetik-Unternehmen. Denke, da läuft irgendwas Schmutziges!!! GLG Ellen.‹ Oh je. Ich hab ein ganz schlechtes Gefühl, Ludwig. Hoffentlich baut Ellen nicht wieder Mist. Für Männer hat sie kein Händchen.«

Sissi arbeitete den ganzen kühlen, regnerischen Tag im Büro im Festspielhaus. Ellen hatte frei, da sie zur Premiere eingeteilt war. Abends fuhren wir zu ihr.

Mit dem Öffnen der Haustür nahm sie Sissi beiseite und flüsterte: »Der Andi ist da. Der muss nicht wissen, dass ich in Franz Ferdinand verknallt bin.« Schon eilte sie in die Küche und wir hinterher.

Andi hieß eigentlich Andreas Ebert und war schwer in Ordnung. Er war der Vorsitzende des örtlichen Tierschutzvereines, für den auch Ellen aktiv war. Sissis Engagement für den Tierschutz beschränkte sich darauf, dass sie den Jahresbeitrag für den Verein bezahlte, für das jährliche Fest einen Kuchen buk und sich um Midnight und mich kümmerte. Das war Tierschutz genug, fand ich.

Sissi kannte Andreas von früher, als Jugendliche waren sie befreundet gewesen. Oft hatten sie gemeinsam Andis Oma Ilse besucht, die in einem Jägerhäuschen am Waldrand lebte. Davon erzählte Sissi noch heute, denn es war ihr Traum, in so einem schönen Haus im Grünen zu leben. Während ihrer Studienzeit hatten sich die beiden ein wenig aus den Augen verloren. Erst durch den Tierschutzverein waren sie wieder aufeinandergetroffen.

Andreas saß bereits auf dem Sofa und begrüßte mich freundlich, als ich schwanzwedelnd auf ihn zurannte. Er war ein eher klein geratener Mann Anfang 30 in Jeans und Karohemd. Hunde mochte er sehr gern, lieber jedoch mochte er Ellen. Jeder wusste, dass er in sie verliebt war, sich jedoch nie wirklich traute, ihr seine Liebe offen zu gestehen. Er hätte mit Sicherheit keine Chance bei Ellen. Aber Männer litten ja oft an Selbstüberschätzung. Gerade die größten Versager hatten überhaupt keine Skrupel, tolle Frauen anzusprechen, während kluge und gefühlvolle Männer ihre Chancen aus Angst, einen Korb zu bekommen, ungenutzt ließen.

Als Sissi das Wohnzimmer betrat, sprang er eilfertig auf.

»Griaß di, Andreas!«, sagte Sissi freudig.

»Servus Sissi, schön, dich zu sehen!« Meine Menschen setzten sich, ich platzierte mich neben Sissi auf dem Sofa.

»Franz Ferdinand von Hohensteins Kosmetikkonzern arbeitet für Merk.« Es herrschte plötzlich Krisenstimmung, als Ellen dies verkündete, wobei sie den Namen »Merk« voller Abscheu ausspie. Sie sah uns mit leicht bitterer Miene an. Merk war allgäuweit bekannt für seinen Schlachtbetrieb. Andi hatte durch Recherchen herausgefunden, dass er eben auch ein Tierlabor besaß, von dem nur wenige Leute wussten. Irgendwie hätte es Merk aber immer geschafft, unliebsame Besuche der Tierschutzbehörde erfolgreich abzuwehren. Oft schon hätten Tierschützer versucht, ihm das Handwerk zu legen, hätten das Gelände des Tierlabors in Schongau besetzt und versucht, Journalisten einzuschleusen. Wer wusste schon, wen Merk alles bestochen hatte?

»Der Hohenstein verwendet in seinem Kosmetikkonzern Substanzen, die Merk produziert«, fuhr Ellen fort. »Er behauptet aber, diese würden nicht aus dem Tierlabor stammen! Für seine Kosmetikprodukte verwendet er nur Stoffe, die bei Schlachtungen als Abfallprodukte anfielen. Die meisten Menschen wissen gar nicht, was sie so essen und sich auf die Haut schmieren.«

Andi musterte sie betreten. »Woher weißt du das? Hat er dir das erzählt?«

»Recherche!«, kam kleinlaut von Ellen, die Andi nun ein Stück Kuchen reichte, um von dieser Thematik abzulenken. Für den Moment gelang das auch, denn Andreas nutzte die Chance, die beiden Damen durch sein Wissen zu beeindrucken. Er erklärte, dass der Stoff Keratin aus gemahlenen Hufen hergestellt und für Shampoos verwendet würde, ebenso Stearinsäure und Asparaginsäure. Fibrostimulin aus Kälberblut und Allantoin, ein Abbauprodukt der Harnsäure, würden in Antifaltencremes verwendet.

»Neulich hat er mir eine Creme mit Hyaluronsäure geschenkt«, sagte Ellen. Gedankenverloren schüttelte sie den Kopf.

»Würde mich echt wundern, wenn die das nicht an armen Labortieren testen würden«, gab Andi ernst zu bedenken. Sissi und Ellen wurden bleich im Gesicht, während er weitererzählte. »Botox wird zum Beispiel an Mäusen getestet. Sie bekommen das Gift in den Bauch gespritzt. 50 Prozent sterben nach drei qualvollen Tagen an Atemnot und Muskellähmung. Der Test ist unter dem Begriff LD 50 bekannt.« Andi wirkte deprimiert.

Ellen und Sissi ebenfalls.

»Wie kann man nur so grausam sein?«, brachte Sissi mühsam hervor und streichelte mir den Kopf.

»Aber Franz Ferdinand …«, begann Ellen, »… von Hohenstein«, fügte sie schnell hinzu, als Andreas sie überrascht anschaute, »legt doch großen Wert darauf, dass sein Betrieb öko ist. Er wirbt damit: ›Hohenstein Cosmetics. Fair, regional, nachhaltig‹!«

»Tja, Papier ist geduldig«, gab Andreas zu bedenken. »Denk doch nur an das schmutzige Geschäft mit den Daunen. Da werden die armen Viecher halt nicht hier gerupft, sondern im Ausland. Und die Firmen hier waschen ihre Hände in Unschuld!«

Es herrschte einen Moment lang Stille.

Ellen unterbrach das bedrückte Schweigen und versuchte, einen Hoffnungsschimmer zu geben: »Franz Ferdinand …« Verwundert und mit gerunzelter Stirn sah Andi sie an. Ellen korrigierte sich sofort: »… also der Hohenstein will diese Woche noch mit Merk sprechen. Er sagt, er möchte auf keinen Fall mit Tierquälerei in Verbindung gebracht oder gar in einen Skandal verwickelt werden. Der mag Tiere doch auch voll gern.«

Andreas verkniff sich eine Nachfrage ob der vertraulichen Anrede und sah Sissi an, die seinen Blick erwiderte. Sie schienen beide nicht daran zu glauben, dass Hohenstein der große mitfühlende Tierfan war. Nikolaus hatte ja auch nicht allzu begeistert von ihm gewirkt.

Ellen guckte verloren in ihre Kaffeetasse und schien einen Entschluss zu fassen. »Ich denke, wir sollten zu Merk gehen. Unabhängig von Hohenstein.« Sie wandte sich an Andreas. »Du hast doch einiges Material. Wir setzen ihm die Pistole auf die Brust.«

Andis Blick erhellte sich. »Ja klar. Ich hab doch einen ganzen Ordner über den Betrieb daheim.«

Sissi wirkte unschlüssig. »Seid ihr sicher? Ich glaube, der Typ ist ziemlich gefährlich. Wir sollten den mal googeln.«

Schon öffnete Ellen ihr Laptop und gab wenige Augenblicke später den Namen Helmut Merk ein. Es erschien eine Homepage, die seinen Schlachtbetrieb präsentierte. Natürlich mit einer Bergkulisse als Hintergrundbild und Zeichnungen von grinsenden Schweinen und Kühen. Pervers! Sterben im Allgäu! Dieser Schlachthof sei prämiert und werde regelmäßig von Tierschützern besucht.

Ellen, Andreas und Sissi schnaubten verächtlich. Was kann an einem Schlachthof schon tierfreundlich sein?

Über das Labor fanden sie keine Informationen. Unter dem Impressum erschien ein Foto von Merk: ein grobschlächtiger Mann Ende 50 vom Typ Viehhändler.

»Der sieht gefährlich aus. Bitte geht da nicht allein hin«, bat Sissi und hoffte auf Ellens und Andis Vernunft. Für besonderen Mut war meine Sissi ohnehin nicht gerade bekannt.

Doch wenn Tierschutzaktivisten auch nur eine Spur von Tierleid witterten, waren Vernunft und Vorsicht nicht mehr das Gebot der Stunde.

Ihre Organisation hieß »Zuflucht für vier Pfoten«. Sie waren nicht direkt ein Tierheim, sondern verteilten Tiere zum Beispiel in Pflegefamilien, organisierten, dass Bauernkatzen kastriert wurden, um noch mehr streunende Katzen und damit noch mehr Leid zu verhindern. Tierschutz war Ellens und Sissis Lieblingsthema. So hatte auch ich zwangsläufig viel erfahren: Wer wusste schon, dass aus einem Katzenpaar in nur neun Jahren 14 Millionen Nachkommen entstehen konnten?

»Wir gehen morgen dahin. Andi, du hast die Fakten in der Hand. Ich bringe eine Kamera mit und dann müssen wir dort was bewegen. Tierlabore, die nur kosmetischen Zwecken dienen und nicht der Pharmaindustrie, sind schon seit 2011 nicht mehr erlaubt.« Ellen war sich ihrer Sache und des glücklichen Ausgangs ihrer Mission wohl sicher.

Sissi hielt sich dezent zurück. Ein Tierlabor würde sie, sensibel, wie sie war, sicher nicht betreten. Schon Gewaltszenen im Fernsehen konnte sie nicht ertragen. Deswegen schaltete sie auch immer um, wenn sie grausame Bilder aus Tierlaboren sah: gequälte Mäuse, Hunde in Käfigen und weiße Ratten, denen Substanzen gespritzt wurden. Ganz zu schweigen von den Affen, die dem Menschen doch so ähnlich waren. Ihre hoffnungslosen, angstvollen Augen verfolgten Sissi bis in den Schlaf hinein.

Andreas Ebert war sehr gut informiert und teilte sein Wissen gern. Seit 1998 gebe es ein Verbot für Tierversuche für die Entwicklung von Kosmetik in der EU, erklärte er nun. Seitdem habe sich einiges getan. Aber für schwarze Schafe der Branche gebe es immer noch viele Umwege. Stoffe und Substanzen, die in anderen Produkten, zum Beispiel zur Chemieprüfung, vorkamen, durften immer noch an Tieren getestet werden. Immer noch starben drei Millionen Tiere jährlich in qualvollen und sinnlosen Versuchen. In 90 Prozent der Fälle waren Ergebnisse von Tierversuchen nicht einmal auf den Menschen übertragbar!

Mir schwirrte nach so viel schwerer Kost der Kopf; die Vorstellung senkte sich wie ein schweres Tuch über Sissi und mich und schloss sich wie eine Faust um meinen Magen.

Es gab noch einiges Hin und Her und schlussendlich eine Tüte Chips – Essen war immer noch der beste Frust- und Stresskiller. Ellen würde morgen Andreas dabeihaben. Der Merk konnte die beiden schlecht am helllichten Tag ermorden … Wobei, zwei Leichen mehr in der Tierkörperbeseitigung, wo sie zu Seife verarbeitet wurden … Hatte Sissis ausufernde Fantasie schon auf mich abgefärbt?

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