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Kapitel 1

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Die Wachsoldaten an der äußeren Ringmauer nickten dem Reiter lediglich einen kurzen Gruß zu, ehe sie die Tore für ihn öffneten. Langsam trieb er sein Pferd den schmalen Weg zum inneren Burgfried hinauf, während sich der erste Schein der morgendlichen Sonne über den Hügeln im Osten zeigte und die kleine Anlage mit rotgoldenem Licht überstrahlte.

Der Reiter war jung, vermutlich nicht älter als achtzehn Jahre, noch zeichnete die Jugend die Züge auf seinem Gesicht. Und doch schien er die Ausbildung zum Krieger bereits abgeschlossen zu haben. An seinem Gürtel hingen Schwert und Messer und einige Strähnen in seinem Haar, das ihm bis über beide Schultern reichte, waren geflochten. Ungewöhnlich war die Farbe, beinahe so weiß wie der frisch gefallene Schnee im Winter.

Als der Junge den Hof der Burg erreicht hatte, stieg er von seinem Pferd und streichelte es sanft. Er war groß gewachsen, der Hengst überragte ihn nur wenig.

Plötzlich glitt beinahe lautlos eine alte Dienstmagd an seine Seite und als der Junge sich ihr zuwandte, begann sie, hastig flüsternd auf ihn einzureden. Er nickte mehrmals, hielt allerdings seine Augen gesenkt, so dass der Ausdruck auf seinem Gesicht verborgen blieb.

„Es ist gut, dass Ihr so rasch gekommen seid“, sagte die Alte dann.

„So rasch es ging“, versicherte er.

Sie verzog den Mund. „Nichts desto trotz wird es wohl noch eine Weile dauern. Die Herrin bittet Euch daher zu warten. Soll ich Euch ein Frühstück richten?“

„Nein.“ Er schüttelte augenblicklich den Kopf. „Ich werde in der Zwischenzeit nach hinten in den Garten gehen.“ Der Junge sah kaum auf, ehe er sich zurückzog.

In einem der Zimmer, hoch oben über dem Hof der Burg, kniete ein Mädchen über ein paar Matten und Decken am Boden. Sie hatte sich vornüber gebeugt und stützte sich mit beiden Händen auf eine ältere Frau auf, die vor ihr hockte. Das Mädchen war lediglich mit einem losen Hemd bekleidet und das Wasser, das aus ihrem Körper hervorquoll, rann an ihren nackten Beinen hinab und tränkte die Laken unter ihr.

„Oh Gott im Himmel, warum tut es so entsetzlich weh?“, brachte sie mit Mühe hervor. Ihre Stimme krächzte, heiser vom Schreien. „Mit Sicherheit ist es die Strafe für meine Sünden.“

„Wer hat Euch denn solch einen Unsinn erzählt?“, knurrte die Hebamme, die hinter der Gebärenden kniete. „Das hier hat mit Strafe nicht das Geringste zu tun und jetzt nehmt Euch zusammen!“

Das Mädchen schloss die Augen vor Erschöpfung, während sie sich darum bemühte, ihre Kräfte zu sammeln, doch als sich die nächste Wehe ankündigte, krallte sie sich wieder voller Verzweiflung an die Frau vor ihr. Und als der Schmerz nachließ, wandte sich das Mädchen zur Seite und verlangte nach einer tönernen Schüssel.

„So ist es gut“, lobte die Hebamme, während sie das Erbrochene besah. „Wenn Ihr Euch anderweitig erleichtern müsst, haltet bloß nichts zurück. Dann wird es ganz schnell gehen.“

Die zweite Frau, die vor dem Mädchen hockte, wischte das Gesicht der Gebärenden mit einem feuchten Tuch ab und strich ihr anschließend liebevoll die langen dunkelblonden Strähnen zurück, die die Hebamme zuvor gelöst hatte, damit die Geburt rascher vonstatten ginge. Obwohl es ein warmer Frühlingstag war, war ein Kohlebecken im hinteren Teil des Raumes aufgestellt worden, weil es ansonsten zu kalt für ein Neugeborenes gewesen wäre und so dampfte das Zimmer vor Feuchtigkeit und Hitze.

Die Schwere der Luft drückte den Frauen den Atem ab, doch das Mädchen bemerkte dies kaum, denn die Wehen überrollten sie nun ohne Unterbrechung. „Ich flehe Euch an, helft mir!“, bettelte sie kreischend. „Bitte, bitte.“

„Ihr habt es bald geschafft“, beruhigte die Hebamme. „Es wird nicht mehr allzu lange dauern.“

Da schrie das Mädchen lauter und gequälter als in all den langen Stunden zuvor, weil sich ihr Körper endlich weitete und sich das Kind seinen Weg nach draußen in die Welt wie ein glühendes Messer bahnte. Doch dann war es vorbei und die Hebamme fing das Neugeborene mit ihren Händen auf.

„Es ist ein Knabe!“, jubelte sie beinahe augenblicklich. „Ihr habt einem Sohn das Leben geschenkt!“ Ihre Finger strichen tastend über den winzigen Körper. „Ein wenig klein ist er, aber gesund und kräftig.“ Anschließend biss die Hebamme die Nabelschnur durch und hüllte das Kind in ein vorgewärmtes Tuch.

Die ältere Frau hatte ihre Arme immer noch um das Mädchen geschlungen und drückte die junge Mutter nun seitlich auf das weiche Lager unter ihr nieder. „Leg dich hin“, sagte sie sanft, „und ruh dich aus.“ Sie holte einen Becher mit kühlem Wasser und hielt ihn dem Mädchen an die Lippen.

„Möglicherweise dauert es eine kurze Zeitlang, ehe die Nachgeburt kommt.“ Die Hebamme bettete das neugeborene Kind in den Arm der Mutter, erhob sich und trat einen Schritt zurück.

Der Atem des Mädchens hatte sich beruhigt. Ganz und gar war sie in den Anblick des kleinen Jungen in ihren Armen versunken. Sie streifte sogar das Tuch vom Körper des Kindes, um ihren Sohn vom Kopf bis zu den Füßen betrachten zu können. Er war vollkommen und sie wagte kaum ihn zu berühren. Während sich das Mädchen über ihn beugte, fiel ihr langes dunkelblondes Haar über eine Hälfte ihres Gesichtes und bedeckte sie nahezu. Und das Kind sah mit wachen Augen zu seiner Mutter auf, während es an seinen winzigen Händchen saugte. So verharrten sie eine ganze Weile, bis mit einem Mal ein Ausdruck der Trauer auf die Züge des Mädchens trat und sie das Kind wieder in das Tuch einhüllte.

Die beiden Frauen wechselten einen raschen Blick.

„Danke Gott dafür, dass es ein Knabe geworden ist“, meinte die ältere Frau anschließend. „Ich bin gewiss, dass es für ihn einfacher sein wird mit einem Sohn als ...“

Die junge Mutter nickte langsam und verzog schließlich den Mund zu einem müden und nicht ehrlichen Lächeln. Dann aber schrak sie zusammen, als plötzlich laut von draußen gegen die Tür geklopft wurde und sie raffte eines der Laken über ihre nackten Beine.

Eine alte Dienstmagd lugte vom Gang in das Zimmer hinein. „Herrin“, sprach sie zu der älteren Frau. „Der junge Herr ist bereits vor einiger Zeit angekommen. Er wartet draußen im Garten.“ Ihre Stimme war leise, aber ihre Worte drangen dennoch bis in den hintersten Winkel des Zimmers.

Die ältere Frau drehte sich herum und ihr Blick streifte die Augen der Hebamme, ehe sich beide dem Mädchen am Boden zuwandten. „Brauchst du noch ein wenig Zeit?“, erkundigte sie sich.

Das Mädchen presste die Lippen zusammen. Dann schüttelte sie den Kopf. „Nein“, erwiderte sie ruhig. Nur ihre Augen schweiften rastlos durch den Raum. „Ich bin bereit.“ Sie wandte sich an die alte Dienerin auf dem Gang. „Du kannst den jungen Herrn heraufführen.“

Die Magd zog sich zurück.

„Ich möchte für ein paar Augenblicke mit ihm alleine sein“, bat das Mädchen, nachdem die Tür ins Schloss gefallen war. „Bitte!“ Sie blickte flehend.

Die beiden Frauen nickten und als wenig später leise Geräusche von draußen zu vernehmen waren, öffnete die Hebamme die Tür. Der Junge mit dem nahezu weißen Haar blieb auf der Schwelle des Zimmers stehen, während seine Augen unmittelbar den fahrigen Blick des Mädchens fanden und ihn festhielten. Die ältere Frau, die grußlos und mit einer deutlichen Geste der Verachtung an ihm vorüber ging, schien er kaum zu bemerken.

Erst als die Hebamme auf ihn zutrat, fragte der Junge leise: „Ist alles gut verlaufen?“

„Ja.“ Sie nickte. „Es war nicht allzu schwer. Dieses Mädchen besitzt mehr Kraft als es scheint.“ Sie warf einen Blick nach hinten. „Und Ihr habt einen gesunden Sohn.“ Sie sah ihn wieder an. „Ruft nach mir, falls sich die Nachgeburt ankündigen sollte. Ich warte hier draußen.“ Mit diesen Worten schloss die Hebamme die Tür hinter sich.

Der Junge verharrte immer noch auf der Stelle. „Ich habe bereits erfahren, aus welchem Grund nach mir geschickt wurde“, sagte er schließlich leise, noch ehe das Mädchen ein Wort gesprochen hatte.

Sie nickte langsam. „Sie sagen, dass es das Beste wäre, wenn du ihn mitnimmst“, meinte sie dann.

Der Junge stand reglos und starrte zu Boden, aber als ihm die junge Mutter ihre Hand entgegenstreckte, trat er an sie heran und kniete neben ihr nieder. Er stürzte sich nahezu auf sie und küsste ihre Finger wie ein Verhungernder. Das Mädchen aber neigte sich zu dem winzigen Kind hinab, das mittlerweile in ihren Armen eingeschlafen war, und betrachtete es liebevoll, bis sie plötzlich mit einem Stoß ausatmete und das Neugeborene in den Schoss des Jungen vor ihr bettete. Augenblicklich löste er seine Hände von dem Mädchen und schloss seine Finger um den warmen Körper des Kindes.

„Wenn ich das alles doch früher gewusst hätte“, meinte er leise.

„Was dann?“, fragte das Mädchen. Ihre Augen schienen voll banger Erwartung.

„Dann wäre ich bereit gewesen ...“ Der Junge brach ab.

„Zu töten?“, vollendete das Mädchen seinen Satz. Und es lag eine Spur von Entsetzen in ihrer Stimme.

„Möglicherweise.“ Er hob den Blick und sah sie an.

Dann beugte er sich über das Mädchen und suchte ihre Lippen, aber sie wich vor ihm zurück und drehte den Kopf zur Seite. Da wurden die Augen des Jungen hart.

„Ich verstehe“, sagte er mit Bitterkeit. „So haben sich die Dinge also verändert, nicht wahr?“

„Gar nichts verstehst du!“, fuhr ihn das Mädchen an. „Blieb mir denn eine andere Wahl?“

„Nein“, stimmte der Junge zu. „Wohl kaum.“ Er betrachtete sie. „Warum weinst du dann?“, wollte er wissen.

„Weil …“ Die Wangen des Mädchens waren nass. „Weil du … Weil ich dich …“

Er beugte sich wieder über sie. „Wenn du leben willst, dann musst du all das vergessen, was gewesen ist.“ Sanft strich er ihr die vom Schweiß und der Schwüle des Raumes verklebten Haare aus dem Gesicht. „Und versprich mir, dass du nie wieder meinetwegen weinst.“ Er legte eine seiner Hände an ihre glühenden Wangen. „Willst du mir das versprechen? Zum Abschied?“

Das Mädchen nickte und trocknete ihre Augen. Anschließend löste sie mit einer schnellen Bewegung einen Armreif, den sie um das linke Handgelenk getragen hatte. Der Reif war schmal, aus Silber gedreht und mit zwei dunkelroten Edelsteinen besetzt.

„Für das Kind“, sagte das Mädchen und hielt dem Jungen das Schmuckstück entgegen. „Sobald er alt genug ist, um alles zu verstehen, kannst du es ihm geben, wenn du es für richtig hältst. Ich habe leider nichts anderes hier, was ich dir für ihn mitgeben könnte.“ Sie brach ab.

Der Junge küsste ihre Hand, ehe er den Reif an sich nahm. Dann erhob er sich rasch, wandte sich um und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum. Das Kind presste er fest an sich. Die Hebamme, die vor der Tür gewartet hatte und nun wieder zu dem Mädchen in den Raum hineinging, nahm er kaum wahr.

„Lass mein Pferd bereit machen!“, wies der Junge stattdessen den ersten Diener an, der ihm entgegenkam. „Ich will augenblicklich aufbrechen. Und bring mir eine warme Decke für das Kind.“

Der Diener lief und der Junge folgte ihm langsam. Er war so versunken in den Anblick des Kindes auf seinem Arm, dass er wenig später beinahe mit der älteren Frau zusammengestoßen wäre.

„Herrin“, entschuldigte er sich.

Sie spuckte vor ihm auf den Boden und bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick. „Scher dich davon mit deinem gottverdammten Bastard!“, fuhr sie ihn an. „Ich will dich hier nicht mehr sehen. Und komm bloß nicht auf den Gedanken, mir das Geld für die Hebamme zurückzugeben. Das übernehme ich gerne für dich, wenn ich dich bloß nicht mehr zu sehen brauche.“

Der Junge schwieg.

„Ich glaube beinahe, du hast keinen Verstand in deinem Kopf“, schimpfte die Frau weiter. „Oder haben dich deine Erzieher nicht oft genug verprügelt, um dir Manieren beizubringen? Was war bloß in dich gefahren, dass du wissentlich solch ein Unglück heraufbeschwören konntest?“

Der Junge sah ihr geradewegs in die Augen. „Ich habe sie geliebt, Herrin“, erwiderte er.

„Geliebt?“ Sie lachte. „Das nennst du Liebe? Gemeinhin nennt man es wohl anders.“ Und die Frau machte eine äußerst unschöne Geste.

Da wurden auch seine Augen kalt. „Was versteht Ihr schon davon?“, fragte er barsch.

„Nun, vermutlich überhaupt nichts“, höhnte sie. „Aber ich lasse mir gerne von einem Grünschnabel wie dir allerhand über diese Dinge erzählen. Also?“ Sie blickte ihn herausfordernd an.

Doch der Junge schüttelte den Kopf.

Auch die Frau wirkte erschöpft. „Lassen wir das“, sagte sie. „Es hilft ja nun doch alles nichts mehr.“ Sie schien ein wenig versöhnlicher und warf einen Blick auf das neugeborene Kind. „Du wirst so bald wie möglich eine Amme brauchen.“

„Ja“, erwiderte der Junge.

„Ich kümmere mich darum“, versprach sie.

Der Junge nickte und wollte eben zu einem Dank ansetzten, als ein schriller Schrei den Gang hinab drang. Ihm folgte ein zweiter.

„Um Gottes Willen, das wird gewiss die Nachgeburt sein!“, rief die ältere Frau. „Ich muss wieder hinein!“ Sie lief davon.

Der Junge sah ihr einen Augenblick nach. Dann stieg er schließlich die Stufen hinab. Doch jeder Schritt, den er sich mit dem Kind auf dem Arm weiter von dem Mädchen entfernte, ließ ihn altern. Machte ihn verschlossener, härter und kälter. Als er schließlich am Fuß der Treppe angelangt war, war der Junge ganz und gar zum Mann geworden. Wortlos nahm er im Hof der Burg sein Pferd entgegen und ließ sich das Kind hinaufreichen. Und als er letztendlich das Tor der äußeren Ringmauer passierte, da war von Jugendlichkeit auf seinen Zügen keine Spur mehr zu finden.

Novembergrab

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