Читать книгу Es ist genug - Simone Lilly - Страница 4

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 3.

„Lasst mich doch in Ruhe!“, wütend packte er seinen schwarzen Rucksack, welcher unachtsam auf den Boden geworfen worden war, kramte seine zerfletterten Hefte zusammen, steckte sie hinein und rannte um sein Leben. Duzende von zornigen Rufen folgten ihm und er hörte, das ihm ebenso viele Schritte folgten. Er war kein guter Läufer, war in Sport immer der schlechterste. Hatte keine Ausdauer und war eher pummelig gebaut.

„Komm her du Ratte!“

Die Rufe waren beleidigend, doch noch schlimmer war es, wenn die Jungs ihn zu fassen bekamen. Nicht nur, dass sie ihn schlugen, auf ihn eintraten oder ihm die Kleider zerissen, sie beschimpften ihn, beleidigten ihn und machten sich über seine Familie lustig. Das konnte er überhaupt nicht leiden. Einmal, es war letzten Winter, packten sie ihn auf dem Nachhause Weg. Hielten ihn fest und nahmen ihm seinen Wintermantel. Eine Geste, die bei diesen Temperaturen fatale Folgen mit sich bringen konnte. Das es ihm nichts ausmachte, konnten sie nicht wissen, was noch schlimmer war. Es gab ihm zu verstehen, dass sie ihm nur schaden wollten, und das aufrichtig.

„Niko!“, die Rufe wurden lauter und er überlegte für einen Moment und da ihm die Lungen brannten, ob er nicht einen Schneesturm heraufbeschwören sollte. Seine Hand wollte schon gen Himmel zeigen, als er abrupt zu Boden gerissen wurde. Da es lange nicht mehr geschneit hatte, schleifte sein Kinn durch den gestreuten Kies und riss ihm tiefe Wunden. Igor war am schnellsten bei ihm gewesen und saß nun hechelnd auf ihm. „Na, Niko?“, durch seine verschränkten Arme konnte er Michails neue, braune, mit echtem Pelz gefütterten Stiefel ausmachen, die warnend näher kamen. Auch Andrej’s Stimme konnte er klar und deutlich hören. „Was jetzt, Igor?“

Sein Akzent war nervend und Laglace wünschte sich für einen Moment, ihm das Maul stopfen zu können. Genau, was jetzt? Was sollten sie mit ihm tun? Was brachte es ihnen, ihn verfolgt und in den Staub gedrückt zu haben? Umstehende Leute blickten auf ihn hinab, runzelten die Stirn und gingen weiter. Warmes Blut sickerte aus seiner Wunde und er fragte sich ernsthaft was diese Leute für Menschen sein mussten, die einem Jungen in seiner Lage nicht halfen.

„Wir können ihm die Kleider ausziehen, so wie letztes Mal, nur diesmal alle.“, schlug Andrej vor und Laglace atmete erleichtert auf. Zwar wäre es peinlich, nackt vor anderen zu stehen und nachhause laufen zu müssen, doch würde die Kälte ihm wenigstens nicht schaden. Anders als Schläge und Tritte.

„Gute Idee“, pflichtete Igor seinem Freund bei und erhob sich. Von seiner Last befreit, keuchte Laglace leise auf. „Also, kühlen wir Nikolai mal ab.“

Macht ruhig.

Sie nahmen seine Jacke an sich, dann sein Hemd.

Nur zu.

„Na, frierst du schon?“, spöttelte Igor herausfordernd und verscheuchte ein kleines Mädchen, das interessiert stehen geblieben war.

Nein.

Andrej begann ohne Scham seine Hose zu öffnen, als plötzlich rabenschwarze Wolken den Himmel durchzogen. Nach einem zaghaften Blick hinauf, war lautes und bedrohliches Donnergrollen zu hören und sie liesen ihn erschöpft entgültig zu Boden sinken.

„Jungs, ich würde sagen wir verziehen uns! Da kommt was Größeres!“ Auf Andrejs Befehl hin, warfen sie seine Kleidung in hohem Bogen von sich fort und ergriffen die Flucht. Auch die übrigen Menschen nahmen die Beine in die Hand, um rechtzeitig und trocken nachhause zu gelangen. Laglace blieb liegen. Auch, als die ersten Regentropfen auf seine Brust prasselten und grelle Blitze den Himmel durchbohrten. Er legte noch nicht einmal seine Hand auf sein blutendes Kinn, sondern lag einfach nur da. Jetzt war er allein, Wind kam auf und es herrschte eine solche Finsternis, dass man meinte, es wäre mitten in der Nacht. Langsam setzte er sich auf und klopfte sich den Staub von der halb geöffneten Hose.

„Na?“

Die Hand auf seiner Schulter hatte ihn erschrocken. Durch den lauten Regen hindurch, hatte er ihn nicht kommen hören.

Ohne sich umzusehen, zog er sich an der ihm gebotenen Hand nach oben. „Danke, Lair.“

Sein Bruder lachte und fuhr sich durch die strohblonden Haare. „Gerngeschehen. Ich dachte hier in dieser Gegend hat es schon länger nicht mehr geregnet.“

„Richtig gedacht.“

Sie lachten. Da, merkte er dicke Abdrücke auf Lairs Hals. „Nein…“, mitfühlend fuhr er sachte über sie. „Nicht schon wieder.“

Gleichgültig schüttelte Lair den Kopf und seine Hand damit fort. „Nein, ist nicht so wichtig.“

„Es werden mehr, richtig?“

„Ja, jetzt sind es schon zwei.“, gab er geknickt zu. „Jetzt hat es aber genug geregnet!“ Verbissen schnippte er mit dem Finger und der Schauer erstarb gehorsam.

„Du musst etwas dagegen tun.“

„Nicht hier. Wo können wir hin?“

„Warte, komm mit.“

Rasch klaubte er seinen Mantel vom Boden, reichte ihm Lair und hüllte sie beide in eine Wolke Pulverschnee. Er wehte ihnen um den Körper und als er ihn verschwinden ließ, befanden sie sich in seinem Haus. Nicht in dem Haus, in welchem er aufgewachsen war, sie befanden sich in seinem, so wie er es nannte, Quartier. Es bestand aus reinem Eis und hatte nur drei Räume. Für sterbliche Menschen war es unsichtbar, nur wenn er es ihnen gestattete, es zu sehen, wie etwa seiner Frau, war es ihnen möglich. Wie es sich für Eis gehörte, befand es sich am Nordpol. Direkt in dessen Herzen. Er wusste, dass auch Lair verheiratet war, sie beide waren 21 und mal wieder an einen Menschen gebunden. Lair war sechzehn, doch wechselte er je nach Belieben sein Alter. Ein Vorhaben, das Laglace für sehr anstrengend und unnötig erachtete. Zwar merkten es seine „Zieheltern“ nicht, seine Frau war eingeweiht, doch war es kräftezehrend. Und das, obwohl die Welt schon all ihre Mächte in Anspruch nahm.

„Willst du etwas zu Trinken?“

Zitternd lehnte Lair ab.

„Willst du etwas zu Essen?“

Wieder verneinte er. „E…eine Decke wäre nett.“

„Achso, tut mir leid.“, er musste lachen. „Ich vergess immer, dass ihr die Kälte nicht gewohnt seid. Warte.“ Schnell eilte er in sein Schlafzimmer. Nahm eine Decke vom Bett und legte sie Lair behutsam um die Schultern. Sein Bruder hatte blau angelaufene Lippen und wirkte wütend. „Wie immer.“, verscuhte er die Situation ins Lächerliche zu ziehen, wurde von seinem Gegenüber allerdings lediglich mit einem strafenden Blick versehen.

„Warum wehrst du dich nicht selbst?“, fragte Lair herausfordernd und rieb sich seine klammen Hände warm.

Belächelnd schüttelte er den Kopf. „Was bringt das schon? Ich habe das schon all die Jahre durchleben müssen, da verliert es an Wichtigkeit.“

„Meinst du?“

„Ja.“

„Aber dich muss das doch stören!“

Immer noch lächelnd stand Laglace auf und holte sich seinerseits etwas Bläuliches zu Trinken aus einem Schrank und füllte es in ein Glas. Alles in seinem Haus war normal eingerichtet, lediglich das Gebilde an sich, war aus Eis gefertigt. Ein Grund warum keiner seiner Brüder gerne bei ihm war. es war kalt und sie froren. Eigentlich besuchten sie sich selten gegenseitig in ihren Heimen. Bei Lair war es zu windig und schwindelerregend, bei Leau nass und keiner von ihnen vermochte am Meeresboden zu atmen. Bei Terre war es etwas anderes, da er auf dem Land lebte, war es ihnen möglich, sich wenn Not bestand, bei ihm zu versammeln. Er bewohnte einen undurchsichtigen Teil des Regenwaldes. Einen, den die Menschen wohl niemals abroden würden. Das hofften sie. Es war sicher, sicher und verborgen, was das Wichtigste war, es war für sie alle ein Ort, an dem sie sich aufhalten konnten. Lediglich Laglace bekam mit der Zeit Schwierigkeiten. Es war stickig und heiß. Genau das, was sein Körper nicht lange erdulden konnte.

„Warum?“, bissig nippte er an der kalten Flüssigkeit. Brennend rann sie seine Kehle hinunter. „Warum sollte ich mich gegen Kinder wehren?“

Lairs Stimme wurde hitziger und sein Bruder vergaß für einen Moment die um ihn herrschende Kälte. „Aus Rache! Was sie immer mit dir machen darfst du dir von den Menschen nicht gefallen lassen, Glace! Ich sehe es doch immer!“

Er schwieg und nahm einen größeren Schluck.

„Glace! Die Menschen können nicht immer…Was trinkst du da eigentlich?“, verstört ruhte der Blick seines Bruders auf dem Glas.

Wortlos stellte er das Glas auf die Ofenplatte und setzte sich ihr gegenüber auf die Anrichte. „Nichts.“, winkte er ab und schüttete den Rest unachtsam ins Waschbecken. Lair erschrack, als weißer Rauch daraus emporstieg. „Glace…was ist das?“

„Was schlägst du also vor? Mich mit meiner Macht an ihnen verkreifen?“, umging er seine Frage und fixierte ihn sicher.

Lair nickte knapp. „Zum Beispiel“

„Das ist Irrsinn! Und das weißt du! Ich bin nicht so rachsüchtig wie du! Das ist keiner von uns.“

Lair wurde ungehaltener und trat dicht an ihn heran. Seine Augen formten sich zu wilden Gebilden aus grauer Masse, die sich brausend zu einem Wirbel kräuselte. Ein klares Zeichen für seinen Zorn. „Willst du etwa sagen, Sie selbst hätten jemals auf uns Rücksicht genommen?!“, brüllend verschränkte er seine Hände vor seiner Brust.

„Nein“, wehrte Laglace beschwichtigend ab. „Das nicht. Aber vergiss nicht, wir sind ihnen überlegen. Ich für meinen Teil werde nichts unübelegtes tun, nur wegen diesen Jungen.“

„Geht es wirklich nur um die Jungen?“ Lairs Frage klang herrausfordernd und lies ihn abrupt stoppen. „Nein… tut es nicht.“ Betroffen lies er sich von der Küchenplatte hinunterrutschen und sah Lair in dessen aufgebrachte Augen. „Aber ich weiß trotzdem nicht, was ich tun könnte. Was wir tun könnten.“

„Glace?“

Seine Augen beruhigten sich und er wischte sich mit zwei Fingern entspannend über die geschlossenen Lider. Als er sie wieder öffnete, waren seine Puppillen normal. Auch seine grünen Augen schimmerten Laglace wild entgegen.

„Ja“, antwortete er unverwandt.

„Ich weiß auch nicht genau, wie. Aber wir müssen etwas tun.“

Er nickte. Ihm war es bewusst. Aber ihm fehlte die Kraft wirklich etwas gegen die Menschen zu unternehmen. Also nickte er matt. „Wie?“

„Gehen wir zu Terre?“

Beim Gedanken wieder in Terres von wilden Tieren verseuchtem, warmen, stickigem Haus zu sitzen, wurde ihm schlecht. Er fühlte sich dort nicht wohl. Selbst nicht im Beisein von seinen Brüdern. „Na gut.“, tief einatmend massierte er seinen steifen Nacken. „Bringen wir es hinter uns.“

„Ich hole Leau.“

Wieder nickte er. „Wir treffen uns dort.“

Es ist genug

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