Читать книгу Filmreif - Simone Guggemos - Страница 8

Kapitel 3

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Dieses Rascheln machte mich ganz nervös. Heute Abend war Premiere und schon seit 14 Uhr wuselte Sissi in unserer Wohnung umher. In ihrem blauen, langen Abendkleid. Mich steckte ihre Aufregung an, so folgte ich ihr immer dicht auf den Fersen, um ja nichts zu verpassen, hatte dabei immer den Satinstoff ihres dank des Tüllunterrocks weit ausgestellten Kleides im Gesicht. Nikolaus hingegen saß entspannt auf dem Sofa und beobachtete uns amüsiert. Obwohl er als Mitgesellschafter ein paar begrüßende Worte sprechen sollte, war er die Ruhe in Person.

Sissi sah umwerfend aus. Ihr königsblaues Gewand wäre bei Hofe gut und gern als Prinzessinnenkleid durchgegangen. Der Carmen-Ausschnitt betonte ihre zarten Schultern. In der Taille blitzten schwarze und blaue Pailletten. Unten war das Kleid so weit, dass ich mich mühelos darunter verstecken konnte. Stolz schwebte sie damit raschelnd durch die Wohnung, die fast zu klein für den vielen Stoff war.

Fehlten nur noch ein Orden und die Königinnenschärpe. Ich liebte sie, meine Königin! Meine Wenigkeit hatte ein eigens gefertigtes königsblaues Lederhalsband bekommen, das mit goldenen Kronen versehen war. Stolz und mit adliger Attitude präsentierte ich das glitzernde Schmuckstück. Dazu passend trug Nikolaus eine Krawatte im gleichen Ton.

Sissis Freundin Petra, eine Friseurin, hatte ihre Haare schick hochgesteckt. Auch war sie für Sissis Make-up verantwortlich, das dem eines Topmodels würdig war.

Gestern hatte noch die Generalprobe stattgefunden. Alles war gut gegangen, wenngleich die Nervosität spürbar und jeder gestresst war. Sissi und Ellen hatten noch nicht einmal die Zeit gefunden, miteinander zu reden.

Gegen 17 Uhr fuhren wir los zum Festspielhaus, dort – so meine Hoffnung – würde sich Sissis Aufregung legen. Vom Parkplatz hinter dem Gebäude gingen wir auf die große schwarze Metalltür, den Hintereingang des Festspielhauses, zu. Erst musste ich noch am Baum schnüffeln und markieren. So viel Zeit muss sein.

»Ludi! Jetzt komm«, rief mein Frauchen wütend.

Wenn sie nervös war, war sie echt ätzend. Nikolaus grinste nur, als ich über den raschelnden Kies rannte und Staub und Steinchen hinter mir aufwirbelte.

»Und mach dich nicht dreckig!« Böse guckte sie erst mich, dann Nikolaus an. Der kannte sie auch schon ein wenig und zwinkerte mir zu, als ich mich durch die Metalltür quetschte.

In einem von Sissi unbemerkten Moment nutzte ich meine Chance und haute ab Richtung Bierwirtschaft, Foyer und Haupteingang. Hier konnte ich ungestört ein wenig auf dem Gelände herumspazieren. Unser geliebtes Festspielhaus strahlte heute noch mehr als sonst.

Wie bei der letzten Premiere von »Ludwig und Richard« war vor dem Haupteingang ein roter Teppich ausgerollt worden, Buchsbäumchen daneben aufgestellt und Stehtische mit weißen Hussen und blau-weißem Schmuck. Blau-weiße Bänder zierten die Blumengestecke mit den weißen Lilien, den Lieblingsblumen des geliebten »Kini« – König Ludwig II. Das bayerische Buffet kam vom Cateringservice.

Nikolaus und die beiden Besitzer des Musicals, Herr Lechner und Frau Schmuck, hatten das alles wunderbar organisiert.

Nachdem ich alles inspiziert hatte, lief ich zurück zu den Garderoben, in der Hoffnung, Sissi hätte mein Verschwinden nicht bemerkt. Sie machte sich nämlich schnell Sorgen und wollte immer wissen, wo ich war.

Auf dem Gang begegnete ich ihr.

»Ja, du Striezel, wo warst du denn?« Glücklicherweise schien sie mich nicht wirklich vermisst zu haben. »Komm, wir gehen zu Ellen, wir hatten ja gar keine Zeit mehr, über ihren Besuch bei Merk zu reden.«

Sissi schwebte förmlich durch die Gänge und genoss die bewundernden Blicke, strahlte aber noch mehr, als ich das Zielobjekt der Komplimente wurde.

»Mei Ludwig, du bist wieder der Allerschönste!«, sagte Ellen freudig, als sie uns sah. »Du, Sissi, blöd, dass wir durch den Probenstress gar keine Zeit zum Plaudern mehr hatten. Ich muss dir nämlich was sagen. Hast du ’ne Minute für mich?« Sie schien aufgebracht.

Sissi sah auf die Uhr. »Klaro, Ellen, ich muss dann nur noch kurz hinter zu Midnight.«

Wenig später saßen Sissi, Ellen und ich allein in ihrer Garderobe. Nikolaus war schon vor Richtung Haupteingang gegangen.

»Es gab so einen Stunk im Vorfeld! Hast du das gar nicht mitgekriegt?«, fragte Ellen leise, als ob sie Angst hatte, belauscht zu werden, und das, obwohl die Türe geschlossen war.

»Ne, was für ’n Streit denn?«, wollte mein Frauchen wissen.

»Die Maren war so sauer, dass ich die Premiere spielen darf, die ist voll ausgetickt!«

Maren war die zweite Besetzung der Sissi.

»Die hat mich voll beschimpft und mir vorgeworfen, dass ich die Premiere nur spielen dürfte, weil ich mit Giovanni schlafen würde!«

»Mit Giovanni Bellini?«, fragte Sissi ungläubig.

»Genau«, erwiderte sie augenrollend und so ging es noch weiter, während ich mich nur wunderte, warum manche Menschen immer Ärger machen mussten. »Und wenn Maren es Jacky sagt, gibt es echt Ärger.«

Ob die echte Kaiserin Sissi auch jemals so sorgenvoll ausgesehen hat wie unsere Schauspielerfreundin jetzt?

»Ich bin neulich mit der Schön zusammengerumpelt. Die erzählt auch so einen Mist über mich …«, erzählte Sissi.

Leider drängte die Zeit und Ellen wollte sich vor ihrem großen Auftritt auch nicht zu sehr mit diesen Unannehmlichkeiten befassen. Bevor sie allerdings durch die Tür schlüpfen konnte, was bei der Breite ihres Kleides gar nicht so einfach war, packte Sissi sie sanft am Oberarm. »Pst, warte. Ich muss dir auch noch kurz was erzählen. Das bleibt aber unter uns. Die Blunzn war im Büro der neuen Eigentümer!«

Ellen guckte verständnislos.

»Die will sich wieder irgendwelche Vorteile verschaffen. Verstehst du das nicht?«

»Nicht so ganz«, antwortete Ellen ehrlich.

»Die hat sich total ertappt gefühlt. Ist rot geworden und hat versucht, sich rauszureden.«

»Die doofe Kuh wird rot. Super Vorstellung. Ist doch sonst das Selbstbewusstsein in Person.« Beide lachten.

»Wir müssen aufpassen, was die macht. Ich habe schon ein wenig Sorge, dass sie das Team kaputt macht. Sich zwischen Nikolaus und mich drängt und …« Sissi guckte Ellen besorgt an.

Ellen drückte Sissis Hand. »Nikolaus ist klug, der durchschaut ihr Spiel. Ich muss jetzt leider.«

»Was ist denn mit dem Versuchslabor vom Merk herausgekommen?«, rief Sissi ihr noch hinterher.

»Schlimm war das. Der Typ ist der klassische Drecksack. Hat uns gedroht … Erzähle ich dir nach der Premiere.« Und schon war sie unter Rascheln in ihrem Traum aus Seide und Chiffon verschwunden.

Dann gingen auch wir Richtung Haupteingang. Mein Frauchen genoss sichtlich die Atmosphäre, das Strahlen der Menschen, die sich auf eine tolle Premiere freuten. Die elegant gekleideten Besucher schwärmten von dem festlichen Ambiente. Fotografen, sogar Leute vom Fernsehen mit ihren Fernsehkameras und Moderatoren mit Mikrofonen wuselten herum. Die Prominenz wurde mit Kutschen vor das Festspielhaus gefahren, die von jeweils zwei lackschwarzen Friesen gezogen wurden. Sah wirklich gut aus. Sissi war von dem Anblick ganz gebannt und ich muss zugeben, dass es auch mir die Haare aufstellte. Und nicht nur die Nackenhaare. Dieser Abend würde noch so viele Überraschungen bereithalten! Wenn ich an meinen Auftritt dachte, wurde ich ziemlich nervös. Und was half mir am besten gegen Nervosität? Genau! Essen.

Während Nikolaus mit der Prominenz parlieren musste, schlenderte Sissi, die wie immer meine Gedanken lesen konnte, zum Buffet in der Bierwirtschaft. Es war ein Traum. Sissi nahm mich auf den Arm, sodass ich alles sehen konnte. Rechts waren all die bayerischen Köstlichkeiten drapiert, Leberkäs, Kartoffelsalat, Obazda, Kassler in Blätterteig, während es zur anderen Seite hin mediterran wurde. Das Gemüsezeug, in das sich Sissi immer »reinlegen könnte«, wie sie zu sagen pflegte. Irgendetwas mit Antipaste oder wie das vegetarische Zeug hieß. Daneben fanden sich die besonders noblen Gerichte wie Kaviar, Lachs und so weiter. Alles nett und mundfertig hergerichtet, in kleinen Löffelchen oder auf kleinen Brötchen.

»Diese Kanapees sind wirklich formidable«, meinte eine ältere Dame neben uns, während sie konzentriert über das Buffet gebeugt ihren Teller belud.

Ich guckte Sissi fragend an, die erst die Dame und dann mich anlächelte.

Wo bitte sieht die hier Sofas? Hatte die so komische Zigaretten geraucht, von denen man Wahnvorstellungen bekommt?

Weil ein paar Leute schon pikiert guckten, setzte mein Frauchen mich wieder auf dem Boden ab.

»Das ist der Star des Abends. Der darf schon mal gucken, was es alles so gibt«, sagte sie fröhlich. Sie wollte sich an diesem wundervollen Abend nicht von ein paar Kleingeistern die Laune verderben lassen. »Und der Höhepunkt, Ludwig, kommt nach der Vorführung. Da gibt es dann das Nachspeisenbuffet. Juhu!«

Sissi war eine Naschkatze und ließ immer noch ein wenig Platz für das Dessert. Mein Frauchen stand nun vor dem Teil des Buffets mit den nobel aussehenden Häppchen, was mich wirklich verwunderte. Davon würde sie doch nichts nehmen, beim Essen war sie heikel und darüber hinaus Vegetarierin. Sissi sah sich um. Alle waren beschäftigt mit Smalltalk und damit, sich den Bauch vollzuschlagen. Dann langte sie zu – nach einem Lachshäppchen.

»Frau Bierbichler, Sie sehen ja wieder ganz bezaubernd aus heute!« Es war Füssens Bürgermeister Gottstein, der Sissi anschleimte.

Sie bedankte sich und lächelte charmant – mit dem Lachsbrötchen in der Hand.

»Die Lachshäppchen sind lecker, nicht wahr?«, fragte er enthusiastisch.

Ich grinste in mich hinein. Sissi mochte weder den Bürgermeister noch den Lachs. Isst sie den selbst? Gottstein hatte sie letzten Sommer hinter ihrem Rücken als »kneschtiges Weib« bezeichnet, was wir zufällig gehört hatten. Außerdem war er ein typischer Politiker, der primär auf ein gutes Image und seinen eigenen Vorteil bedacht war. Selbst nach dem Bestechungsskandal letztes Jahr war es seinen Gegnern nicht gelungen, ihn aus dem Amt zu vertreiben. Anscheinend hatten die anderen auch viele Leichen im Keller.

»Ja, sehr lecker. Findet der Ludwig auch!« Sie ließ mir den Happen zukommen, den ich mit einem Biss verschlang, grinste den Bürgermeister an, drehte sich auf dem Absatz um und ließ ihn stehen.

Neben Ministerpräsident und Landrat Guggenstein samt Ehefrauen waren auch allerhand andere Leute da, die sich für wichtig hielten, in die Kameras grinsten und klug daherredeten. Sissi machte ihren Job als Frau an der Seite von Nikolaus sehr gut.

Giovanni freute sich wie ein Kind, strahlte wie ein Honigkuchenpferd und redete wie ein Wasserfall, während wir uns mit ihm, seiner Frau und einigen anderen im Barockgarten versammelten. Im Hintergrund sah ich die Blunzn stehen, sie flüsterte mit Maren, der zweiten Sissi-Besetzung. Scheel lugte sie zu uns herüber. Bellini merkte gar nicht, dass er beobachtet wurde. Sissi, die feine Antennen hatte, war meinem Blick gefolgt und sah dann wieder mich an.

Ausnahmsweise trug die Blunzn heute keine Leggings, sondern einen dunklen Hosenanzug. Ihre platinblonde Kurzhaarfrisur hatte sie mit Gel aufgestylt. Hinter mir lästerten zwei Frauen über sie, »geschmacklos« und »unpassend zum Anlass«, hörte ich sie sagen. Dass Frauen untereinander so stutenbissig sein konnten, würde ich – als Rüde – niemals verstehen.

Ein dunkelhaariger Mann gesellte sich zu uns und stieß mit meinen Menschen mit einem Glas Sekt an. Kühl prostete er Sissi zu. Mich beachtete er nicht groß. Warum stellten sich mir die Nackenhaare auf, als ich ihn hier sah? Ich knurrte ihn an. Sissi nahm mich zurück. Freundlich wie immer, aber auch ein wenig angetan von seiner Attraktivität lächelte sie ihn, der von ihr nicht wirklich Notiz zu nehmen schien, an. Dieser Typ war so arrogant, dass man als Frau doch gar nicht auf den stehen konnte! Manchmal konnte ich meine menschlichen Gesellen nicht verstehen. Vor allem die Frauen nicht!

Nikolaus stellte ihn als »Franz Ferdinand von Hohenstein, einer unserer Sponsoren« vor. Mit dem ging Ellen also aus. Das musste ich weiterhin beobachten, denn mein tierischer Instinkt warnte mich vor diesem Mann. Dass sich dieses Problem bald von selbst lösen würde, konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen.

Weil jetzt die Festreden anstanden, begaben wir uns ins Foyer. Ein wenig missmutig lief ich neben Sissi her, die – wie die anderen Damen auf ihren hohen Schuhen – ziemlich wackelig daherkam. Momentan empfand ich dieses ganze Spektakel als affig. Lieber würde ich entspannt in meinem Garten liegen und auf einem Knochen herumkauen. Bestimmt war es König Ludwig II. auch oft so gegangen, als er seine Repräsentationspflichten erfüllen und fremdbestimmt wie eine Marionette in einer großen Show mitmachen musste.

Der Augenschmaus, der mich im Inneren des Gebäudes erwartete, stimmte mich ein wenig milder: Die hohe, helle Empfangshalle war lichtdurchflutet, die warme Abendsonne sandte sanfte Sonnenstrahlen durch die Westfenster, die das Schloss Neuschwanstein und ein Schwanenlogo zeigten, was sich kunstvoll, fast magisch in der Decke und am Boden reflektierte; wenige, aber geschickt gesetzte Details. Die klare hellgraue Treppe mit dem blauen Teppich, das schmiedeeiserne Geländer mit der Schwanenfigur …

Der Ministerpräsident begab sich schwerfällig in die erste Reihe und lächelte sein debiles Lächeln, als er extra begrüßt wurde. Seine Frau, von der jeder wusste, dass er sie betrog, stand – wie immer – ein wenig hilflos und blass daneben. Wir standen im hinteren Bereich neben dem Ehepaar Bellini und lauschten den Reden von Füssens Bürgermeister Gottstein und dem Ministerpräsidenten, ich weniger als Sissi, die wenigstens interessiert guckte.

Sie und Nikolaus warfen sich wissende Blicke zu. Weder der Bürgermeister noch der Freistaat Bayern hatten etwas zur Rettung des Musicals getan, als es vor dem Aus gestanden hatte. Im Gegenteil! Jetzt aber posierten sie mit stolzgeschwellter Brust am Rednerpult und sonnten sich im Ruhm der wunderbaren Kunst um König Ludwig II. Dann war Nikolaus an der Reihe. Ich stemmte mich an Sissis Stuhl hoch, um ihn besser sehen zu können. Sissi war bestimmt aufgeregter als Nikolaus. Nervös kraulte sie meinen Kopf und spielte an meiner Nackenfalte, die zugegebenermaßen ein wenig speckig war. Auf ihr schickes Kleid durfte ich mich leider nicht setzen.

Gut sah Nikolaus aus, der grau melierte Mann im schwarzen Anzug mit blauer Krawatte. Verschmitzt wie eh und je strahlten seine blauen Augen, als er vom Landrat mit ein paar Worten eingeführt wurde.

»Ich übergebe nun das Wort an Nikolaus von Gaffron, den Mann, dem es zusammen mit seiner Agentur für Kunst, Kultur und Theater in großen Teilen zu verdanken ist, dass ›Ludwigs Träume‹ jetzt wieder so aufgeführt werden kann, denn er hat die wichtigen Kontakte hergestellt.« Er lächelte Nikolaus zu, trat einen Schritt zurück und überließ ihm das Rednerpult. Dieser wartete kurz ab und guckte in das volle Foyer.

»Sehr geehrter Herr Lechner«, begann er bedächtig, »sehr geehrte Frau Schmuck, liebe Freunde des Musicaltheaters, liebe Anhänger des Meisterwerks ›Ludwigs Träume‹ und seines Autors und Intendanten Giovanni Bellini, liebe König-Ludwig-Verehrer, liebes Publikum, ich möchte Sie weder lang auf die Folter spannen, noch – wie meine Vorredner es getan haben – die Worte des legendären und heiß geliebten Königs Ludwig II. zitieren. Als Mitgesellschafter und Verehrer des Königs möchte ich heute nur eines tun. Über meine Gefühle sprechen.« Ruhig, eine Reaktion abwartend, sah er bei diesen Worten ins Publikum. »Ja, Sie haben richtig gehört. Heute spreche ich über die Gefühle, die mich an diesem denkwürdigen Tag übermannen: Stolz, Glück, Dankbarkeit, Vorfreude und ein bisschen Trauer.« Ein ernster Gesichtsausdruck verdunkelte das Strahlen, das bis eben sein Gesicht dominiert hatte.

»Trauer deswegen«, fuhr er fort, »weil wir letztes Jahr einen wunderbaren Künstler und vor allem einen nicht zu ersetzenden Freund verloren haben: Thomas Gubath. Möge er in Frieden ruhen. Thomas, wir werden dich nie vergessen!« Einen Moment hielt er inne. »Dennoch ist heute ein Tag, an dem die Freude überwiegen soll. So empfinde ich heute primär Freude und Stolz über das, was wir – mein Ensemble und ich – geschaffen haben, allen voran Jacky Bellini und Giovanni Bellini und unser Komponist Heinrich Hebbel. Ihr seid sozusagen die geistigen Eltern dieses Kunstwerks.« Applaus brandete auf. »Zweitens: Glück. Unendlich glücklich bin ich darüber, dass wir überhaupt die Möglichkeit bekommen haben, dieses Musical unter Intendant Giovanni Bellini wieder hier am Originalschauplatz, dem schönsten Platz des Allgäus – oder soll ich sagen, dem schönsten Platz der Welt –, aufführen zu dürfen.« Wieder klatschte das artige Publikum. Nikolaus war anzusehen, dass er sehr bewegt war. Bildete ich mir das ein oder bebte seine Unterlippe? Auch Sissi schluckte.

Während seiner Kunstpause sah er glücklich in die Runde. Seine Augen suchten jemanden. Sie fanden Sissi und mich und er blinzelte uns zu. Vor lauter Freude musste ich bellen. Wuff. Sissi zuckte zusammen und hielt mir sogleich das Schnäuzchen zu. Ein paar Leute kicherten.

»Ja, unser Theaterhund Ludwig hat es natürlich besonders verdient, erwähnt zu werden. Ludwig, du und dein Frauchen, ihr habt besonders viel Freude und Farbe in mein Leben gebracht. Danke euch dafür!« Jetzt bebte seine Stimme ganz sicher und Sissi guckte verschämt auf den Boden. Ihr schicker Bronzeteint war einem Tomatenrot gewichen.

Nikolaus sprach sogleich weiter. »Drittens Dankbarkeit: Dankbar bin ich dafür, dass wir, allen voran die neuen Eigentümer Frau Schmuck und Herr Lechner, es schaffen konnten, dieses Musical, das ein so authentisches Bild des Bayernkönigs ermöglicht, wieder zurückzubringen, nachdem das Ursprungswerk ›Ludwigs Träume‹ auf unschöne Weise abgesetzt worden ist und durch ein anderes Musical, unter anderen Eigentümern, hier ersetzt wurde. Auf die menschlichen Katastrophen, die das damalige Ensemble erlebt hat, gehe ich jetzt nicht weiter ein. Gerade diese Schwierigkeiten aber, die wir alle überwunden haben, steigern meine Dankbarkeit.« Die folgende Pause schien ewig. Dann fuhr er fort: »Giovanni Bellini scheint mir mit seinen Visionen so stark dem sagenumwobenen, idealistischen Kunstfanatiker Ludwig II. zu gleichen, dass es mir teilweise Gänsehaut verursacht. Danke, Giovanni, dass ich Teil deines Schaffens sein darf, danke, dass du dieses Gesamtkunstwerk hier geschaffen hast, danke dafür, dass du dich – wie damals König Ludwig nicht von seinen kleingeistigen Ministern – nicht von Intrigen und Widrigkeiten hast bremsen lassen. Nicht immer hat dein Projekt die nötige Unterstützung erfahren.« Er blickte auf die Reihe der Politiker und deren Grinsen gefror. Sissi und Nikolaus nannten sie immer »Gschwollschädel«, ein lustiges Wort. Was es wohl genau bedeutete?

»Und zuletzt Vorfreude: Ich freu mich aus vollem Herzen auf viele tolle Theaterabende, jetzt auf eine fulminante Premiere und übergebe hiermit an unseren großartigen Gastgeber: König Ludwig II. Unserem Team ein herzliches: ›toi, toi, toi‹.«

Er begleitete den König-Ludwig-Darsteller zur Tür, die zum Parkett führte, wo König Ludwig symbolisch ein rotes Band durchschnitt. Durch die dem Festspielhaus eigene Beleuchtung bekam diese Situation etwas Magisches. Alles war in ein intensiv blaues Licht gehüllt, das unerklärlicherweise pinke Anteile enthielt. Es war das schönste Blau, das ich kannte, intensiv, dabei kein Royalblau, eher Indigoblau. Vielleicht das Blau der blauen Grotte auf Capri, das schon König Ludwig einst für seine Grotte auf Schloss Linderhof anstrebte …

Dann drehte ich mich um, ich spürte den unguten Blick eines Menschen auf mir, oder besser gesagt auf Sissi und mir, und erblickte die Blunzn hinter uns. Sie musterte uns mit zusammengekniffenen Augen. Dann guckte sie wieder zu Nikolaus und auch ich sah weg. Als ich wieder hinsah, würdigte sie uns keines Blickes, stattdessen zog sie Grimassen. Mal spitzte sie die Lippen zu einem Kussmund, dann zog sie die Mundwinkel wieder so in die Breite, als ob sie lachen würde. Warum tat sie das? Ich musste ein Auge auf meine geliebten Menschen haben, so viel war sicher.

Dann mussten wir auch schon Richtung Bühne eilen, weil es kurz vor acht Uhr war und die Premiere gleich beginnen würde. Jetzt stieg meine Nervosität wieder. Sissi war so lieb und ließ mich noch einmal raus, damit ich mich erleichtern konnte.

Um acht Uhr war es so weit. Der schwere samtblaue Bühnenvorhang mit den silbernen Schwanenemblemen hob sich. Das Orchester begann zu spielen. Die Schauspieler waren bereit. Von der Hinterbühne aus hatten wir die Bühne im Blick. Wenn ich den Hals langmachte, sah ich sogar den Zuschauerraum. Das Theater war bis auf den letzten Platz ausverkauft. Ich beobachtete meine Sissi von der Seite. Sie bemerkte es und strahlte mich glückselig an.

Die Schauspieler sangen voller Inbrunst, jeder Ton, jede Geste saß. Der König-Ludwig-Darsteller spielte König Ludwig nicht nur, er war ganz mit seiner Rolle verschmolzen, sodass er zuweilen glasige Augen bei den gefühlvollen Texten bekam. Er war sehr gut. Aber er war eben nicht Thomas Gubath, der für diese Rolle die Idealbesetzung gewesen war. Hinter der Bühne hingen Fotos von ihm, die mit einem Trauerflor versehen waren.

Während der Theaterbetrieb lief wie am Schnürchen, blieb dem Ensemble keinen Augenblick Zeit durchzuatmen. Wir bereiteten uns auf unseren Auftritt vor. Ich wurde von Sissi auf den Winterschlitten gesetzt, ihr Lipizzaner Midnight schnaubte nervös. Auch er spürte, dass die heutige Vorstellung außerordentlich wichtig war, und zeigte sich besonders stolz, bog seinen Hals und seinen Schweif wie ein edler Hengst, der eine hübsche Stute erblickt und ihr imponieren will. Dann war es so weit. Der Motor, der den Drehmechanismus in Gang setzte, wurde von einem Bühnentechniker gestartet und surrte leise vor sich hin. Es gab einen Ruck und wir wurden wie in einem großen Karussell auf die Zuschauerseite gedreht, vom Dunkel der Hinterbühne ins Scheinwerferlicht. Tausende erstaunte Gesichter blickten uns an, gebannt von diesem Effekt, den die größte Drehbühne Deutschlands auf das Publikum hatte. Ein Raunen war zu vernehmen. Ich spürte die bewundernden Blicke, mein Herz raste, schlug laut in meiner Brust, die stolzgeschwellt war. Ich wagte einen Blick in die vollen Ränge, die Logen … Erwartungsvolle orangene Gesichter im dunklen Rachen des Zuschauerraums. Wie lang hatte ich mich auf diesen Moment gefreut.

König Ludwig, schön wie eh und je in seiner blauen Uniform, sang eine zu Herzen gehende Melodie über die Einsamkeit. Ein perfekter Moment, in dem ich mich dem Bayernkönig ganz nah fühlte. Theater und Wirklichkeit, Traum und Realität, die Grenzen waren verschwunden. Er war hier, da war ich mir sicher … Und er freute sich über die Ehre, die ihm zuteilwurde.

Stufe 1 – 10. Juni 1865

Ich zucke jäh zusammen ob der starken Gefühle, die Tristan und Isolde in mir wecken. Die sanfte Dunkelheit, die eben noch im Hoftheater herrschte, verschwindet jäh. Nicht länger kann ich mich im Schutz der Dunkelheit, in ihrer Umarmung verstecken. Tosender Beifall ertönt. Soeben ist Isolde auf der Bühne gestorben, endlich im Tode vereinigt mit ihrem geliebten Tristan, ertrinken, versinken … höchste Lust. Schon zünden die Theaterdiener alle Kerzen an den zahlreichen Lüstern an. Die heilige Stimmung ist zerstört. Noch immer sind meine Augen tränenfeucht; je suis tres touche et heureux par cet amour, qui va au dela la morte. Ca me donne beaucoup d’espoir. Liebe, die über den Tod hinaus anhält – das gibt mir Hoffnung.

Wieder werde ich von allen Seiten begafft. Waren soeben die Augenpaare auf die Bühne gerichtet, so spüre ich jetzt die Blicke des Volkes auf mir ruhen. Sie schmerzen mich. Sie machen mich aggressiv, da sie meine intensiven Gefühle in meinem Gesicht und an meinem Körper erkennen können. Ungefiltert erleide ich Tristans und Isoldes Schicksal mit und kann die Kraft, die Macht dieser Eruption nicht verbergen!

Warum kann ich hier nicht einmal allein und ungestört dieses wundervolle, anrührende Bühnenspektakel verfolgen? Ohne dass jemand meine Tränen sieht, meine Zuckungen … Dieser neugierige Pöbel widert mich an. Alle meine Gefühlsregungen werden interpretiert, meine Kleidung kommentiert und meine Begleitung kritisiert. Diese prätentiösen Lackaffen und Biedermeier, die meinen, sich etwas darauf einbilden zu können, dass sie mit mir, Seiner Majestät König Ludwig II. von Bayern, im Theater sitzen. Da ist mir jeder einfache Dorfbursche aus Schwangau lieber!

Sogar ihre Operngläser richten sie auf mich. Geschmacklos. Verfolgt wie ein Reh im Wald – wie soll ich mich da auf Wagners Kunst einlassen? Ich kann mich der Illusion im Theater nicht hingeben, solange die Leute mich unausgesetzt anstarren und mit ihren Operngläsern jede meiner Mienen verfolgen. Ich will selbst schauen, aber kein Schauobjekt für die Menge sein.

Ich schließe die Augen. In Zukunft wird Wagner für mich Einzelvorstellungen geben. Ist doch das Theater, die Scheinwelt auf der Bühne, meine große Passion. Wie wunderbar kann ich der Realität entfliehen, in die Welt meiner Träume, meiner Ritter und Sagengestalten, die – mitsamt ihrer Werte, Ideale und Tugenden – auf der Bühne zum Leben erwachen. Oh, wie bin ich ganz eins mit meinen Figuren, mit Tristan und Isolde. Hinweg ist alle Einsamkeit. Alles Unverstandensein. Doch das helle Licht und der tobende Beifall reißen mich aus meinem Sinnieren.

Das Publikum tobte nach unserem Auftritt. Sissi schloss mich glücklich in ihre Arme. Irrte ich mich oder waren ihre Augen tränenfeucht, ihre grünen Pupillen grüner als sonst?

Den Rest der Vorstellung beobachteten wir von der Nebenbühne aus. Wie immer rührte mich das Liebesduett zwischen Kaiserin Sissi und König Ludwig sehr. Ellen spielte wirklich hervorragend. In ihrem ausladenden Rüschenkleid und mit der dunklen geflochtenen Haarpracht gab sie eine wahre Augenweide ab. Von meiner Sissi wusste ich, dass König Ludwig und Kaiserin Elisabeth, die in tiefer Freundschaft verbunden waren, sich gegenseitig Adler und Möwe genannt hatten. Zwei Seelenverwandte, deren Liebe und deren Wunsch nach Nähe nie hinreichend gestillt werden konnten. Daneben drehten sich drei wunderbare weiße Schwäne in vollendetem Spitzentanz. Die zarten Glieder bewegten sich in schwanengleicher Elegance mit wippenden Röcken im Takt der Musik.

Schließlich näherte sich das Ende der Premierenvorstellung. Und wie Nikolaus versprochen hatte, stieg König Ludwig zum Schlusslied aus dem Wasserbassin, während er sonst im Wasserbecken verschwand, was seinen Tod im Starnberger See darstellen sollte. Das Publikum tobte, es wurde getrampelt, Zugabe geschrien, Blumen und Geschenke auf die Bühne geworfen. Es war atemberaubend. Alle Schauspieler versammelten sich auf der Bühne und verbeugten sich, sprangen leichtfüßig nach hinten, um kurz danach wieder auf die Bühne zu laufen und sich den begeisterten Zuschauern zu zeigen. Das war Theater live. Ich war ganz aufgeregt, wedelte mit dem Schwanz und rannte auch wieder auf die Bühne. Sissi rief leise: »Ludwig, nein!«, hielt mich aber nicht zurück. Zu stolz war sie auf mich. Alle klatschten noch lauter, als sie mich sahen. In der ersten Reihe vor den Hauptdarstellern machte ich »Männchen« auf der Bühne, direkt vor dem Orchestergraben. Auch die Musiker klatschten – nur für mich diesmal. Die Zuschauer applaudierten ungehalten und manche trampelten mit den Füßen. Ellen hob mich begeistert hoch. Es gibt Momente im Leben, von denen man ein Leben lang zehrt. Und dies war so einer.

Vom Glück benommen sprang ich zurück in Sissis Arme. »Mein kleiner König!«, rief sie stolz.

Nikolaus kam zu uns auf die Hinterbühne. »Toll wart ihr!« Er wirkte gerührt.

Bereits wenige Minuten später waren die meisten Gäste hinausgegangen. Sissi und Nikolaus spazierten Hand in Hand Richtung Garten. Wollten wir nicht zuerst zum Nachspeisenbuffet? Sie liefen um das Romantikrestaurant herum und suchten für uns ein ruhiges Plätzchen am Rand der Menschenmenge. Plötzlich donnerte, zischte und knallte es. Ich erinnerte mich: Ein atemberaubendes Feuerwerk sollte den Abschluss dieses Abends bilden. Sissi wusste, dass mir die Knallerei nicht so geheuer war und in den Ohren wehtat, und nahm mich hoch.

Der Mond hing gelb und sichelförmig im samtenen Dunkelblau des sternenklaren Nachthimmels. Die Abendluft war Anfang Juni noch recht kühl, zumindest für Sissi, die eine richtige Frostbeule war. Nikolaus legte fürsorglich sein Jackett um ihre Schultern.

»Guat han is gmocht, gell?«, stellte Bühnenbildner Peitinger neben uns fest. »Des isch Teil der Show«, sagte er und zeigte auf den sichelförmigen Mond, der gerade über Schloss Neuschwanstein aufging. Genau so ein Mond war Teil des Musicalemblems. Milchig, besonnen und still wanderte er über dem Tegelberg und schien das Geschehen zu beobachten.

Sissi und Nikolaus lächelten nur und betrachteten stumm den Himmel. Die Lichtfontänen waren einzigartig anzusehen. Gelbe, rote und grünliche Lichter schossen in die Höhe und zerteilten sich in abertausend kleine Fontänen, die sich über die Theaterhalbinsel ergossen. Das Wasser des Forggensees funkelte in einem regelmäßigen Rhythmus und spiegelte die Lichtershow. Und fern im Hintergrund träumte König Ludwigs Schloss auf einer kleinen Anhöhe am Fuße des Tegelberges vor sich hin. Illusion oder Wirklichkeit?

Jacky und Giovanni Bellini neben uns waren ebenfalls ergriffen angesichts dieser Naturschönheit und des Spektakels. Es war wie in einem Rosamunde-Pilcher-Film. So viel Kitsch, dachte ich mir schon fast zynisch. Wo ist denn nur der Umschaltknopf?

Plötzlich hörte ich jemanden auf dem knirschenden Kies rennen. Abrupt drehte Sissi sich mit mir auf dem Arm um. In der Ferne ertönte ein Martinshorn. Ein Polizeiauto. Ein Krankenwagen? Was war passiert?

Ellen stand plötzlich vor uns, kreidebleich und keuchend, in ihrem Abendkleid, aber nicht mehr in ihrer Rolle als Sissi, Kaiserin von Österreich. Sondern als Überbringerin einer schrecklichen Nachricht.

»Die Schön ist tot!« Sie keuchte, weil sie so schnell gerannt war.

»Was?«, schrien Nikolaus und Giovanni wie aus einem Munde und mit vor Schreck geweiteten Augen.

»Die Schön ist tot! Sie liegt in meiner Garderobe.« Ihre sonst so starke Stimme klang belegt, so als hätte sie einen Kloß im Hals. Sichtlich mitgenommen deutete sie uns an mitzukommen. Mein Herz setzte für einen Moment aus. Sissi drückte mich fester an sich. Wir eilten ihr hinterher.

»Bleib du weg!«, meinte Nikolaus forsch zu Sissi.

Doch wie immer ließ sie sich von nichts abhalten und rannte weiter.

Sissi hatte mich inzwischen auf den Boden gesetzt, so konnte ich vor Nikolaus herrennen, durch den Hintereingang, den gewundenen Gang entlang, vorbei an der Maske und den Garderoben. Was war passiert? Ein Unfall?

In der Tür angekommen erblickte ich sogleich mitten im Raum die leblose Frau Schön. Wie eine Tote in einem Fernsehkrimi lag sie auf dem Boden. Mit verzerrtem Gesicht und weit aufgerissenen Augen. Auf der Seite. Ein Bein unnatürlich verdreht. Wackerl und ein paar andere Neugierige standen schon beim Eingang, während Rosl neben der Toten kniete.

»Ich konnte nichts mehr für sie tun!«, erklärte Rosl. Der Schock stand ihr ins Gesicht geschrieben.

Dann fielen mir die zahlreichen Blumensträuße auf den weißen Ablagen auf, die einen schweren Duft im Raum verströmten. Fünf Schminktische befanden sich in den Garderoben, einfache schwarze Stühle davor, ein schwarzes Sofa vor dem Fenster, Kleiderständer.

Also so schnell hätten wir jetzt auch nicht von Rosamunde Pilcher auf »Tatort« umschalten müssen. Ein wenig schämte ich mich für den Gedanken.

Nikolaus versuchte, Sissi aus dem Raum zu schieben, mit wenig Erfolg. Also eher mit gar keinem. Geschockt und reglos blickte sie auf die Tote, hob sich dabei die Hände gefaltet vor den Mund, während ihr die Tränen die Wangen hinunterliefen. Ich fand diese Reaktion etwas übertrieben, wo sie die Frau Schön doch beileibe nicht leiden konnte. »Hat jemand schon die Polizei gerufen?« Nikolaus übernahm das Ruder.

»Ja, klar!«, antwortete Ellen, die sich durch die Tür schob. »Ich hab sie gefunden … dann um Hilfe geschrien.« Ellen stockte der Atem. Sissi ging zu ihr und nahm sie in den Arm, während Ellen in Tränen ausbrach.

»Ellen hat sofort den Notruf gewählt«, berichtete Rosl. »Die Polizei und der Krankenwagen müssten gleich da sein. Ich bin dann ja dazugekommen und hab versucht, sie zu reanimieren. Aber …«

Eine offene Pralinenschachtel befand sich auf dem Boden. Ein paar der Schokoladenköstlichkeiten lagen um die Schön herum. Wieder heimlich genascht? Ehe mich jemand abhalten konnte, eilte ich auf die Pralinen zu und schnappte mir eine. Und noch eine. Schmeckten irgendwie bitter. Aber egal. Mein Instinkt sagte mir, ich solle alles nehmen, was ich bekommen konnte, schließlich achtete Sissi so auf meine Gesundheit …

»Weg da, wir müssen hier Spuren aufnehmen«, rief ein herbeieilender Mann, vermutlich ein Kriminalpolizist, aggressiv und schubste Sissi und Nikolaus auf die Seite. Ein anderer: »Nichts anrühren! Möglicherweise waren die Pralinen vergiftet!«

Wenn Sissi vorher kreidebleich war, war sie jetzt totenbleich. Sie starrte Nikolaus an, dann mich, wie ein Geist, bevor sie auf mich zueilte und mir die letzten Schokoladenreste aus dem Maul zu pulen versuchte.

»Scheiße, der Ludwig. Wenn der jetzt auch …!« Ihre Stimme überschlug sich fast.

Nikolaus nahm mich und trug mich zu seinem Audi, während mein Frauchen den Tierarzt anrief. Sie wollte mich unbedingt untersuchen lassen. Wenig später saß ich auf Sissis Schoß in Nikolaus’ Audi. Sissi schluchzte und faselte etwas von »Vergiftung, keine äußere Gewalteinwirkung«.

Nikolaus sagte gar nichts und fuhr wie der Teufel. Nervös eilten die gelben Punkte der Straßenlaternen an uns vorbei, verschwammen zu einem unscharfen gelben Band. Wir wurden in jeder Kurve in den Sitz gedrückt.

He, langsam, bei diesem Fahrstil wird mir ja übel. Und tatsächlich, mir war kotzübel. Sissis Tränen tropften auf meinen Kopf, alles drehte sich. Es war furchtbar.

Dann stiegen wir aus und rannten in ein Gebäude. Oh je, das kannte ich schon. Den Mann mit dem braunen Haarkranz und der Glatze in der Mitte kannte ich auch. Nur zu gut. Heute trug er ja gar keinen grünen Gummimantel und Gummistiefel. Der Karopyjama war aber auch nicht wirklich besser und ein deutlicher Kontrast zu Sissis und Nikolaus’ Abendgarderobe.

»Frianar wär’s it gange, oda?«, fragte er genervt mit Blick auf die Uhr. Als er jedoch Sissi sah, die nur noch ein Häufchen Elend war, schien ihm seine Bemerkung schon wieder leidzutun.

»Der Ludwig hat sich wahrscheinlich vergiftet«, erklärte Nikolaus, um Sachlichkeit bemüht, dem Viehdoktor.

Ich wurde auf den Metalltisch gesetzt, rutschte auf der kalten, glatten Platte aus und landete auf dem Bauch.

Sissi schrie auf. »Er stirbt!«

Jetzt war’s mir endgültig zu viel. Säure stieg in mir hoch. Ich musste mich auf dem Metalltisch übergeben. Fühlte sich besser an danach.

Der Doktor untersuchte mich. Nikolaus wischte den Tisch mit Papiertüchern sauber.

»Wir müssen ihm den Magen auspumpen und … äh, das Gegengift finden und …« Sissi packte ihren ganzen medizinischen Sachverstand aus. Gut, so viel war das ja nicht.

Der Arzt ignorierte sie beflissentlich, während er an mir herumfummelte, in mein Maul und meine Augen sah und fragte, was passiert sei.

Nikolaus erzählte von der toten Frau Schön und den Pralinen. »Supa, ein Mord, dann passiert ja mol ebbas Spannendes im Allgäu.« Doktor Martin hatte echt Humor. Er ließ auch sehr gern mal Spritzen auf dem Beifahrersitz liegen. Eine war damals in Sissis Po gelandet, als er sie heimfuhr. Eine Tollwutimpfung war das, glaube ich.

Sissi ließ sich kraftlos in einem Stuhl nieder und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Nikolaus blieb bei mir.

»Und, stirbt er jetzt?«, fragte sie leise von ihrem Stuhl aus.

Nikolaus’ Standardsatz fiel mir ein: »Das wird durch Wiederholung auch nicht besser.«

»Naa, vo am Rausch stirbt ma it glei«, meinte Doktor Martin trocken.

Festspielrausch, kann man da nur sagen …

Nach diesen ereignisreichen Stunden war es beruhigend, dass Nikolaus bei uns übernachtete. Sissi rief noch einmal Rosl an, doch die wussten auch nichts Neues. Die Schön war noch in der Nacht in die Gerichtsmedizin nach München gebracht worden. Auch wenn Sissi und ich Sonja Schön beileibe nicht mochten, pardon, gemocht hatten, so war ihr plötzlicher Tod, der vermutlich gewaltsam war, dennoch ein Schock. Unruhig wälzte mein Frauchen sich im Schlaf, bis sie mitten in der Nacht aus einem Albtraum hochschreckte. Verwirrt saß sie im Bett und wirkte erleichtert, als sie Nikolaus und mich bei sich fand.

Filmreif

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