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TÖTEN – II. Teil

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Maria presste eine Hand auf ihre Brust, während sie sich damit abmühte, ihren heftigen Atem zu beruhigen. Es waren etliche Stufen vom Keller bis hinauf unter das Dach, wo sich auf dieser Seite des Herrenhauses lediglich die Räumlichkeiten des Fürsten und seiner Gattin befanden. Hier oben war es zwar im Sommer etwas heiß und stickig, dafür lagen die Zimmer aber auch abgeschieden von all dem Lärm und den ständigen Anfragen der Dienerschaft.

„Herrin.“

Elisabeth fuhr herum. Sie hatte am Fenster ihres Zimmers gestanden und wohl ganz und gar gedankenverloren in den Hof hinab gestarrt. „Maria…“, erwiderte sie leise. „Du hast mich erschreckt.“

Seitdem Richard Bernadette verlassen hatte, schien Elisabeth die Räume ihres Gatten zu meiden und sie schlief sogar des Nachts in ihrem eigenen Bett, was sie, wenn sich der Fürst auf der Burg befand, niemals tat.

„Verzeiht mir, bitte“, entschuldigte sich Maria. „Ich wollte nach Euch sehen.“

Elisabeth verzog den Mund zu einem dünnen Lächeln. Doch es schien nicht ehrlich. Schon manches Mal hatte die Dienerin ihre Herrin derart in sich versunken aufgefunden. Und jedes Mal war Elisabeth zu Tode erschrocken gewesen, sobald sie begriffen hatte, dass sie nicht mehr alleine war.

„Ihr habt heute kaum etwas zu Euch genommen“, sprach Maria weiter. „War das Essen nicht nach Eurem Geschmack?“

Die Fürstin schüttelte augenblicklich den Kopf. „Das Essen war vorzüglich“, sagte sie. „Bitte richte den Köchinnen meinen allerherzlichsten Dank dafür aus.“

„Das werde ich“, versprach Maria. Sie musterte die Fürstin verhalten. Elisabeth war blass und in ihren Augen lag eine stumme Trauer.

„Ist Euch unwohl?“, erkundigte sich die Dienerin. „Gibt es etwas, das ich für Euch tun kann?“

Ihre Herrin verneinte abermals. „Nein, Maria“, antwortete sie. „Ich bin nur ein wenig müde.“

Maria diente Elisabeth bereits seit über fünfundzwanzig Jahren und die winzigen Regungen der Anspannung auf deren Gesicht blieben ihr nicht verborgen. Schon seit jeher waren sie das Einzige gewesen, aus dem Maria schließen konnte, was in ihrer Herrin vorgehen mochte und was sie brauchte, denn niemals in all der langen Zeit hatte sich Elisabeth der Dienerin anvertraut.

„Soll ich eine Eurer Kammerzofen zu Euch bringen?“, fragte Maria schließlich.

„Danke, das ist nicht notwendig“, wies Elisabeth die Frau zum dritten Mal ab. „Ich komme alleine zurecht. Aber wenn es dir keine Umstände macht, wäre ich dir äußerst zugetan, wenn du später den Herrn Walter zu mir schicken könntest.“

Maria unterdrückte ein Seufzen und zog sich dann ohne ein weiteres Wort zurück. Während sie die vielen Steinstufen wieder hinabstieg, wünschte sie, ihre Herrin würde sich ein einziges Mal gehen lassen. Sie wünschte, Elisabeth würde einmal schreien oder weinen oder einmal aus tiefstem Herzen lachen. Doch die Fürstin schien nichts von alledem zu können.

Maria hatte noch niemals erlebt, dass Elisabeth ihre Stimme gegen irgendjemanden erhoben hatte, stets sprach sie leise und mit Höflichkeit, sie bat, wenn sie etwas wollte, und befahl nicht und im Gegensatz zu anderen Lehnsherrngattinnen hatte die Fürstin keine Launen. Aber weil Elisabeth keine Herzlichkeit an den Tag legte und ihre Kälte und Unnahbarkeit ihren Dienstkräften und Abhängigen unheimlich blieb, gehorchten sie ihrer Herrin zwar widerspruchslos, besaßen ansonsten jedoch keine engere Verbindung zu ihr. Auch Maria ertappte sich immer wieder dabei, dass sie Elisabeth übersah oder ihr gar aus dem Weg ging, weil die Begegnungen mit ihr meist zäh waren und es eine große Anstrengung bedeutete, herauszufinden, was die Fürstin bewegte.

Oberflächlich betrachtet war Elisabeth eine untadelige Burgherrin, die ihre Aufgaben gewissenhaft erfüllte, ohne sich jemals zu schonen. Aber dennoch drängte sich Maria oftmals das Gefühl auf, als wäre der Fürstin im Grunde das gesamte Hofleben gleichgültig. Sie hätte sich jedenfalls niemals darüber gewundert, wenn eines Morgens die Kammern der Herrin leer und sie selbst für immer verschwunden gewesen wäre.

Allerdings fragte sich Maria immer wieder, was einer Frau wie Elisabeth eigentlich fehlen mochte. Die Fürstin war mit einem Mann verheiratet, der über ein riesiges Vermögen verfügte. Sie musste sich weder um ihre eigene Zukunft, noch um die ihrer Nachkommen Gedanken machen. Die Ehe verlief glücklich, so schien es zumindest von außen. Richard hatte keine illegitimen Kinder und falls der Fürst je eine Mätresse gehabt haben sollte, so war dies im Stillen und heimlich geschehen, so dass niemals etwas Derartiges bekannt geworden war. Elisabeth hatte ihrem Mann einen Sohn als Erben und dann noch eine entzückende Tochter geboren. Was konnte man denn mehr wollen?

Isabel hatte Recht, das fand auch Maria. Es war kaum zu verstehen, weshalb sich der Fürst und die Fürstin so nah standen. Im Gegensatz zu seiner Frau kannte Richard nämlich ganz und gar keine Zurückhaltung. Wenn ihm etwas nicht passte, dann polterte er ohne Zurückhaltung drauf los, aber wenn ihn etwas freute, dann konnte er auch aus vollem Hals heraus lachen. Und damals, nach der Geburt seiner Tochter, da hatte er sogar vor Maria seine Tränen nicht verborgen, die ihm vor Stolz und Rührung über die Wangen gelaufen waren. Es war nur wenige Tage nach Annas Geburt gewesen, als Maria eines Morgens mit dem neugeborenen Mädchen auf dem Arm die Kammern der Fürstin betreten hatte, in denen Elisabeth wegen ihrer Unreinheit für die Zeit des Wochenbettes schlafen sollte. Doch die Dienerin traf ihre Herrin nicht alleine an, denn auch Richard befand sich im Zimmer. Er war nicht einmal ordentlich angezogen und es war offensichtlich, dass er die Nacht nicht in seinem eigenen Bett verbracht hatte.

„Ich wollte nur rasch nachsehen, wie es meiner lieben Gattin geht“, murmelte er entschuldigend vor sich hin.

Maria aber sah ihn an. „Ihr könnt wohl nicht schlafen ohne Eure Frau“, meinte sie und dann lachte die Dienerin dermaßen frech in Richards Gesicht, dass der Fürst leicht errötete und abwinkte.

„Dir kann man doch wirklich nichts vormachen.“ Mit diesen Worten hatte er den Raum verlassen.

Mit all diesen Gedanken im Kopf stieg Maria langsam und nachdenklich die Steinstufen hinab. Sie hatte beinahe das untere Stockwerk des Herrenhauses erreicht, als ihr der Ziehbruder des Fürsten entgegen kam.

„Ach, Walter“, hielt sie den Mann auf, „Elisabeth würde gerne mit Euch sprechen. Später, wenn Ihr die Zeit dazu findet.“

Er nickte. „Sobald die letzten Gäste versorgt sind.“, versicherte er.

Und Maria kehrte zu Anna zurück.

Jenseits des Raumes, in dem der große Holzzuber für das Bad stand, führten etliche Stufen noch weiter in die tiefen Keller der Burg hinab. Dort unten, wo es selbst im Hochsommer niemals warm wurde, befanden sich im vorderen Teil die Vorratskammern, in denen Obst, Gemüse, Öle und Wein gelagert wurden. Doch der Gang zog sich weiter nach hinten bis in die Dunkelheit hinein, an mehreren riesigen Räumen mit gewaltigen Eisentüren vorbei. Markus behauptete seit jeher, dass es Kerker für Gesetzesbrecher oder aufständische Bauern wären, Anna jedoch bezweifelte dies, weil sie sich nicht daran erinnern konnte, dass in diesen Kammern jemals irgendjemand gefangen gehalten worden war. Ganz am Ende des unteren Ganges befand sich jedoch noch ein weiterer, sehr viel kleinerer Raum, der tatsächlich ein altes Verlies zu sein schien. Bereits als kleines Mädchen war Anna immer wieder heimlich in den Keller bis an die Tür jener Kammer geschlichen, doch sie hatte sich niemals dazu überwinden können, das Verlies zu betreten. Ein unangenehmer Geruch nach Moder und Schimmel drang aus dem düsteren Inneren heraus, lediglich durch einen schmalen, vergitterten Schacht fiel ein wenig fahles Tageslicht hinein. In die hintere Wand der Kammer waren zwei Eisenringe eingeschlagen und in einer Ecke türmten sich etliche verrottete Gerätschaften und Werkzeuge. Auch von Ferne erkannte Anna die Ketten und Nägel, die Eisenplatten und Schrauben, doch weil sie sich einfach nicht vorstellen konnte, welchen Zweck diese Geräte hätten, hatte sie eines Tages ihren Bruder danach gefragt: „Markus, was sind das für rostige Werkzeuge dort unten im Verlies? Wozu können sie benutzt werden?“

Und weil der Sohn des Fürsten dem Mädchen stets eine Antwort gab, erwiderte er unumwunden: „Mit diesen Werkzeugen kann man einem Menschen so viel Schmerz zufügen, dass er jede Frage beantwortet.“

„Schmerz zufügen?“, wiederholte Anna. Ihr Unverständnis war nicht geringer geworden. „Aber warum macht man das? Und welche Fragen soll er beantworten?“

„Nun ja.“ Markus suchte nach den richtigen Worten. „Stell dir vor, dass es gelungen ist, einen Gesetzesbrecher gefangen zu nehmen. Vielleicht jemanden, der etwas gestohlen hat, jemanden, der ein Kind entführt hat oder jemanden, der einen Anschlag auf den Kaiser geplant hat. Doch dieser Gesetzesbrecher weigert sich, etwas preiszugeben und schweigt zu allen Fragen, die ihm gestellt werden. Dann kann man ihn mit Hilfe solcher Geräte dort unten zum Reden bringen.“

„Und wenn er dennoch nichts preisgibt?“, wollte die kleine Schwester wissen.

Der Sohn des Fürsten schüttelte den Kopf. „Er wird reden“, versicherte er. „Niemand kann solch furchtbare Qualen ertragen.“

„Und Richard?“ Das Entsetzen stand in Annas Augen. „Lässt er …, ich meine, geschieht so etwas auch auf Bernadette?“

„Nein, niemals“, beruhigte Markus seine Schwester. „Vater besitzt überhaupt kein Recht dazu, irgendjemanden peinlich zu befragen. Wenn auf Bernadette ein gröberes Vergehen geschieht, muss er den Verdächtigen an den Hof des Landesherrn ausliefern, damit ihm dort der Prozess gemacht wird.“

„Aha“, erwiderte Anna, weil sie noch zu jung war, um zu begreifen, was ihr Bruder ein wenig altklug daher redete. Dennoch war sie zutiefst darüber beruhigt, dass solch grauenhafte Dinge auf ihrer Burg nicht stattfanden.

Walter klopfte leise gegen die dunkle Holztür. „Elisabeth?“

„Ihr könnt eintreten!“, erklang es augenblicklich von drinnen.

Langsam öffnete Richards Ziehbruder die Türe zu den privaten Gemächern der Fürstin. Immer noch verharrte sie unter dem Fenster, doch sie blickte nicht mehr hinaus, sondern hatte sich Walter bereits zugewandt. Ihr Haupt war unverschleiert.

„Maria sagte mir, Ihr wolltet mich sprechen?“ Walter war im Türstock stehen geblieben.

Elisabeth nickte. „Bitte, kommt herein.“ Der Ziehbruder ihres Gatten war der einzige Mann, dem sie, abgesehen von Richard, den Zugang zu ihren Räumlichkeiten gestattete.

Walter ließ den Riegel ins Schloss schnappen und ging ein paar Schritte auf die Fürstin zu.

„Wollt Ihr Wein?“ Elisabeth trat an den Tisch heran.

„Gerne. Doch lasst nur.“ Richards Ziehbruder kam an ihre Seite. „Ich übernehme das.“

„Danke.“ Für einen kurzen Augenblick lächelte die Fürstin ihn an.

Der Mann goss den Wein aus der Karaffe in zwei Becher und reichte einen an Elisabeth weiter.

„Danke“, sagte sie noch einmal. „Sind die Gäste versorgt?“, erkundigte sie sich dann, ehe sie das Gefäß hob.

„Ja.“ Richards Ziehbruder nickte. „Trotz des plötzlichen Wettereinbruchs schienen alle sehr zufrieden mit dem heutigen Tag.“

„Gut.“ Die Fürstin blickte zu Boden.

„Und wie ist es Euch ergangen?“, fragte Walter. „Habt Ihr Richards Lehnsmänner bereits empfangen können?“

„Ja, die meisten von ihnen.“ Elisabeth wies auf die andere Seite des Tisches, wo ein zusammengerolltes Pergament lag, auf dem sie sich ihre Vermerke gemacht hatte.

„Besondere Vorkommnisse?“, wollte Richards Ziehbruder wissen.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Das letzte Jahr war durchgängig ertragreich, so dass die Abgaben hoch sein werden. Ansonsten das Übliche: Streit mit den Bauern, ein paar Überfälle, Hochzeiten, Begräbnisse …“ Die Fürstin winkte ab.

Walter schwieg.

„Ich möchte Euch danken“, sagte Elisabeth schließlich leise. „Ohne Eure Hilfe…“ Sie schüttelte den Kopf.

„Nun ja“, wehrte er ab.

„Ihr wisst, dass es so ist.“ Die Fürstin berührte Walters Schulter für einen Moment, dann wandte sie sich davon und ließ sich in einen der dick gepolsterten Sessel sinken. „Ich würde gerne Eure Gedanken hören“, sprach Elisabeth weiter. „Was geht Euch durch den Kopf, wenn Ihr mich anseht?“

Walter ließ sich auf einem Stuhl der Fürstin gegenüber nieder und musterte sie eine Zeitlang wortlos. Elisabeths helles Haar war nach hinten genommen und aufgebunden. Ohne das dichte Tuch über ihrem Kopf wirkte sie weitaus weniger unnahbar. Gerade hatte die Fürstin das vierzigste Lebensjahr vollendet und die Zeit war auch an ihr nicht spurlos vorübergegangen, wenn gleich ihre Gestalt immer noch schmal war, weil die beiden Schwangerschaften kaum Zeichen an ihrem Körper hinterlassen hatten. Doch auf ihrer Stirn, um ihre Augen und unter ihrem Mund fanden sich tiefe Furchen. Mit ein wenig mehr Mühe hätte sich Elisabeth um einiges vorteilhafter präsentieren können. Doch sie schien darauf keinen Wert zu legen. Sie trug immer hochgeschlossene Kleider ohne jede Verzierung und legte niemals irgendeine Art von Schmuck an. Ihr Haar verbarg sie unter einem Schleier, kaum dass sie ihre privaten Gemächer auch nur verließ, obwohl es mit Sicherheit nicht Richard war, der seiner Frau Derartiges gebot.

„Es gibt keinen Grund, mich zu schonen.“ Elisabeth schien immer noch auf eine Antwort zu warten. „Schon so viele Jahre lang seid Ihr der einzige Freund, den ich habe. Also seid ehrlich mit mir! Sprecht frei heraus!“

„Nun.“ Walter nahm noch einen Schluck aus seinem Becher. „Es gibt tatsächlich etwas, das mir seit einigen Wochen immer wieder durch den Kopf geht, wenn ich Euch ansehe: Ich denke, dass Ihr erschöpft seid. Ich denke, dass die Verpflichtungen auf Bernadette schon lange über Eure Kräfte gehen. Und zudem war das vergangene Jahr besonders hart.“

„Ja“, gab Elisabeth unumwunden zu. „Ihr habt vollkommen Recht. Wenn Richard nicht bald zurückkehrt, dann …“ Sie schüttelte den Kopf. Für einen Moment stand eine leise Sehnsucht in ihrem Blick, ehe ihre Augen wieder hart wurden. „Wisst Ihr einen Rat für mich?“, fragte sie den Mann ihr gegenüber anschließend. Aufatmend legte die Fürstin ihre geschwollenen Füße vor sich auf einen Holzschemel.

„Einen Rat?“ Walter schien verwirrt. „Ihr seid die Herrin.“

„Nicht für Euch“, erwiderte Elisabeth. „Also keine falsche Zurückhaltung. Was würdet Ihr mir raten?“

Richards Ziehbruder blickte sinnend vor sich hin. „Ich würde Euch raten, Bernadette für eine Zeitlang zu verlassen“, sagte er schließlich.

„Verlassen?“, wiederholte Elisabeth, als hätte sie ihn nicht richtig verstanden.

„Ja“, bestätigte der Mann. „Auf der Burg werdet Ihr niemals zur Ruhe kommen, ganz gleich wie sehr Ihr Euch auch zurückziehen mögt.“

„Und wohin soll ich gehen?“, fragte die Fürstin.

Walter zuckte mit den Schultern. „Irgendwohin. Dorthin, wo nicht allzu viel Trubel herrscht. Warum besucht Ihr nicht eine Eurer Schwestern?“

„Und wer wird sich auf Bernadette um alles kümmern?“

„Ich“, erwiderte Richards Ziehbruder. „Jetzt, nach dem Frühlingsfest, stehen für die nächsten Monate keine größeren Arbeiten an. Und das Alltägliche, nun, das schaffe ich auch ohne Euch.“

„Und wenn Richard …?“ Die Fürstin ließ den Satz unvollendet.

„Dann sende ich Euch noch am selben Tag einen Boten und Ihr könnt unverzüglich heimkehren“, versicherte Walter.

„Es ist über zehn Jahre her, dass ich zuletzt für länger …“

„Dann ist es vielleicht wieder einmal an der Zeit“, fiel Richards Ziehbruder der Fürstin ins Wort.

Elisabeth schwieg.

Der Mann sah sie an. „Elisabeth!“, sagte er mit Nachdruck. „Niemand weiß, zu welchem Zeitpunkt Richard und Markus nach Bernadette zurückkehren werden. Und niemandem ist damit geholfen, wenn Ihr Euch bis dorthin zu Tode gearbeitet habt.“ Walter erhob sich. „Denkt über meinen Vorschlag nach.“ Er trat neben die Fürstin. „Wollt Ihr das?“

Sie griff nach seiner Hand. „Ja“, versprach sie. „Und habt Dank für Eure Worte.“

Einen Augenblick lang drückte sie fest seine Finger.

Im Keller der Ruine, nicht allzu weit von Bernadette entfernt, lag der Gefangene auf dem harten Boden seines Verlieses. Die Soldaten hatten die schmerzhaften Befragungen bereits vor einigen Stunden abgebrochen, ihn anschließend gar von der Wand genommen und waren ohne ein weiteres Wort verschwunden. Bislang waren sie nicht zurückgekehrt, lediglich ein Mal hatte sich die Tür für einen kurzen Augenblick geöffnet und dem Gefangenen war ein Becher mit Wasser in den Raum hinein geschoben worden. Doch es gelang ihm kaum, das Gefäß an sich zu ziehen. Seine Arme waren immer noch aus ihren Gelenken gezerrt und weil sein Gesicht vollkommen zerschlagen und aufgequollen war, brachte er nur wenige Schlucke hinunter. Darüber hinaus hatten ihm die Soldaten etliche seiner Rippen gebrochen, so dass ihm jeder Atemzug schier unerträgliche Qualen bereitete. Mit Sicherheit hätte ihm der Schlaf ein wenig Erholung verschafft, doch der Gefangene verweigerte sich ihm, aus Angst vor dem, was ihm geschehen könnte, wenn er nicht bei Bewusstsein war.

Als sich mit einem Mal die Tür des Verlieses öffnete, schrak er auf und zog schützend Arme und Beine näher an seinen Körper. Es war der Herr jener Männer, der erneut mit seinen beiden Soldaten in den Raum hinein trat. Der Gefangene konnte die Umrisse ihrer Gestalten kaum erkennen, so sehr waren seine Augen zugeschwollen.

„Zieht ihn aus!“, befahl der Herr. „Alles runter. Auch die Hosen.“ Er steckte zwei Fackeln in die leeren Halterungen an den Wänden.

Als die Männer näher auf ihn zutraten, fiel der Blick des Gefangenen für einen Moment auf die geflochtene Lederpeitsche am Gürtel des einen. Nur einen Atemzug später waren sie über ihm und zerrten ihm mit wenigen rohen Handgriffen die Kleider vom Leib. Der Gefangene verbiss sich einen Schrei, als die Männer dabei die Verkrustungen auf seiner Brust wieder aufrissen, dort wo mit dem getrockneten Blut auch der Stoff des Hemdes an der Haut geklebt hatte. Ohne Mitgefühl zogen die Soldaten den Gefangenen anschließend nach oben auf die Füße. Sie hielten ihn für einen Augenblick, doch dann gaben sie seine Arme frei und traten von ihm zurück. Er schwankte ein wenig zur Seite, ehe es ihm schließlich gelang, sich auf den Beinen zu halten. Während die beiden Soldaten untätig umherstanden, musterte ihr Herr den entkleideten Gefangenen so aufmerksam, dass jener seine Blöße vor Scham und Entsetzen am liebsten mit den Händen bedeckt hätte.

„Was ist das?“, fragte der Herr irgendwann. „Und das? Und jenes an der anderen Seite?“ Er wies auf mehrere kleine Vernarbungen am Körper des Gefangenen, besonders auf dessen Schultern und Armen.

„Abgeheilte Verletzungen“, erwiderte dieser zitternd. Es war eiskalt im Verlies und er fror erbärmlich.

„Woher?“, wollte der Herr wissen.

„Aus verschiedenen Übungskämpfen“, sagte der Gefangene.

Der Herr nickte. „Umdrehen!“, befahl er anschließend.

Der Gefangene gehorchte und drehte sich mit dem Gesicht zur Wand. Während er reglos auf der Stelle verharrte, konnte er hinter sich das schleifende Geräusch eines Lederriemens über dem Verliesboden vernehmen. Der Angstschweiß brach ihm aus und er war sicher, dass der Soldat zu einem fürchterlichen Hieb ausholte, um ihm mit einem glühenden Brennen die Haut in blutige Fetzen zu reißen und auch noch den letzten Rest von Widerstand in seinem Inneren zu brechen, bereit eine jede der gestellten Fragen zu beantworten. Und für einen Augenblick wunderte sich der Gefangene darüber, dass die Männer ihn nicht wieder an die Wand gebunden hatten, denn ganz gewiss würde ihn bereits die Heftigkeit des ersten Peitschenschlages zu Boden werfen.

Doch dann vernahm er hinter sich lediglich das dumpfe Quietschen der Verliestür und fühlte den kühlen Luftzug an seinen nackten Beinen. Als der Gefangene sich schließlich umwandte, war er allein. Die Männer hatten den Raum verlassen, die Fackelhalter an den Wänden waren wieder leer und seine Kleider lagen achtlos hingeworfen auf dem Boden.

Mühsam raffte der Gefangene das Gewand an sich und mit seinen ausgerenkten Armen dauerte es eine halbe Ewigkeit, bis es ihm gelungen war, zumindest Hosen und Schuhe wieder anzulegen. Für das zerrissene Hemd fehlte ihm die Kraft. Stattdessen zog sich der Gefangene wieder in eine Ecke des Verlieses zurück, lehnte seinen Rücken gegen die kalte Mauer und begann zu beten.

Annas hässliche Wunde auf der Stirn, die sie sich beim Schlittenfahren mit Anselm zugezogen hatte, verheilte zusehend. Der Frühling allerdings würde wohl noch eine Zeitlang auf sich warten lassen. Weiterhin lag hoher Schnee im Burggarten und es war nach wie vor klirrend kalt. Elias hatte seinem Sohn nach jenem Vorfall mit der Tochter des Herrn das Schlittenfahren verboten. Für Anselm blieb ohnehin kaum freie Zeit, da der Schmied damit begonnen hatte, neue Hufeisen für alle Pferde der Burg anzufertigen und bei dieser harten Arbeit benötigte er die Hilfe seines Sohnes beinahe durchgehend. Daher gestattete er dem Jungen so gut wie niemals, mit den andere Kindern und Heranwachsenden der Burg zusammen zu sein.

Doch an jenem Tag, an dem Anselm fünfzehn Jahre alt wurde, tauchten gegen frühen Abend hin Markus und die anderen jungen Burschen bei Elias in der Werkstätte auf und baten ihn so lange, seinen Sohn zur Feier des Tages nach getaner Arbeit mit ihnen in eines der Dörfer ziehen zu lassen, bis der Schmied schließlich nachgab.

Als es dämmerte, ritten die Jungen davon, immer zwei auf einem Pferd und Anselm hielt sich hinter Markus.

„Schön langsam!“, bremsten die anderen den Sohn des Schmiedes lachend, als sie sich schließlich ein paar Krüge Bier in einer der Kneipen bestellt hatten. „Du musst noch alleine gehen können, denn wir haben uns ein himmlisches Geschenk für dich ausgedacht.“

Sie zogen Anselm die Straße hinunter, während der eisige Wind ihnen in die halberfrorenen Gesichter schnitt. Das Dorf lag wie ausgestorben da, weil die Bewohner sich in ihre mehr oder weniger behaglichen Stuben zurückgezogen hatten. Anselm bekam kaum mit, wohin ihn die anderen führten. Das ungewohnte Bier war ihm zu Kopf gestiegen und vernebelte seine Sinne. So trottete er stumm neben Markus her.

„Fünfzehn, fünfzehn“, sagte dieser nach einer Weile, als dächte er laut. „Ich glaube, so jung war keiner von uns, als wir das erste Mal hingingen.“

Anselm hatte wirklich nicht die geringste Ahnung, wovon der Sohn des Fürsten sprach, und es dämmerte ihm erst allmählich, als er das etwas heruntergekommene Gebäude erblickte und die frierenden Frauen sah, die davor warteten. Mit einem Mal machte die eiskalte Luft ihn außerordentlich wach. „Oh nein“, meinte er leise. „Das geht nicht. Ich habe kein Geld. Ich kann mir das nicht leisten.“

„Es ist dein Geburtstag“, erwiderte einer der Burschen. „Wir werden es für dich bezahlen.“

„Oder möchtest du das nicht?“, fragte Markus.

„Doch.“ Anselm schlug das Herz bis zum Hals und am liebsten wäre er davongelaufen, aber das wagte er vor den Augen der anderen nicht.

„Also, welche willst du haben?“, fragten sie ihn.

„Nun.“ Er blickte eine Frau nach der anderen an. „Sie sind alle irgendwie …“ Ihm fehlte das passende Wort.

„Sollen wir eine für dich aussuchen?“, erkundigte sich einer.

„Oh ja“, erwiderte Anselm erleichtert.

Die Burschen berieten sich leise eine kurze Weile untereinander, bis ihre Wahl schließlich auf die offensichtlich jüngste der Frauen fiel. Dennoch war sie wohl immer noch einige Jahre älter als Anselm selbst und beinahe wich er einen Schritt vor ihr zurück, als sie auf ihn zutrat. Aber die Frau blickte ihn voller Mitgefühl an, griff dann langsam nach seiner Hand und zog ihn ins Innere des Hauses. Als der Junge bereits kurze Zeit später wieder im Eingang auftauchte, wurde er von allen erwartet.

„Und?“, fragten sie neugierig.

„Nun.“ Anselm zuckte mit den Schultern. Die Enttäuschung stand überdeutlich in seinem Gesicht. „Sie war ...“

„Hat sie dir nicht gefallen?“, fragten die anderen mit Entsetzen. Bislang war noch jeder der Burschen, nachdem er in einem dieser Häuser zum Mann geworden war, mit glänzenden Augen und einem verklärten Blick zurückgekommen.

„Doch schon“, antwortete Anselm langsam. „Es war nur irgendwie nicht das, was ich wollte.“

Der Junge wandte sich zum Gehen.

„Was willst du denn?“, rief ihm Markus hinterher.

Anna, dachte Anselm verbissen, während er die Straße hinaufstieg.

„Eure Mutter will mit Euch sprechen.“ Maria rüttelte Anna sanft an einer Schulter.

Das Mädchen schrak hoch.

„Was ist denn los?“, fragte sie verschlafen. Es geschah nicht allzu häufig, dass Anna von ihrer Dienerin geweckt wurde, denn gewöhnlicher Weise wartete Maria, bis sie Geräusche aus Annas Raum vernahm, ehe sie eintrat.

Nur mit Mühe konnte sich das Mädchen daran erinnern, wie sie nach dem heißen Bad am Abend zuvor den Weg in ihr Zimmer gefunden hatte. Und vermutlich war sie bald darauf über den ersten Seiten ihres Buches eingeschlafen.

„Mehr als dies hat mir Elisabeth nicht angetragen. Also, raus aus den Federn.“ Maria schlug die Bettdecke zurück und half Anna beim Aufstehen.

Das Mädchen gähnte und trat dann folgsam vor ihren Waschtisch. Gewöhnlich hielt sich die Fürstin bis in die späten Morgenstunden in ihren Räumlichkeiten auf und wünschte niemanden zu sehen. Auch Anna begegnete ihrer Mutter meist erst am Nachmittag und es gab sogar viele Tage, an denen sie Elisabeth überhaupt nicht traf.

So wusch sich das Mädchen nun hastig, ließ sich dann von Maria ein Kleid über die Schultern streifen und notdürftig die Haare zusammenstecken.

„Befinden sich noch viele Gäste auf der Burg?“, wollte Anna währenddessen von ihrer Dienerin wissen.

Maria nickte. „Ja, der plötzliche Wettereinbruch hat einige gezwungen, die Nacht auf Bernadette zu verbringen, obgleich sie es gar nicht vorhatten. Doch die meisten lassen bereits ihre Sachen richten und werden im Lauf des Tages abreisen.“ Die Frau begutachtete das Mädchen mit zusammengekniffenen Augen. „Man kann es lassen“, sprach sie mehr zu sich selbst. „Nun geht schon!“

Während Anna die vielen Stufen bis hinauf unter das Dach stieg, überlegte sie, wann Elisabeth sie wohl das letzte Mal zu sich gebeten hatte. Die Räumlichkeiten der Fürstin waren ein abgeschiedener Bereich, zu dem niemand, abgesehen von ihrem Vater Richard, ungehinderten Zugang hatte.

Elisabeth trat auf ihre Tochter zu, als diese langsam die Tür aufschob. „Anna, liebes Kind.“ Flüchtig küsste sie ihre Stirn.

„Guten Morgen, Mutter.“ Anna senkte die Augen. „Maria sagte mir, es wäre dringend.“

„Bitte, komm!“ Die Fürstin zog ihre Tochter an der Hand hinter sich her. „Setz dich.“ Sie wies auf einen der Stühle am Tisch und ließ anschließend auch sich selbst nieder.

Elisabeth war wohl bereits beim Frühstück gewesen, denn vor ihrem Platz stand ein Teller mit dampfendem Gerstenbrei. Anna bemühte sich, nicht darauf zu sehen, denn schon der schleimige Anblick zerstoßener und gekochter Körner ließ ihren Magen rebellieren. Solches vermochte sie sich lediglich im Winter hinunter zu zwingen, wenn es überhaupt nichts anderes mehr gab und sie kurz vor dem Verhungern war. So griff das Mädchen nun verlegen nach einem Apfel und zerbröselte eine der Brotkanten zwischen den Fingern, während sie darauf wartete, dass ihre Mutter zu sprechen beginnen würde.

Elisabeth aber aß eine ganze Weile schweigend und mit Ruhe, ganz so als hätte sie die Anwesenheit ihrer Tochter vergessen. Doch irgendwann schob sie den Teller mit einem kalt gewordenen Rest beiseite und blickte auf.

„Ich werde Bernadette für einige Zeit verlassen“, sagte sie leise und riss Anna damit aus ihren Gedanken.

Das Mädchen nickte lediglich stumm. Es kam immer wieder vor, dass Elisabeth hierhin oder dorthin reisen musste. Manchmal begleitete sie ihren Gatten Richard bei dessen Unternehmungen, manchmal brach sie auch alleine auf, um bei einer Eheschließung, einer Grablegung oder einer anderen bedeutsamen Feierlichkeit auf irgendeinem Anwesen ihrer Familie zugegen zu sein. Meist war Anna dann auf Bernadette geblieben, in der Obhut von Maria und Elgita, lediglich wenige Male hatte ihre Mutter sie mit sich genommen.

„Ich fahre für einige Wochen an den Hof meiner jüngsten Schwester“, sprach die Fürstin weiter.

„Ihr habt mir nicht gesagt, dass dort irgendein Ereignis ansteht“, erwiderte Anna, während sie sich daran zu erinnern versuchte, ob sie bei jener Tante schon einmal gewesen wäre.

Elisabeth schüttelte den Kopf. „Es steht nichts an. Vor ein oder zwei Wochen schrieb mir meine Schwester, dass sich unsere Mutter zurzeit bei ihr aufhielte und sie fragte mich, ob ich nicht auch anreisen wollte.“ Annas Großmutter hatte sich nach dem Tod ihres ersten Gatten weit in den Osten des Reiches hinein verheiratet und kam kaum einmal in den Norden zurück. „Ich hatte meiner Schwester zunächst eine Absage geschrieben, weil ich hoffte, dass Richard bald …“ Elisabeth erhob sich. „Doch ich habe noch keine Nachricht von ihm und Markus erhalten, so dass es nicht danach aussieht, als würden die beiden allzu bald zurückkehren.“ Sie hob die Schultern. Es wirkte beinahe ein wenig verzweifelt. „So habe ich mich also dazu entschieden, meine Schwester doch noch zu besuchen. Und meine Mutter …“ Die Fürstin blickte vor sich hin. „… habe ich wohl schon über zehn Jahre nicht mehr gesehen.“

Mit ihrer Tochter hatte Elisabeth im vergangenen Jahr nur wenig über Markus und Richard gesprochen und Anna hatte auch nicht gewagt, ihre Mutter allzu oft nach den beiden zu fragen. So hatte sie die Briefe, die im Lauf der Zeit nach Bernadette gekommen waren, auch nur dann zu Gesicht bekommen, wenn Elisabeth sie ihr gezeigt hatte. Soweit Anna es beurteilen konnte, waren es im Gesamten lediglich wenige Schreiben gewesen, was nicht zuletzt daran lag, dass Richard selbst nicht zu schreiben vermochte und Markus, der es zwar konnte, es äußerst ungern tat, weil jeder Buchstabe in ihn hineingeprügelt worden war.

„Wann werdet Ihr aufbrechen?“, erkundigte sich Anna.

Elisabeth zuckte noch einmal mit den Schultern. „So bald als möglich“, erwiderte sie. „Morgen, spätestens übermorgen. Wenn die letzten Gäste abgereist sind und ich die anfallenden Aufgaben unter den Dienstkräften verteilt habe, lasse ich meine Sachen packen.“

„Ist es Euer Wunsch, dass ich Euch begleite?“, fragte Anna.

„Möchtest du mich denn begleiten, Kind?“, fragte Elisabeth zurück. Ihre Stimme klang ausdruckslos.

Daher zögerte Anna mit der Antwort. „Nun.“

Die Fürstin verzog den Mund. Es war beinahe ein Lächeln. „Ich dachte mir bereits, dass du lieber hier bleiben möchtest. Deswegen hatte ich dich eigentlich auch gar nicht fragen wollen.“

„Ja“, gab das Mädchen erleichtert zu. „Der Frühling ist so herrlich und der Wald … und meine Ausritte jeden Morgen … Ich würde …“

Elisabeth streckte ihre rechte Hand aus und streichelte einen Moment lang sehr liebevoll die Wange ihrer Tochter. Doch dann trat sie wieder einen Schritt von Anna zurück. „Das vergangene Jahr war sehr beschwerlich für mich“, sprach sie leise, die Augen zu Boden gesenkt. „Ich brauche dringend einige Wochen der Erholung. Das verstehst du sicher.“ Sie schien den Blick ihrer Tochter zu suchen.

Anna nickte. Erst in den vergangenen Monaten hatte sie wirklich begriffen, wie viel Arbeit auf einem solch riesigen Anwesen wie Bernadette für den Lehnsherrn und dessen Gattin anfiel. Als Richard und Markus noch auf der Burg gewesen waren, hatte Anna kaum je irgendwelche Pflichten übernehmen müssen. Im Gegenteil, sie hatte tun und lassen können, was sie wollte und hatte ein sehr freies und wenig beschränktes Leben geführt. Das war nicht zuletzt ihrer Mutter Elisabeth zu verdanken gewesen, die ihrer Tochter weitaus mehr Freiheiten zugestanden hatte, als es für Mädchen ihres Alters üblich war. Doch nun, nachdem ihr Bruder und ihr Vater aufgebrochen waren, war Anna mehr und mehr in die alltäglichen Geschäfte und Verpflichtungen der Burgherrin mit einbezogen worden. So war sie oftmals anwesend, wenn die Fürstin mit Elgita die Aufgaben der nächsten Woche besprach, sie lernte Schriftstücke aufzusetzen und Streitigkeiten unter den Dienstkräften zu schlichten. Obwohl seitdem die eine oder andere Stunde des Tages auf diese Art und Weise dahinging, war Anna noch lange nicht in der Lage, irgendeinen der Aufgabenbereiche auch eigenverantwortlich zu übernehmen.

„Ich werde Walter für die Zeit meiner Abwesenheit die Verfügungsgewalt für Burg und Land übertragen“, sagte Elisabeth. „Halte dich also an seine Anweisungen!“

„Ja, Mutter“, versprach Anna folgsam. Sie konnte nur hoffen, dass dieser Mann in den nächsten Wochen vollauf damit beschäftigt wäre, all den Verpflichtungen nachzukommen und sie daher in Frieden ließe.

„Falls sich auf Bernadette irgendetwas Ungewöhnliches zutragen sollte“, sprach die Fürstin weiter, „kehre ich selbstverständlich augenblicklich zurück. Hab also bitte keine Scheu, mir zu schreiben, nur weil du glaubst, du dürftest meine Ruhe nicht stören. Wenn du mich also brauchst …“

„Ja, Mutter“, sagte das Mädchen noch einmal.

„Gut.“ Damit entließ Elisabeth ihre Tochter.

„Um Gottes Willen!“

Anna sprang mit einem Satz aus dem Bett. Ihr Nachtgewand und das Bettlaken waren blutverschmiert. In wenigen Wochen sollte sie vierzehn Jahre alt werden und Maria hatte sie bereits vor einiger Zeit darauf vorbereitet, dass Solches wohl bald geschehen würde und das Mädchen sich nicht zu ängstigen bräuchte, so dass Anna nun regungslos vor ihrem Bett stand und nicht recht wusste, ob sie entsetzt oder froh sein sollte.

Aber dann öffnete sich die Zimmertür und ihre Dienerin trat ein. Sie verstand augenblicklich, ging auf das Mädchen zu und ergriff Annas Hand. „Das ist vollkommen normal“, versicherte sie. „Es war überhaupt schon längst an der Zeit, dass es geschieht.“

Anschließend zog Maria das Laken vom Bett und half dem Mädchen in ein neues Gewand. Die Dienerin packte die befleckte Wäsche zusammen und schob sie auf den Gang hinaus, damit eine der Wäscherinnen sie zur Waschstube bringen konnte. Und dann ließ sich Maria auf Annas Sessel nieder und begann sehr fröhlich und ohne Scham, über den neuen Lebensabschnitt des Mädchens zu reden, der nun begonnen hatte, und all die Freuden zu erwähnen, die ihrer Meinung nach damit verbunden waren.

Anna hörte ihrer Dienerin aufmerksam zu, die Augen zusammengekniffen, die Stirn in Falten gezogen und die Hände auf den schmerzenden Unterleib gepresst und bemühte sich, alles zu begreifen.

„Nun ja“, meinte Maria anschließend und erhob sich. „Gewiss wird es nicht allzu lange dauern, bis Ihr das alles mit Eurem Gatten erleben könnt.“

Damit verschwand die Frau und ließ das Mädchen sehr ratlos zurück. Sollte das heißen, dass Anna nun heiraten und Bernadette verlassen musste?

Wenig später kam Elgita und wollte wissen, wie sich das Mädchen fühlte, und als Anna sagte, dass sie Schmerzen hätte, schickte ihre Erzieherin sie augenblicklich wieder ins Bett und ließ ein paar heiße Steine bringen, die sie in Tücher wickelte und dem Mädchen in den Rücken und vor den Unterleib legte.

Elgita redete nicht über die bevorstehenden Freuden des Frauenlebens, Anna hätte es von ihr auch nicht erwartet. Aber die Erzieherin erklärte dem Mädchen in aller Ruhe, was sie zu beachten hätte, wann immer sie blutete, und was sie tun sollte, um ihre Wäsche vor den Flecken zu schützen. Auch Elgita sprach davon, dass diese Tatsache nun mit Sicherheit ein deutliches Zeichen für Richard und Elisabeth wäre, sich nach einem passenden Ehemann für ihre Tochter umzusehen.

Anna wünschte, auf ihrem Zimmer zu bleiben und die Erzieherin veranlasste, dass dem Mädchen etwas zu essen und trinken gebracht wurde. Dann ließ sie Anna allein. Etwas später, als von draußen Markus’ Stimme zu ihr hereindrang, erhob sich das Mädchen allerdings, trat auf den Flur hinaus und rief leise nach ihrem Bruder.

„Bist du krank?“, fragte er besorgt, vermutlich weil er das Mädchen an diesem Tag bislang noch nicht irgendwo angetroffen hatte.

Anna schüttelte jedoch den Kopf. Sie trat auf Markus zu und teilte ihm mit leiser Stimme mit, was ihr am Morgen widerfahren war. Er schob sie in sein Zimmer hinein und schloss anschließend die Tür hinter ihnen. Dann legte er die Arme um seine Schwester und hielt sie eine Zeitlang an sich gedrückt, sein Gesicht war ernst. Für Anna kam die Welt wieder zur Ruhe, so wie immer, wenn Markus sie festhielt, doch nach einer Weile hörte sie, wie er sagte: „Jetzt werden sie dich schon sehr bald von mir wegreißen.“

Anna blieb auf ihrem Zimmer und verbrachte den Tag lesend im Bett. Die Schmerzen hatten nachgelassen, vermutlich Dank der heißen Steine oder wegen Markus’ Umarmung und das Mädchen empfand nun beinahe eine gewisse Gemütlichkeit, weil sie sich einmal ausruhen konnte, ohne deswegen ein schlechtes Gewissen haben zu müssen.

Am frühen Nachmittag kam endlich Elisabeth.

„Verzeih bitte, Liebes“, sagte sie und küsste ihre Tochter. „Ich hatte so viel zu tun, dass ich nicht früher kommen konnte.“

Die Fürstin war keine Mutter, die alles stehen und liegen ließ, wenn eines ihrer Kinder nach ihr verlangte. Dies hätten ihr ihre Pflichten als Burgherrin vermutlich auch nicht gestattet. Aber wenn sie sich ein wenig von der vielen Arbeit frei machen konnte, dann saß sie ohne Hast am Bett ihres kranken Mädchens und nahm sich so viel Zeit, als hätte sie an diesem Tag weiter nichts zu tun.

Anna richtete sich ein wenig auf, während sie mit den Händen ihren Unterleib rieb, und als Elisabeth zu reden begann, wagte das Mädchen kaum zu atmen. Die Fürstin jedoch sprach nicht über eine unmittelbar bevorstehende Eheschließung, sie erwähnte nicht einmal das Wort. Stattdessen klärte sie ihre Tochter über die große Veränderung auf, die in ihrem Körper vorgegangen war. Das Mädchen lauschte stumm, jedoch mit einer wachsenden Unruhe im Inneren.

„Und wann werde ich heiraten?“, fragte sie schließlich leise, als die Fürstin zu Ende gesprochen hatte.

Elisabeth blickte ein wenig verwirrt. „Was meinst du damit?“, wollte sie wissen.

„Nun ja.“ Anna zuckte mit den Schultern. „Maria und Elgita haben gesagt. Und sogar Markus.“

„Ach, mein Herz“, erwiderte die Fürstin sanft und streichelte die Hand ihrer Tochter. „Ich wünschte, sie würden nicht immer alle so viel reden. Dies ist ein besonderer Tag und ich bin sehr froh und stolz auf dich. Aber es bedeutet nicht, dass du schon heiraten und Kinder bekommen musst, nur weil dein Körper von nun an in der Lage dazu ist.“

„Aber all die Mädchen aus unserer Familie heiraten doch …“, begann Anna. Nur wenige Wochen zuvor war ihre enge Freundin Bianca mit einem viel älteren Lehnsherrn vermählt worden und auch Elisabeth selbst war bei ihrer Hochzeit mit Richard erst fünfzehn Jahre alt gewesen.

„Dein Vater und ich, wir haben schon oft darüber gesprochen“, erwiderte die Fürstin jedoch. „Wenn du nicht darauf bestehst, dann würden wir gerne noch eine Zeitlang warten.“

Es war wie ein riesengroßer Stein, der bei den Worten ihrer Mutter von Annas Herzen fiel, obwohl sie wusste, dass die Angelegenheit damit ja doch nur aufgeschoben war. Gegen Abend ging sie sogar hinunter in die Große Halle, um etwas zu essen. Als das Küchenmädchen eine Platte mit einer gebratenen Schweineleber vor ihr abstellte, riss Anna vor Überraschung die Augen auf. Leber gehörte zu ihren Lieblingsspeisen, aber sie hatte diese Innerei bislang nur äußerst selten erhalten, weil sie immer irgendeinem der anderen heranwachsenden Mädchen zugestanden war, die sich auf der Burg befanden. Als wenig später allerdings Markus vorüberging und ihr zuzwinkerte, da wusste Anna, wem sie ihr außergewöhnliches Abendessen zu verdanken hatte.

In den folgenden beiden Tagen herrschte auf Bernadette ein geschäftiges Treiben. Die Lehnsmänner Richards reisten einer nach dem anderen mit ihren Familien ab und die Dienstmägde hatten alle Hände voll zu tun, um die Überbleibsel des Frühlingsfestes zu beseitigen. Walter und Elgita verbrachten viele Stunden gemeinsam mit Elisabeth in den Räumlichkeiten der Fürstin, um alles Notwendige für die Zeit der Abwesenheit der Herrin zu besprechen.

Anna dagegen ritt in den Wald, wann immer sie konnte, saß in der Sonne und las oder setzte sich mit ihrer Stickarbeit hinunter an einen der kleinen Tische im Burggarten.

„Es ist ein Traum!“ Elgita, die zufällig an dem vertieften Mädchen vorüber gegangen war, schob vorsichtig den Stoff auseinander und strich mit sachten Händen über die bereits fertigen Verzierungen. „Eure Schwägerin wird Euch auf ewig dankbar sein.“

Anna war nicht einmal vier Jahre alt gewesen, als Elisabeth begonnen hatte, ihre Tochter in die Kunst des Spinnens und Webens einweisen zu lassen. Das lange Sitzen am Spinnrad und die eintönige Arbeit mit Wolle und Spule, mochten dem Mädchen allerdings nicht recht von der Hand gehen, beim Weben zeigte Anna jedoch eine ungewöhnlich große Begabung. Die Stoffe, die sie schon als Kind fertigte, waren ebenso dicht und gleichmäßig wie die der anderen, weitaus erfahreneren Frauen und übertrafen diese im Lauf der Jahre sogar um ein Beträchtliches. Als Anna dann aber wenig später mit dem Besticken der von ihr selbst hergestellten Stoffe begann, konnten die Frauen in den Kammern der Fürstin nur mit offenen Mündern bewundernd zuschauen, wie sich unter den kleinen Händen des Mädchens ein jedes Stück in ein Kunstwerk verwandelte.

„Schickt Eure Tochter in ein Kloster oder ein Stift“, drängten sie Elisabeth immer wieder. „Anna muss von guten Lehrerinnen ausgebildet werden und hier auf der Burg ist niemand, der sie unterrichten könnte. Die Hände des Mädchens sind pures Gold wert und es wäre eine Schande, eine derartige Begabung verkommen zu lassen.“

Doch die Fürstin zog eine solche Möglichkeit nicht einmal in Erwägung. Es käme überhaupt nicht in Frage, so sprach sie zu ihrem Mann, Anna von ihrem Bruder und der vertrauten Umgebung wegzureißen und sie in ein Kloster zu sperren, nur damit sie eine Begabung ausbauen könnte, von der zum jetzigen Zeitpunkt niemand sagen konnte, ob sich Derartiges überhaupt jemals bezahlt machte.

Im Lauf der Jahre stellte sich heraus, dass das Mädchen keine Anleitung benötigte, denn sie entwickelte ganz von alleine die kompliziertesten Muster und die Ideen gingen ihr niemals aus. Anna verbrachte gerne einen Großteil ihrer Zeit mit Weben und Sticken, niemals musste sie dazu angehalten werden, im Gegensatz zu vielen anderen Mädchen, denen diese Tätigkeiten zutiefst verhasst waren, und die um einiges lieber mit den Burschen draußen herumgetollt hätten.

Elisabeth begünstigte Annas ungewöhnlich große Begabung auf diesem Gebiet in jeglicher Hinsicht. Sie ließ immer wieder Wolle, Stoffe und Garn, Perlen und Steine aus den unterschiedlichsten Teilen des Reiches kommen, damit ihre Tochter stets genügend Material für ihre Arbeiten zur Verfügung hatte. Darunter befanden sich sogar ein paar echte Edelsteine und Muschelperlen, doch weil sie sehr teuer waren, überlegte sich Anna immer gut, an welcher Stelle sie sie einsetzte. Ansonsten arbeitete sie viele der bunten und billigen Glasperlen in ihre Stickereien mit ein.

Als Anna älter wurde, war längst auch auf den umliegenden Höfen und unter der großen Verwandtschaft bekannt geworden, welche Fertigkeiten das Mädchen besaß, so dass sie immer wieder auch Aufträge für Webarbeiten oder Stickereien erhielt. Und selbstverständlich wurde sie für ihre Arbeit bezahlt. Weil Elisabeth ihrer Tochter gestattete, das gesamte Geld zu behalten und nicht nur den Anteil, der nach Abzug der Kosten für die Materialien übrig geblieben wäre, hatte sich Anna durch die Großzügigkeit ihrer Mutter im Lauf der Jahre für ihre Begriffe schon ein kleines Vermögen angehäuft und sie gab Markus manches Mal Geld mit und bat ihn, ihr dieses oder jenes aus den Dörfern mitzubringen, was sie gerne haben wollte und worum sie Elisabeth oder Richard aber nicht bitten mochte.

Anna arbeitete viele Stunden fleißig und ohne Pause, besonders im Herbst und im Winter, wenn das Wetter wenig dazu einlud, die gemütlichen Frauenräume der Burg zu verlassen, und so hatte sie bereits einen riesigen Vorrat an Borten und bestickten Stoffen angelegt und fragte sich manches Mal, ob sie denn alle ihre Stücke überhaupt noch anbringen könnte. Und auch in der schönen Jahreszeit saß Anna oft, wenn sie nichts anderes zu tun hatte, draußen im Garten und stickte. Wenn Markus sie zufälligerweise dabei erblickte, dann hatte er immer irgendeinen spöttischen Ausspruch auf Lager.

„Das sagst du doch bloß, weil du überhaupt kein Talent und keine Geduld zu so etwas hast“, hatte Anna einmal geantwortet, ohne von ihrer Arbeit aufzusehen.

„Ach so“, erwiderte ihr Bruder. „Du glaubst also, ich habe kein Talent?“ Er legte seine Waffen ab. „Und keine Geduld? Nun, dann bring es mir bei.“ Er ließ sich neben dem Mädchen nieder.

Sie zeigte ihm ein paar einfache Stiche. Doch unter Markus’ ungeübten Händen verwirrte sich der Faden immerzu und er warf schon nach wenigen Augenblicken alles hin.

„Lass mich doch mit diesem Mädchenkram zufrieden!“, schrie er und griff nach seinem Schwert.

Dann lief er wütend davon und Anna lachte ihm aus vollem Hals hinterher. Wenn sie ihm allerdings etwas schenkte, was sie selbst gemacht hatte, gefiel es Markus jedoch immer, und er hielt all ihre Stücke in großen Ehren.

„Pass doch auf!“

Markus’ Aufschrei kam zu spät. Der Ball, den Anna mit voller Wucht durch den langen Flur des Herrenhauses geschleudert hatte, traf einen der kleinen Sockel, die sich zu beiden Seiten des Ganges befanden und auf denen wertvolle Vasen aus dem Süden des Reiches befestigt waren. Das Gefäß ging mit einem fürchterlichen Klirren zu Bruch und der ohrenbetäubende Lärm rief etliche Personen herbei.

Auf Richards Frage, welches der beiden Kinder dies gewesen wäre, antwortete Markus allerdings ohne zu zögern: „Ich war es, Vater.“ Anschließend ließ er die Schläge seines Erziehers lautlos über sich ergehen, als fühlte er keinen Schmerz. Und nach der Bestrafung kehrte er in die Große Halle zurück, wo seine Schwester weinend auf ihn wartete.

„Vielen Dank“, flüsterte sie.

„Schon gut, Engel“, antwortete Markus und rieb sich den Hintern.

„Er wird noch mal sein Leben für Anna hingeben“, sagte Richard an diesem Abend zu seiner Frau und fragte sich, ob er wütend auf seinen Sohn sein sollte oder nicht. Der ganze Hof wusste, dass Markus sich immer wieder für seine Schwester bestrafen ließ.

„Es ist schon beinahe beunruhigend, wie sehr er an ihr hängt, findest du nicht?“, antwortete Elisabeth.

„Hältst du ihr enges Verhältnis in irgendeiner Hinsicht für bedenklich?“ Der Fürst sah seine Frau verwundert an. Bislang hatte sich Elisabeth noch nicht einmal dazu geäußert, dass die Geschwister schon seit vielen Jahren gemeinsam in einem Bett schliefen.

Die Fürstin blickte zu Boden. „Im Grunde nicht“, sagte sie dann. „Aber ich hoffe, dass Anna begriffen hat, wie überaus besonders und ganz und gar nicht alltäglich das ist, was Markus für sie empfindet und was er bereit ist, für sie zu tun. Ich hoffe, dass sie seine Zuneigung niemals ausnutzen wird. Ich hoffe, dass sie immer treu zu ihm steht und ihn niemals hintergeht. Denn das würde Markus das Herz brechen, dessen bin ich sicher.“

Anna fuhr zusammen, als ein Schatten auf sie fiel.

„Ich wollte Euch nicht erschrecken“, sagte Walter. Er klang unfreundlich, so wie immer.

„Was gibt es?“, fragte das Mädchen ebenso feindselig zurück und arbeitete weiter an ihrer Stickerei.

Vor wenigen Stunden war Elisabeth ohne jegliches Aufsehen abgereist. Lediglich ihre Tochter hatte im Burghof gestanden und dem Wagen der Fürstin nachgeblickt.

„Eure Mutter hat mir die Verantwortung für Hof und Land übertragen, solange sie nicht hier sein wird.“ Richards Ziehbruder sah auf das Mädchen hinab.

„Ihr erzählt mir nichts Neues“, blaffte Anna ihn an.

Walters Augen verengten sich. „Welche Aufgaben gedenkt Ihr, in Elisabeths Abwesenheit zu übernehmen?“

Anna blickte voller Erstaunen auf. „Mir gegenüber hat meine Mutter nichts Dergleichen erwähnt“, erwiderte sie.

„Das dachte ich mir“, murmelte der Mann vor sich hin.

Walters Nähe wurde unangenehm und Anna packte rasch ihre Sachen zusammen. Doch als sie sich erhob und wortlos davongehen wollte, fasste Richards Ziehbruder nach ihrem Arm. „Kann ich aus Eurem Verhalten schließen, dass Ihr nicht bereit seid, mich zu unterstützen?“

Anna schwieg. Aber sie bedachte seine Hand, die ihren Oberarm mit festem Griff umklammert hielt, mit einem zornigen Blick, so dass er sie schließlich freigab.

„Steht mir wenigstens nicht im Weg!“, sagte er böse.

„Das werde ich ganz gewiss nicht“, erwiderte das Mädchen und ging davon.

Walter verharrte kopfschüttelnd auf der Stelle.

„Grämt Euch nicht.“ Elgita trat an seine Seite.

Vermutlich hatte die Erzieherin einen Großteil des Gespräches mitangehört. Und wenig später gesellte sich auch noch Maria zu den beiden.

„Es bleibt mir einfach unbegreiflich.“, sagte Richards Ziehbruder.

„Schuld ist vermutlich die Jugend des Mädchens“, versuchte Elgita ihn zu beruhigen. „Es wird sicher besser werden, wenn Anna älter ist.“

„Mag sein“, gab der Mann zu. „Es ist mir dennoch ein Rätsel, weswegen Elisabeth ihre Tochter hält wie ein verzogenes Kleinkind.“

„Nun ja“, wehrte die Erzieherin ab.

„Ich denke, Ihr habt nicht ganz Unrecht“, mischte sich endlich auch Maria in das Gespräch ein. „Als Markus in Annas Alter war, wäre er längst in der Lage gewesen, Bernadette nahezu alleine zu führen.“

„Das ist Richard zuzuschreiben“, warf Elgita ein. „Er ist es gewesen, der darauf bestanden hatte, seinen Sohn zu all den anfallenden Verpflichtungen mit sich zu nehmen. Elisabeth dagegen …“

„Das hat sie nun davon, wenn Ihr mich fragt.“ Maria sprach geradeheraus, so wie immer.

Walter nickte zustimmend. „Das vergangene Jahr wäre sicher um einiges angenehmer für Elisabeth verlaufen, wenn ihre Tochter in der Lage gewesen wäre, sie zu unterstützen und damit zu entlasten. Aber so …“

Maria zuckte mit den Schultern. „Ja“, sagte sie dann. „Es ist auch mir unbegreiflich, weshalb die Fürstin Anna noch nicht umfassend in einen der Bereiche eingewiesen hat.“

Elgita schüttelte den Kopf. „Für Anna ist es sicher ein Segen, noch Kind sein zu dürfen. Das harte Leben mit all seinen Verpflichtungen wird früh genug auf sie zukommen“, verteidigte sie ihre ehemalige Schülerin.

„Und was hat es Elisabeth nun geholfen?“ Beinahe hatte Walter die Erzieherin angeschrieen. „Sie ist zu Tode erschöpft und ihre Tochter weiß nichts Besseres zu tun, als jeden Tag auszureiten und über ihren Stickereien zu sitzen.“

„Ja“, stimmte Maria noch einmal zu. „Ich sehe das recht ähnlich.“

Elgita schien nicht überzeugt, doch als Walter schließlich sagte: „Lassen wir das. Dieses Gespräch führt zu nichts!“, zerstreuten sich die beiden Frauen und der Mann. Walter ging wütend davon, Elgita unbefriedigt und Maria nachdenklich.

Schon oft hatte sie sich Gedanken darüber gemacht, weshalb die Fürstin ihre Tochter noch weitgehend von den Verpflichtungen einer Burgherrin fern hielt. Anna war kein dummes Mädchen, sie hätte alles, was sie wissen musste, schnell und umfassend begriffen und wäre wohl schon nach kürzester Zeit in der Lage gewesen, Elisabeth einen Teil der Arbeit abzunehmen. Noch dazu hätte die übertragene Verantwortung das Mädchen reifen lassen und Anna hätte wohl bald von sich aus den Wunsch nach einer Eheschließung geäußert, was sowieso die beste Lösung für alle gewesen wäre. Das fand jedenfalls Maria. Ihrer Ansicht nach sollte man junge Mädchen nicht so lange auf die Ehe warten lassen, denn das machte sie unruhig, schürte unnötige Ängste oder ließ sie auf dumme Gedanken kommen. Wegen Richards riesigem Besitz standen die Anwärter um die Hand der Tochter sowieso bereits seit etlichen Jahren Schlange und es wäre ein Leichtes für den Fürsten und seine Frau gewesen, einen passenden Gatten für das Mädchen auszuwählen. Hätten sie dazu noch eine sorgfältige Wahl getroffen, nämlich einen etwas älteren Bewerber bevorzugt, einen der bereits Erfahrungen in der Führung eines Hofes vorweisen konnte, so hätte Elisabeth stets während der Abwesenheit des Fürsten außer Walter einen weiteren Mann an ihrer Seite gehabt. Schließlich war Bernadette groß genug, um neben Markus und Judith auch noch Anna und deren Gatten auf Dauer zu beherbergen, wusste Maria doch, dass das Mädchen ihre heimatliche Burg in keinem Fall verlassen wollte, schon gar nicht, um in der Fremde mit irgendeinem Mann verheiratet zu werden, den sie überhaupt nicht kannte. Auf diese Art und Weise wäre also jedem geholfen gewesen und es blieb Maria in der Tat ein Rätsel, weshalb Elisabeth eine solche Möglichkeit nicht einmal in Betracht zog.

Anna kämpfte mit einem ihrer Kleider. Das Oberteil war einfach viel zu eng geschnitten und ohne Marias Hilfe war das Mädchen kaum in der Lage, sich selbst anzuziehen. Nur kurz zuvor war sie von einem Ritt aus dem Wald zurückgekehrt und hatte sich auf ihrem Zimmer ein wenig frisch gemacht. Gerade, als es ihr endlich gelungen war, ihren Kopf durch die Öffnung zu zwängen, vernahm sie aufgeregtes Geschrei der Söldner und Dienstkräfte. Es erklang von allen Seiten und weil Anna sicher war, dass etwas Furchtbares geschehen sein musste, sie aber von ihrem kleinen Fenster aus nichts entdecken konnte, stürzte das Mädchen, obwohl sie kaum ordentlich angezogen war, aus dem Raum und die Treppen hinab. Anna erreichte den Burghof im selben Augenblick, als zwei Soldaten einen dritten Mann den Weg vom Haupttor heraufführten.

„Um Gottes Willen!“, schrie das Mädchen auf. „Markus! Das ist ja Markus.“

Die Söldner schleiften ihn mehr, als dass er selbst ging. Walter kam von den Stallungen auf sie zu und Johann eilte aus dem Inneren des Herrenhauses. Zudem lief ein großer Haufen von Dienstkräften zusammen.

Als Anna in ihrem Schrecken weiter auf die beiden Soldaten und ihren Bruder zustürzen wollte, riss Richards Ziehbruder das Mädchen mit einer heftigen Bewegung zurück. „Nein, bleibt stehen!“, fuhr er sie an. „Seht Ihr nicht, dass er verletzt ist?“

Anna bettelte und schlug vor Verzweiflung um sich, aber der Mann ließ sie nicht gehen. Stattdessen trat der Arzt zu den Söldnern und wies sie an, Markus ins Innere des Herrenhauses zu bringen. Als sie ihn an ihr vorüber führten, erkannte das Mädchen, dass ihr Bruder die Augen geschlossen hielt. Vielleicht war er nicht einmal mehr bei Bewusstsein. Sein Gesicht war zerschlagen, sein Gewand blutbefleckt und zerrissen, seine Stiefel schlammverschmiert. Die Soldaten brachten Markus die Stufen in den oberen Stock hinauf und Walter folgte ihnen mit Abstand, während er Anna immer noch nah bei sich hielt, wofür sie ihn auf das Entsetzlichste verfluchte.

Als das Mädchen ebenso wie die Söldner das Zimmer ihres Bruders betreten wollte, verstellte ihr Johann jedoch den Weg. „Später!“, sagte er lediglich barsch.

„Bitte!“, flehte Anna. „Lasst mich zu ihm!“

„Nein, Ihr werdet hier draußen warten!“, wies der Arzt sie an. „Ich muss Euren Bruder jetzt erst einmal untersuchen.“ Und dann schickte Johann auch die beiden Soldaten wieder aus dem Raum hinaus.

Anna stand auf dem Gang vor Markus’ Zimmer und die Untersuchung des Arztes schien ihr eine halbe Ewigkeit zu dauern. Walter stand zwar immer noch in ihrer Nähe, doch sie konnte den Ziehbruder ihres Vaters nicht ansehen und erst recht nicht mit ihm sprechen.

„Oh Gott!“, stieß das Mädchen mit weit aufgerissenen Augen hervor, als plötzlich ein heftiger Aufschrei aus dem Raum erscholl. „Was tut er denn mit ihm?“

Wenig später kam Elgita, um nach dem Rechten zu sehen. „Anna“, sagte sie beinahe vorwurfsvoll, „Ihr seid ja nicht einmal richtig angezogen.“

Die Erzieherin schob das Mädchen in einen der leeren Räume hinein und richtete ihr stumm das Gewand. Anna ließ sie kopfschüttelnd gewähren, während sie sich fragte, wie Elgita in dieser Situation überhaupt noch daran denken konnte, ob irgendjemand richtig angezogen wäre oder nicht.

Endlich erschien Johann in der Tür zu Markus’ Zimmer. „Ihr könnt jetzt zu Eurem Bruder“, sprach er zu dem Mädchen. „Aber keine Fragen! Das hat Zeit bis später! Und nehmt Euch zusammen!“

Anna versprach es ungeduldig und betrat anschließend den Raum. Walter folgte ihr, doch blieb er einen Augenblick neben dem Arzt stehen.

„Abschürfungen und Blutergüsse am ganzen Körper, besonders heftig allerdings im Gesicht“, erstattete Johann dem anderen Mann Bericht. „Etwa die Hälfte seiner Rippen sind gebrochen. Die Arme waren beidseitig aus den Schultergelenken gezerrt worden. Irgendwie muss es ihm gelungen sein, einen davon selbst einzurenken. Den anderen habe ich gerade wieder in Position gebracht. Im Großen und Ganzen nichts Tragisches.“

Walter nickte verstehend und schritt dann ebenfalls in das Zimmer hinein.

Markus lag auf dem Bett. Sein Gesicht war gerötet und angeschwollen, eine seiner Lippen aufgeplatzt. Dennoch versuchte er zu lächeln, als er seine Schwester sah. „Engelchen.“

Anna aber musste sich beim Anblick seiner Verletzungen beherrschen, um nicht laut aufzuschreien. Rechtzeitig erinnerte sie sich jedoch an ihr Versprechen, das sie Johann gegeben hatte, kniete neben dem Bett nieder und ergriff Markus’ Hand.

„Nicht“, sagte er und wischte seiner Schwester die Tränen fort. „Es ist alles halb so schlimm.“

Anna aber sah, dass ihm das Sprechen und das Atmen Schmerzen bereiteten. Doch sie wusste auch, dass es Markus noch so elend gehen konnte, stets würde er versuchen, von seiner Schwester alles Leid fern zu halten.

Johann gab den Geschwistern nur wenige Augenblicke, dann schob er Anna vom Bett weg. „Es ist genug“, meinte er. „Euer Bruder wird jetzt etwas essen und sich dann ordentlich ausschlafen. Später oder morgen könnt Ihr mit ihm über alles sprechen. Und Ihr auch.“ Das letzte galt Walter, der sich bis dahin lediglich stumm im Hintergrund gehalten hatte.

Markus schien irgendetwas auf die Worte des Arztes erwidern zu wollen, doch dann sank er kraftlos zurück. Wenig später betrat der alte Diener, der ihm zugeteilt war, den Raum und wies alle übrigen Personen ohne Erbarmen aus dem Zimmer. Mit sanftem Druck sorgte er dafür, dass der Sohn des Fürsten ein paar Kleinigkeiten zu sich nahm und anschließend einschlief. Anna hätte alles darum gegeben, am Bett ihres Bruders sitzen zu dürfen, um wenigstens seine Hand zu halten, doch dieser Wunsch wurde ihr mehrfach verweigert.

„Der Herr braucht Ruhe“, sagte der Diener immer wieder. „Aber ich lasse augenblicklich nach Euch schicken, sobald er erwacht.“

Anna wagte nicht, sich aus dem Inneren des Herrenhauses oder gar aus den Burgmauern hinaus zu bewegen, weil sie fürchtete, den Zeitpunkt zu verpassen, in dem Markus nach ihr verlangte. Doch die Stunden verstrichen, es wurde Nachmittag und schließlich Abend. Ihr Bruder schlief immer noch oder war zumindest so erschöpft, dass er weder seine Schwester noch sonst irgendjemanden zu sehen wünschte.

„Wie geht es deiner Verletzung?“

Anna sah auf. Anselm stand über ihr. Das Mädchen hatte sich mit einem Buch ganz hinten in den Burggarten zurückgezogen. Hier, unter den alten Ahornbäumen, war einer ihrer Lieblingsplätze. Für einen Augenblick berührte sie ihre Stirn an jener Stelle, an der sie damals der Schlitten getroffen hatte. Die Haut war noch rot verfärbt, doch schon bald würde die Wunde vollkommen verheilt und kaum mehr zu sehen sein.

„Warum warst du so lange nicht da?“, fragte Anna anschließend und schlug ihr Buch zu. Es war bereits Spätherbst und seit jenem Unfall im vergangenen Winter waren viele Monate vergangen.

„Ich konnte leider nicht kommen“, erwiderte Anselm und in seiner Stimme klang Enttäuschung mit. „Meine Mutter hat nach dem Winter noch ein Kind zur Welt gebracht, einen Knaben. Ich musste ihr sehr viel helfen, auf den Feldern und mit den Kleinen.“

In all der Zeit, in der der Junge nicht auf Bernadette erschienen war, hatte Anna niemals gewagt, sich bei Elias nach dem Verbleib seines Sohnes zu erkundigen, weil sie wusste, dass er ihm nach jenem Unfall den Umgang mit der Tochter des Herrn verboten hatte.

„Aber jetzt nimmt mich mein Vater wieder öfter mit auf die Burg“, fuhr Anselm fort.

Wie schön!, dachte Anna und sah ihn wortlos an. Anselm ließ sich vor ihr nieder und eine kurze Weile blickten sie einander stumm in die Augen.

„Hat dein Vater dich damals schlimm geschlagen?“, fragte das Mädchen irgendwann leise.

„Ja, sehr schlimm“, antwortete Anselm. „Aber er tat es nicht, weil er wirklich wütend auf mich war, sondern weil er Angst vor seinem Herrn hatte. Das machte es irgendwie ... erträglicher für mich. Und hinterher saß er neben mir auf dem Boden und weinte.“

„Es tut mir so furchtbar leid, dass du meinetwegen …“, begann Anna.

Sie brach allerdings ab, als Anselm eine Hand ausstreckte und die Stelle auf ihrer Stirn berührte. Doch er zog seine Finger so rasch zurück, als habe er sich verbrannt. Und dann erhob er sich und lief sehr schnell davon.

Seit diesem Zeitpunkt begann Anna jeden Morgen darauf zu warten, dass Anselm im Burghof erschien. Dazu stand sie bereits in aller Frühe auf und stellte sich ans Fenster ihres Zimmers, von wo aus sie unmittelbar auf den Hof hinab blicken konnte. Den ganzen Winter über wartete sie jeden Morgen reglos und geduldig, lediglich mit dem ärmellosen Nachtgewand am Körper und mit offenem Haar und nur Anselm wusste, dass sie es für ihn tat. Wenn er schließlich gemeinsam mit seinem Vater durch das innere Burgtor hereingekommen war, dann ließ er Elias zuerst in die Schmiede gehen, während er selbst für einen kurzen Augenblick unten im Hof stehen blieb und zu dem Mädchen am Fenster hinaufsah. Niemals hob der Junge eine Hand oder nickte ihr zu, aber Anna wusste, dass er nur sie wahrnahm, bis er sich nach einer Ewigkeit schließlich umwandte und ebenfalls die Werkstätte seines Vaters betrat.

Und ab dem Frühling wurde die Wiese unter den großen Ahornbäumen zum heimlichen Treffpunkt der beiden. Die Stelle konnte nur über einen kleinen, ausgetretenen Pfad erreicht werden und lag so weit abseits der eigentlichen Wege, dass sie vollkommen unbeobachtet war. Anna verbrachte ohnehin auch alleine sehr viel Zeit an jenem Ort. Sie lag im weichen Gras, las oder stickte und Anselm kam, wenn die Arbeit in der Schmiede getan war und er sich unbemerkt davon stehlen konnte. Allerdings blieb er niemals lange, weil er fürchtete, dass sein Vater bald nach ihm suchen würde. Er legte sich neben das Mädchen und manchmal griff er sogar nach ihrer Hand und Anna ließ ihn gewähren.

Oftmals musterte sie Anselm verstohlen von der Seite her, weil er sich in den verstrichenen Monaten ganz und gar verändert hatte. Sein Haar reichte ihm mittlerweile bis über die Schultern und Anselm trug es meistens mit einem Lederriemen im Nacken zusammengebunden. Auf seinen Wangen stand der dunkle Schatten des Bartes und er hatte wohl auch bereits aufgehört zu wachsen. Dafür waren seine Arme sehr kräftig geworden und Anna konnte seine Handgelenke bei weitem nicht mehr umspannen. Manchmal, wenn sie sich Anselm und sich selbst von oben vorstellte, wie sie gemeinsam nebeneinander auf der Wiese unter den Ahornbäumen lagen, dann sah sie ein kleines Mädchen an der Seite eines erwachsenen Mannes liegen.

„Für dich“, sagte Anselm eines Nachmittags und hielt einen kleinen Gegenstand aus Metall hoch.

Anna nahm ihn staunend entgegen. Es war ein sorgfältig gearbeitetes Ahornblatt.

„Hast du das selbst gemacht?“, erkundigte sie sich verwirrt.

„Ja.“ Der Junge senkte die Augen. „Weil wir uns doch immer hier bei diesen Bäumen treffen. Und ich wusste nicht, was ich dir sonst …“ Anselms Wangen röteten sich und er wand sich zur Seite. „Ich habe meinen Vater um ein paar Metallreste gebeten. Es ist nichts Besonders, kein Silber oder dergleichen.“

Zu beiden Seiten des Blattes hatte er ein winziges Loch gebohrt und ein schmales Lederband durchgezogen.

„Ich weiß nicht, ob du es überhaupt tragen möchtest“, meinte er dann schüchtern. „Aber ich habe die Bänder so lang gelassen, dass der Anhänger unter deinem Gewand verschwindet und ihn keiner sieht.“

„Natürlich will ich es tragen.“ Anna wandte ihm den Rücken zu. „Bitte, hilf mir.“

Sie schob ihr Haar nach oben, damit Anselm das Leder in ihrem Nacken zusammenbinden konnte. Seine Hände ruhten für einen Moment auf den Schultern des Mädchens und Anna hielt still und genoss seine Berührung, ehe sie die Kette unter ihr Gewand gleiten ließ.

Als sie sich schließlich zu ihm umwandte, waren ihre Gesichter einander näher als jemals zuvor. Anselm roch nach den Kühen und Schafen, die er am Morgen gemolken hatte, nach dem Brot und der Milch, die sein Mittagessen gewesen waren und nach dem Rauch des Feuers in der Schmiede seines Vaters. Und dann trat das Mädchen noch einen winzigen Schritt auf ihn zu und tat endlich das, was sie schon lange hatte tun wollen: sie küsste Anselm. Sie küsste ihn immer wieder, seinen Mund, seine Wangen, seine Stirn, seine Augen, so lange, bis er sie lachend festhielt und ein Stück von sich weg schob.

„Du isst mich noch auf“, meinte er. Aber er hielt ihr Gesicht in seinen Händen und streichelte sie sanft. „Bis morgen!“ Dann war er verschwunden.

Annas Wangen glühten, als sie wenig später das Innere des Herrenhauses betrat. Über das, was geschehen war, sprach sie nicht einmal mit Markus, weder an diesem Tag, noch an einem anderen, weil sie sicher war, dass er vor Eifersucht toben würde.

Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als Markus endlich einen Diener zu seiner Schwester sandte und das Mädchen zu sich bat. Kaum dass Anna aber die Tür aufgeschoben hatte, fiel ihr erster Blick auf Walter und sie verwünschte ihn, weil er nicht einmal so viel Anstand besaß, um zu begreifen, dass Markus und sie erst einmal alleine sein wollten. Markus lag nicht mehr auf dem Bett, sondern stand vor seinem Tisch unter dem Fenster und blickte seiner Schwester lächelnd entgegen. Die Schwellungen in seinem Gesicht waren deutlich abgeklungen. Vermutlich hatte Johann in der vergangenen Nacht immer wieder kalte Auflagen gemacht. Doch ein Großteil der Haut war blau oder rot unterlaufen.

„Du siehst zum Fürchten aus!“, sagte das Mädchen, nachdem sie ihn eine ganze Weile gemustert hatte.

Markus grinste sein altes Grinsen und Anna tat es gut, dies zu sehen. Dann trat sie näher an ihn heran und ergriff seine Hände. Und ihr Bruder schloss sie endlich in seine Arme.

„Was ist dir geschehen?“, fragte das Mädchen mit Nachdruck und löste sich ein wenig von ihm. „Und wo ist Richard?“

Markus atmete hörbar, dann gab er Anna frei. „Nun.“ Er nickte. „Ich habe dir und Euch …“ Er blickte zu Walter hinüber. „… etwas Furchtbares zu erzählen.“ Er starrte wieder auf den Boden, dann lehnte er sich gegen die Tischplatte in seinem Rücken und schien zu überlegen. „Es muss wohl bereits vor vier oder fünf Tagen gewesen sein. Richard und ich befanden uns schon in einem Wald an der Grenze unseres Grundes, als wir einen Menschen wie in Todesangst schreien hörten. Selbstredend folgten wir dem Ruf, verließen den Weg und trieben die Pferde in den Wald. Mit einem Mal aber kamen von allen Seiten berittene Krieger auf uns zu, ich vermag nicht zu sagen, wie viele. Sie waren bis an die Zähne bewaffnet und eine Gegenwehr hätte uns mit Sicherheit das Leben gekostet. Also ließen wir uns widerstandslos von ihnen gefangen nehmen. Keiner sprach ein Wort mit uns und nach wenigen Augenblicken trennten sie Richard von mir und er blieb mit einer Gruppe hinter uns zurück. Ich habe ihn nicht wieder gesehen. Es tut mir leid. Ich weiß nicht, wohin sie ihn brachten und auch nicht, was aus ihm geworden ist. Mich selbst nahm der andere Teil der Männer mit sich zu einer Burg.“

„Eine Burg?“, unterbrach ihn Walter. „Was für eine Burg? Irgendeines der Nachbarsanwesen?“

„Nein.“ Markus schüttelte den Kopf. „Sie liegt tief im Wald, eher eine Ruine als eine intakte Burganlage.“

„Ein kleiner Hof?“, wollte Richards Ziehbruder weiter wissen.

„Ein Hühnerstall im Vergleich zu Bernadette“, bestätigte der Sohn des Fürsten.

„Im Südwesten von hier aus gesehen?“

„Ja.“ Markus blickte voller Erstaunen auf. „Ihr kennt diesen Ort?“

Walter nickte. „Ich habe von dieser Ruine gehört, bin aber niemals selbst dort gewesen.“

„Gehört die Anlage zu Richards Lehen?“, fragte Annas Bruder.

„Nein. Sie liegt außerhalb der Ländereiengrenze.“

„Wem gehört sie dann? Was wisst Ihr darüber?“

„Nicht viel“, antwortete der Mann schulterzuckend. „Ich kenne lediglich die Gerüchte, die sich um jenen Ort ranken. Ein alter Lehnsherr hatte sich diese Anlage vor vielen Jahren errichten lassen, vermutlich liebte er die Ruhe und die Jagd. Doch nachdem er starb, blieb die Burg leer und verfiel nach und nach. Kaum einer dürfte wohl Gefallen an solch einem Hof tief im Wald und abgeschieden von allem finden.“

„Nun ja“, gab Markus zu. „Jetzt ist diese Ruine jedenfalls wieder bewohnt. Von einem Haufen Landloser, Vogelfreier oder dergleichen. Und die Abgeschiedenheit jenes Ortes kommt ihnen wohl gerade recht.“

„Diese Männer brachten Euch also dorthin“, griff Walter die unterbrochene Schilderung der vergangenen Tage wieder auf.

„Ja.“ Der Sohn des Fürsten nickte. „Diese Männer brachten mich dorthin und sperrten mich in ein Verlies im Keller. Wenig später kehrten sie mit ihrem Herrn wieder. Und …“

Er stockte. Anna sah ihn an. Markus gab sich große Mühe, die vergangenen Tage wie ein gewöhnliches Ereignis zu schildern, doch es war nicht zu übersehen, dass er Furchtbares durchlebt hatte, über das er in Wahrheit gar nicht sprechen mochte.

„Was geschah dann?“, versuchte ihm Richards Ziehbruder zu helfen.

„Diese Männer stellten mir einen Haufen vollkommen unzusammenhängender Fragen“, fuhr Markus schließlich fort. „Hauptsächlich über meine gemeinsame Reise mit Richard, aber sie wollten darüber hinaus auch etliches andere über Bernadette wissen, sogar über Elisabeth und Euch.“ Er schwieg für einen Moment. „Als ich ihnen allerdings nicht die geforderten Antworten gab, fingen sie an …, nun ja …“, Markus warf einen abschätzenden Blick auf seine Schwester, „sie fingen an, mich zu schlagen, um …“

Anna konnte die Augen nicht von ihrem Bruder abwenden. Markus’ Worte hatten ihre letzte Hoffnung zerstört, an die sie sich bislang noch mühsam geklammert hatte: Dass seine Verletzungen daher stammen könnten, weil er sich lediglich wieder einmal geprügelt hatte.

„Das Ganze ging auf diese Art und Weise eine gute Weile dahin, bis sie wohl schließlich die Lust oder Geduld mit mir verloren“, sprach er weiter. „Ich vermag nicht mit Sicherheit zu sagen, wie viel Zeit ich in diesem Verlies zubrachte. Zu essen bekam ich nichts, lediglich ein wenig Wasser, gerade genug, dass ich am Leben blieb.“

Anna schüttelte vor Entsetzen den Kopf.

„Und auf welche Weise ist es Euch gelungen zu entkommen?“, fragte Walter.

Markus zuckte mit den Schultern. „Weil die Männer das Verhör abgebrochen hatten, hatte ich ein wenig Zeit, um mich zu erholen. Schließlich gelang es mir, einen meiner Arme wieder einzurenken, den sie mir zuvor aus dem Gelenk gezerrt hatten. Und wie Ihr es bereits sagtet: das Gebäude ist uralt und seit Jahrzehnten nicht in Stand gesetzt worden. Die Luke des Verlieses war brüchig und es war keine große Kunst, sie auszuhebeln. Allerdings verursachte ich dabei einen Höllenlärm. Doch keiner der Männer stürzte ins Verlies, vermutlich gingen sie davon aus, dass ich mich aufgrund meiner Verletzungen kaum zu rühren vermochte und hatten sich daher zurückgezogen. Anders weiß ich es mir nicht zu erklären, dass ich unbehelligt blieb. Ich konnte also entkommen und lief erst einmal ziellos in den Wald hinein, so weit wie möglich fort von dieser gottverdammten Ruine. Ich war vollkommen erschöpft und ausgezehrt von den vergangenen Tagen, vom stundenlangen Hängen an der Wand, von den Quälereien und vom Hunger. Aber irgendwie ist es mir dennoch gelungen, nach Bernadette zu kommen. Ich richtete mich nach den Sternen und der Sonne, lief nahezu ohne Pause und brach dann vor den Toren zusammen.“ Markus blickte Anna an und lächelte schwach. „Hier bin ich also.“

Das Mädchen trat erneut auf ihn zu. „Gott sei es gedankt, dass du zurückgekehrt bist“, erwiderte sie leise und drückte seine Finger.

„Markus …“, sprach Walter dazwischen.

Doch er verstummte, als der Sohn des Fürsten seine Augen auf ihn richtete. Nach einer Weile strich Markus sacht über das Haar seiner Schwester.

„Herzchen“, sagte er liebevoll, „es gibt noch ein paar Dinge, die Walter und ich alleine besprechen müssen. Bitte!“ Er wies zur Tür.

„Natürlich.“ Zu Tode enttäuscht wandte sich Anna von ihm ab. Selbstverständlich hatte sie gewusst, dass die Männer irgendwann alles Weitere unter vier Augen besprechen wollten. Doch weshalb konnte die Unterredung mit Richards Ziehbruder nicht noch einige Stunden auf sich warten lassen?

Nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, drehte sich Markus zu Walter und blickte ihn lange an. Und auch der Mann stand still und reglos. Schließlich ließ sich der Sohn des Fürsten auf einen Stuhl sinken und vergrub das Gesicht in den Händen.

„So eine verdammte Scheiße“, murmelte er kopfschüttelnd vor sich hin.

Walter trat einen Schritt auf ihn zu. „Was wollten diese Männer von Euch?“, fragte er. „Es war doch wohl kein Zufall, dass sie dort im Wald auf Euch und Richard gewartet hatten.“

Markus hob die Schultern. „Seit Tagen zerbreche ich mir den Kopf darüber“, erwiderte er. „Bislang habe ich allerdings noch keine befriedigende Antwort gefunden.“

„War Euch irgendeiner dieser Männer bekannt?“, wollte Richards Ziehbruder wissen.

Der Sohn des Fürsten verneinte. „Ich habe keinen von ihnen jemals zuvor gesehen.“

„Und ihr Herr und Anführer?“, fragte Walter.

„Auch ihn nicht“, bestätigte Markus noch einmal.

„Wie sah er aus?“

„Wie er aussah?“ Markus hob noch einmal die Schultern. „Er war groß. Ein dichter Bart verdeckte einen guten Teil seines Gesichtes. An die Farbe seines Haares kann ich mich nicht entsinnen, möglicherweise trug er irgendeine Kopfbedeckung. Zudem war es nahezu stockdunkel im Verlies und als die Männer erst einmal begonnen hatten, mich zu schlagen, da hatte ich wahrhaft anderes zu tun als ihre Gesichter zu studieren.“

„Ich meinte auch weniger sein Gesicht“, sagte Walter, „als vielmehr die Art und Weise, wie er sich gab oder kleidete. Ist Euch da irgendetwas aufgefallen? Irgendetwas, woraus wir nützliche Rückschlüsse über diese Gruppe von Männern ziehen könnten?“

Markus schwieg und schien nachzudenken.

„Könnt Ihr wenigstens eine Aussage zu seinem Alter machen?“, versuchte Richards Ziehbruder ihm zu helfen. „Oder zu seinem Stand? War er ein Bauer, ein Leibeigener, ein Adelssohn?“

„Nun.“ Der Sohn des Fürsten sah ihn wieder an. „Am ehestens wohl ein Adelssohn“, sprach er schließlich, „auch wenn seine Kleider schmucklos waren. Aber seine Männer begegneten ihm mit offensichtlicher Ehrerbietung. Und was sein Alter betrifft, mag es wohl sein, dass der Bart, den er trug, ihn älter erscheinen ließ, als er in Wahrheit war, dennoch bin ich sicher, dass er einige Jahre mehr als ich selbst zählte.“

„Gut.“ Walter schien zufrieden. „Auch wenn Euch dieser Mann unbekannt war, haltet Ihr es dennoch für möglich, dass er eine offene Rechnung mit Euch oder Richard zu begleichen hatte? Oder dass jene Truppe vielleicht im Auftrag eines unzufriedenen Vasalls Eures Vaters handelte?“

„Nun, Ihr wisst selbst, dass weder mein Vater noch ich mit irgendjemandem im Streit lagen“, antwortete Markus. „Im Gegenteil, Richard hat sich immer darum bemüht, zu all seinen Lehnsleuten, den Nachbarn, den anderen Adelshäusern ein gutes Verhältnis zu haben. Ich wüsste keinen, der an ihm oder mir aus irgendeinem Grunde Vergeltung üben wollte.“

„Und eine Entführung mit anschließender Lösegelderpressung?“, schlug Richards Ziehbruder daraufhin vor.

„Bei der die Entführten zuvor halb tot geschlagen werden? Nein.“ Markus schüttelte abwehrend den Kopf. „Das halte ich für noch weitaus unwahrscheinlicher. All die Fragen, die mir gestellt wurden, blieben für mich zwar ohne erkennbaren Zusammenhang, sie zeigten aber deutlich, dass jene Männer bereits einiges über mich und Richard, über Bernadette und all seine Bewohner wussten.“ Er schwieg einen kurzen Augenblick. „Daher gelange ich mehr und mehr zu der Ansicht, dass es diese Männer auf Bernadette abgesehen haben. Richard und ich sollten ihnen lediglich die notwendigen Auskünfte für eine möglichst reibungslose Einnahme der Burg liefern. Lasst also sämtliche Tore schließen und verstärkt die Soldaten und die Bogenschützen auf den Wehrgängen.“

Walter lachte. „Haltet Ihr mich für dumm? Das habe ich bereits gestern, unmittelbar nach Eurer Rückkehr, angeordnet.“

„Man kann sich wirklich auf Euch verlassen“, anerkannte Markus. Er stützte den Kopf wieder in seine Hände.

„Diese Männer sind nicht besonders zimperlich mit Euch umgegangen, nicht wahr?“, Richards Ziehbruder trat auf den Sohn des Fürsten zu und schob dessen Ärmel nach oben, so dass die aufgeriebene Haut der Handgelenke sichtbar wurde.

„Lasst das!“, fuhr ihn Markus wütend an und riss den Stoff wieder nach unten. „Glaubt Ihr nicht, dass es schon schlimm genug ist, dass sie dies überhaupt getan haben? Gott sei Dank wird alles verheilen und ich werde keine bleibenden Narben davontragen.“

„Aus welchem Grund wurde das Verhör abgebrochen?“, wollte Walter wissen.

Der Sohn seines Ziehbruders zuckte mit den Schultern. „Muss ich mir diese Frage stellen?“, giftete er. „Ich bin froh, dass sie es taten.“

Doch der Mann sah ihn lediglich ruhig an. „Ja“, erwiderte er. „Wenn wir etwas über die Beweggründe dieser Gesellen herausfinden möchten, müssen wir uns auch solche Fragen stellen. Warum also brachen sie ab?“

„Ich habe keine Ahnung“, sagte Markus. „Irgendwann hörten sie einfach mittendrin auf. Ohne jede Erklärung. Und sie kamen auch nicht wieder, um die Befragungen fortzusetzen.“

Richards Ziehbruder schwieg.

Markus Augen verfinsterten sich mit einem Mal. Er erhob sich. „Ich verstehe“, sprach er hart. „Ihr glaubt, dass diese Männer ihre Befragungen nicht fortsetzen mussten, weil ich geredet habe.“

Walter schien irgendetwas erwidern zu wollen, doch der Sohn seines Ziehbruders ließ ihn nicht zu Wort kommen.

„Wie könnt Ihr mir so etwas unterstellten?“, fragte er mit Bitterkeit. „Vermutlich seid Ihr auch noch der Ansicht, dass jene Männer mich kaum angerührt hätten. Habt Ihr überhaupt eine Vorstellung davon, was ich in den vergangenen Tagen über mich ergehen lassen musste? Ich hing dort an der Wand und war der Gnade oder der Grausamkeit dieser Männer ausgeliefert. Sie stellten mir über Stunden immer wieder die gleichen Fragen und ich wusste nicht, was sie als nächstes zu tun gedachten, weil ich sie nicht beantwortete. Ich …“

„Ich hätte es wissen müssen, dass Ihr das in den falschen Hals bekommen würdet“, unterbrach ihn Walter endlich. „Ich habe Euch bislang überhaupt nichts unterstellt. Und ich habe durchaus eine Vorstellung davon, was Euch diese Männer angetan haben. Weshalb seid Ihr so empfindlich? Was wäre denn so schlimm daran, wenn Ihr geredet hättet?“

Markus wirkte verwirrt. „Es wäre Hochverrat gewesen“, erwiderte er, „zumindest all jenes preiszugeben, was meine gemeinsame Unternehmung mit Richard im vergangenen Jahr anbelangte.“

Walter lachte. „Was hätte das für eine Rolle gespielt? Glaubt Ihr tatsächlich, dass jene Männer Euch gehen gelassen hätten, wenn Ihr ihre Fragen beantwortet hättet? Niemals! Sie hatten Euren Tod längst beschlossen. Mit Sicherheit hättet Ihr also nicht Euer Leben retten können, wenn Ihr den Mund aufgemacht hättet, aber Ihr hättet Euch zumindest die Tortur erspart.“

„Das war es mir nicht wert“, antwortete Markus lediglich. Er begann in seinem Zimmer auf und ab zu gehen.

„Seit eh und je ist es dasselbe mit Euch!“, schimpfte Walter. „Euer Trotz und Stolz haben Euch wieder einmal einen Haufen Prügel eingebracht. Habt Ihr Euch schon in einem Spiegel betrachtet? Ihr seht zum Davonlaufen aus.“

„Und Ihr könnt mich mal!“, sagte der Sohn des Fürsten roh.

Es war schon immer so gewesen, dass die beiden aufeinander losgingen, kaum dass sie sich nur gemeinsam in einem Raum befanden. Vermutlich allerdings waren sie sich ähnlicher, als es ein jeder von ihnen wahrhaben wollte und dies war wohl auch der Grund, weshalb sie immer wieder aneinander gerieten.

Richards Ziehbruder blickte Markus dunkel an. Dann lachte er plötzlich. „Ich bin froh, dass Ihr wieder hier seid“, sagte er leise.

„Und wer hätte gedacht, dass ich einmal froh wäre, Euch zu sehen?“, erwiderte Markus. Er hatte wieder unter dem Fenster Halt gemacht. „Da gab es noch etwas, das Ihr vielleicht wissen solltet.“ Der Sohn des Fürsten trommelte mit den Fingerspitzen auf seinen Tisch. „Der Herr dieser Männer ließ mich entkleiden.“

„Vor dem Verhör?“, fragte Walter.

„Nein, danach.“ Markus sah den Ziehbruder seines Vaters an. „Jener Mann ließ mich durch seine Soldaten ausziehen und dann musterte er mich eine Zeitlang von vorne und hinten. Und er wollte wissen, woher die Narben auf meinem Körper stammten.“

„Und dann?“ Richards engster Freund verzog die Stirn.

„Nichts dann.“ Markus zuckte mit den Schultern. „Sie warfen meine Kleider auf den Boden und verschwanden.“

Walter sah vor sich hin. Schließlich hob er ebenfalls die Achseln. „Nun ja, Ihr wisst selbst, dass man Gefangene ganz gerne entblößt, um sie zusätzlich zu demütigen und ihren Widerstand zu brechen. Also …“

„Nein!“, fiel ihm Markus mit Entschiedenheit ins Wort. „Dies war mit Sicherheit nicht der Grund!“

Sie schwiegen eine Zeitlang. Walter stand still und reglos und beobachtete den Sohn des Fürsten, der wieder begonnen hatte, wie ein Tier in seinem Zimmer auf und ab zu gehen.

„Ist es die Unruhe, die Euch quält?“, fragte er irgendwann.

Markus hielt inne. „Ja“, gab er zu. „Schon lange war es nicht mehr so schlimm wie jetzt.“

Richards Ziehbruder nickte. „Dann ist es wohl besser, wenn ich Euch nun alleine lasse“, sagte er leise. „Versucht, Euch ein wenig niederzulegen.“

„Bringt sie hier herüber!“

Die beiden Männer waren bleich wie Kreide und wandten sich verzweifelt, um den rohen Händen ihrer Kumpanen zu entkommen. Ihre Beine zitterten.

„Wir haben den ganzen Wald abgesucht“, brachte einer mühsam hervor.

„Tatsächlich?“ Die Soldaten stießen ihnen die Griffe ihrer Waffen in den Rücken. „Weiter!“

Vor ihrem Herrn hielten sie.

„Bitte, wir …“ Auf Knien flehten die beiden Männer um ihr Leben. „Gebt uns ein oder zwei weitere Stunden. Wir …“

Der Blick des Herrn war mitleidslos. „Das Unheil, das ihr angerichtet habt, ist schon groß genug“, sagte er ruhig. „Für Getreue wie euch gibt es bei mir keinen Platz.“

Die anderen Soldaten waren aus dem Inneren der Ruine herausgetreten und hatten einen engen Kreis um die am Boden kauernden Männer gezogen. In ihren Augen stand eine ebensolche Kälte wie in denen ihres Herrn.

„Bitte!“, kreischte einer der Männer. „Helft uns!“ Mit wildem Blick suchte er die Unterstützung seiner ehemaligen Kumpanen. „Sagt doch etwas!“

„Sie sollen hängen für ihre Unachtsamkeit!“, erklang es plötzlich aus den Reihen der Umstehenden.

Der Herr nickte. „Sie sollen hängen!“, bestätigte er.

An Niederlegen war nicht zu denken. Stattdessen ging Markus weiter rastlos in seinem Raum auf und ab und bemühte sich darum, die entsetzliche Ruhelosigkeit unter seine Gewalt zu zwingen. Doch sie war es, die den Sohn des Fürsten beherrschte und ihn in ihren Klauen hielt wie ein wildes, erbarmungsloses Raubtier.

Bereits als Kind war Markus nur mit größter Mühe dazu in der Lage gewesen, einem anderen Menschen, ganz gleich wem, länger als ein paar Augenblicke zuzuhören und er konnte darüber hinaus niemals wirklich still sitzen. Je älter der Sohn des Fürsten wurde, desto schlimmer und häufiger wurde er von der Ruhelosigkeit gequält. Wie eine unbesiegbare Kriegerin fiel sie ihn aus dem Hinterhalt heraus an und zwang ihn, das zu tun, was sie ihm befahl. An jenen Tagen, an denen die Unruhe Markus ganz und gar nicht loslassen wollte, hieb er wie ein Wahnsinniger bei den Übungskämpfen auf seine Gegner ein und hätte ihnen letztendlich wohl auch heftigste Verletzungen beigebracht, wenn ihn nicht irgendwann die Ausbildner wütend zurückgerissen hätten. Oder er ritt ohne ein Wort der Erklärung in den Wald hinein und kehrte erst viele Stunden später wieder auf die Burg zurück. Er brüllte die Dienstkräfte und die Soldaten wegen lächerlicher Kleinigkeiten an, haderte gar mit Walter ohne jeden Grund und war so unausstehlich, dass ihm alle aus dem Weg zu gehen versuchten.

Wenn der Anfall endlich vorüber war, dann saß Markus zusammengesunken auf dem Boden seines Zimmers, hielt das Gesicht in den Händen verborgen und fragte sich, ob er wohl richtig im Kopf wäre, weil er sich selbst nicht erklären konnte, was in jenen Zuständen mit ihm geschah und so sehr er sich auch anstrengte, niemals eine Antwort darauf fand, was ihn eigentlich immer wieder so wütend und streitsüchtig machte. Manchmal glaubte er, etwas vor sehr langer Zeit verloren zu haben und sich immer noch auf einer rastlosen Suche danach zu befinden.

Richard verzweifelte nahezu an seinem Sohn, weil ihm von allen Seiten her dessen ungebührliches Verhalten angetragen wurde. Wenn er mit Markus unter vier Augen sprach, dann war dieser durchaus einsichtig und gelobte Besserung, legte sich aber gewöhnlicher Weise nur wenige Stunden später mit dem nächsten Soldaten oder Dienstboten an, so dass der Fürst seinen Sohn schließlich kopfschüttelnd dessen Erzieher überantwortete. Jener Mann hatte längst alles versucht, um mit Markus in vernünftiger Weise zu reden, doch der Sohn des Fürsten hörte seinem Erzieher ebenso wenig zu wie irgendeinem anderen Menschen und er blieb auch niemals am Tisch sitzen, wenn jener ihn dazu anhielt. Noch dazu war er überaus frech und unverschämt. Der Erzieher fürchtete um seine Stellung und seine Beschäftigung auf Bernadette für den Fall, dass der Junge ihm entgleiten würde und es ihm nicht gelänge, ihn zu bändigen. Deswegen schlug er Markus grün und blau. Doch das half nur sehr wenig und keine der furchtbaren Bestrafungen führte jemals dazu, dass Markus’ Verhalten sich besserte. Nach wie vor blieb er wild, unverschämt und streitsüchtig.

Seine Schwester Anna war vermutlich der einzige Mensch, der verstand, dass Markus sich nicht mit Absicht so unmöglich aufführte. Sie begriff auch, dass die Unruhe kein schlechter Teil seines Wesens war, den man allmählich vertreiben konnte, wenn man nur immer wieder lang und heftig genug auf ihn einschlug. Anna sah, wie sehr ihr Bruder selbst unter seinen Anfällen litt und dass die Ruhelosigkeit etwas war, das er nur allzu gerne aus seinem Leben verbannt hätte. Doch aus irgendeinem Grund hielt sie sich hartnäckig bei ihm.

Möglicherweise deswegen, weil er sich bei seiner Schwester verstanden fühlte und sich vor ihr niemals für seine Anfälle zu rechtfertigen brauchte, war Anna der einzige Mensch, zu dem Markus sich anders verhielt. Zwar sprach er auch zu ihr oftmals in aufbrausender und unbeherrschter Weise, doch niemals war er zu ihr derart übellaunig wie zu den Soldaten oder den Bediensteten. Er brüllte Anna nicht an, stieß sie nicht von sich weg und war auch niemals körperlich roh oder gar gewalttätig zu ihr.

Als Richard den Erzieher irgendwann entließ, erlangte Markus’ Ruhelosigkeit innerhalb kürzester Zeit ihren Höhepunkt und wurde schlimmer als jemals zuvor. Der Sohn des Fürsten verbrachte den ganzen Tag damit, Streit zu suchen und Anna hielt ihn nicht nur einmal davon ab, sich mit irgendjemandem aufs Heftigste zu prügeln, was er in ihrer Abwesenheit sowieso andauernd tat. Die Bewohner der Burg hielten sich von ihm fern und hofften, dass Richard seinen Sohn an einen anderen Hof oder in ein Kloster schicken mochte, jedenfalls möglichst weit weg. Und alle beteten, dass der Fürst sehr alt werden würde, damit nicht jemand wie sein furchtbarer Sohn das Anwesen in naher Zukunft übernähme.

„Ich habe dir bereits des Öfteren gesagt, dass du dich auch gegenüber der Dienerschaft höflich und respektvoll zu verhalten hast“, sagte Richard immer wieder. „Eines Tages wirst du diesen Hof hier führen. Glaub mir, mit einem Herrn wie dir werden die Bewohner wenig Freude haben und es wird nur eine Frage der Zeit sein, ehe sie sich gegen dich auflehnen. Dann kannst du sie nur mehr mit Waffengewalt dazu zwingen, dir zu gehorchen. Ist dies das, was du willst?“

Markus schwieg.

Sein Vater seufzte. „Finde eine Möglichkeit, diese entsetzliche Unruhe unter deine Gewalt zu bringen“, sprach er abschließend. „Wie auch immer es dir gelingen mag. Mir ist jedes Mittel recht, Hauptsache …“

„Ja, Vater. Ich werde mich bemühen“, versprach Markus.

Und Richard blickte seinen Sohn voller Zweifel und Unglauben an.

„Ja, er ist da.“ Die alte Dienstmagd lächelte freundlich. „Seht Ihr, dort hinten sitzt der junge Herr gemeinsam mit seiner Schwester.“ Sie wies Judith den Weg durch den Garten.

Langsam schritt das Mädchen den gewundenen Pfad nach hinten. Markus schien mit Anna in ein Würfelspiel vertieft, doch er fühlte wohl die Anwesenheit seiner Verlobten, denn plötzlich blickte er auf. Seine Augen verharrten in Judiths und er lächelte ihr verhalten entgegen.

Er freut sich wirklich, dass ich komme, dachte das Mädchen glücklich.

„Ich habe gewonnen!“, kreischte Anna in diesem Moment. Dann aber drehte sie sich mit einem verwirrten Gesichtsausdruck herum, weil sie wohl wissen wollte, wem ihr Bruder da so einladend entgegen blickte, doch als sie ihre zukünftige Schwägerin erkannte, verdunkelten sich ihre Augen.

„Grüß euch, Ihr beiden“, sagte Judith und blieb neben dem kleinen Tischchen stehen.

Anna murmelte irgendetwas vor sich hin, Markus aber erhob sich und trat sehr nah an seine zukünftige Frau heran.

„Wie schön, dass du schon da bist“, sagte er. „Ich hatte dich erst später erwartet.“

„Ja, die Ich-sag-dir-jetzt-mal-wie-sich-eine-zukünftige-Ehefrau-zu-benehmen-hat-Tante, die Isabel nach Florentina bestellt hat, fühlt sich heute nicht“, erwiderte Judith mit einem bitteren Zug um den Mund.

„Wie bedauerlich.“ Markus verbiss sich ein Grinsen. Dann warf er einen Blick auf seine Schwester, die mit gesenkten Augen auf die Tischplatte hinabstarrte. Für einen Moment berührte er sanft Annas Hand. „Bis später, Herzchen“, sagte er leise.

Rot vor Scham und Wut packte Anna die Würfel in ein Säckchen und verschwand dann ohne ein Wort des Abschieds.

„Oje.“ Judith blickte dem jüngeren Mädchen nach. „Das ist wohl nicht einfach für sie.“

„Es wird sich schon noch geben“, versicherte Markus und führte seine Verlobte zum Tisch, wo sich Judith auf Annas Stuhl niederließ.

Sie plauderten ein wenig über belanglose Alltäglichkeiten und Judith dachte währenddessen daran, wie todkrank ihr Verlobter noch vor wenigen Wochen gewesen war. Markus hatte sich eine Lungenentzündung zugezogen, so schwer, dass man seine zukünftige Frau sogar etwas früher als geplant aus dem Kloster holte, wo sie die vergangenen drei Jahre verbracht hatte. Judiths Gegenwart und ihre täglichen Besuche an seinem Krankenlager hatten sich sehr hilfreich für Markus’ Gesundung ausgewirkt und er hatte sich bald erholt. Die bereits geplanten Hochzeitsfeierlichkeiten hatten allerdings verschoben werden müssen.

Dennoch kam Judith auch weiterhin jeden Tag nach Bernadette, um Zeit mit ihrem Verlobten zu verbringen. Markus schien zufrieden mit der Wahl, die sein Vater Richard für ihn getroffen hatte. Er begrüßte seine zukünftige Frau stets freudig, lachte häufig mit ihr und vertraute ihr viele Dinge an. Er sprach sogar mit Judith hin und wieder über ihr zukünftiges gemeinsames Leben auf Bernadette. Obwohl das Mädchen wusste, dass sie es mit Markus besser getroffen hatte als viele ihrer Freundinnen mit ihren Ehemännern, nagte dennoch die Furcht in ihrem Inneren. Schon oft hatte Judith beobachtet, auf welch eindeutige Art und Weise andere Frauen ihrem Verlobten hinterher sahen und sie war sicher, dass sich Markus in dieser Hinsicht keineswegs immer zurückhielt. So würde ihm eine Ehefrau schon etwas bieten müssen, um ihn bei sich halten oder sogar für sich alleine haben zu können. Judith aber hatte von ihrer Mutter Isabel lediglich die Farbe ihres Haares und die ihrer Augen geerbt, doch ansonsten war sie eher blass und unscheinbar. Ihr Körper war knochig, weil Judith aber kein kleines Mädchen war, wirkte sie dadurch nicht zierlich, sondern dürr. Selbstverständlich hatte Markus noch niemals eine abfällige Bemerkung über ihr Aussehen gemacht, aber Judith vermisste in seinen Augen jenes Verlangen, von dem sie träumte und mit dem ihr zukünftiger Ehemann sie anblicken sollte. In Judith allerdings wuchs die Sehnsucht nach Markus von Tag zu Tag.

„Es ist mir gar nicht recht, dass du dich andauernd mit ihm triffst!“, polterte Heinrich an diesem Nachmittag, nachdem er seine Tochter in der Nähe der Stallungen abgepasst hatte.

„Aber Vater, warum denn nicht?“, wagte Judith ihm zu entgegnen. „Markus ist doch nicht irgendjemand. Er ist mein zukünftiger Gatte.“

Heinrich schwieg für einen Moment. Dann stampfte er mit dem Fuß auf. „Ach, verdammt! Ist es meine Sache, mit dir über diese Dinge zu sprechen? Isabel sollte …“ Er winkte ab. Schließlich zog er seine Tochter ein Stück zur Seite. „Liebes.“ Er berührte sanft Judiths Wange. „Du weißt, dass Markus seinen Vater bald auf irgendeiner Unternehmung begleiten soll, nicht wahr?“

Das Mädchen nickte bestätigend.

Heinrich zuckte mit den Schultern. „Gewiss werden sie viele Monate unterwegs sein.“

„Ja“, sagte Judith noch einmal.

„Ich will nicht den Teufel an die Wand malen“, fuhr Heinrich fort. „Aber zumal eure Eheschließung erst nach Markus’ Rückkehr stattfinden soll. Die Zeiten sind unsicher. Niemand weiß, was geschehen wird.“ Er sah seiner Tochter geradewegs in die Augen. „Allein stehend mit einem Kind zu sein, bedeutet eine große Schande, Judith. Und dabei wird es auch überhaupt keine Rolle spielen, ob der Vater des Kindes der Ehemann der Mutter hätte werden sollen oder nicht. Von Bedeutung werden lediglich die Tatsachen sein. Deine Mutter und ich werden dir dann nur sehr bedingt helfen können.“

„Ja, Vater“, erwiderte Judith erneut und sehr beschämt. „Das weiß ich doch alles.“

„Gut.“ Heinrich schien nur halbwegs beruhigt. „Dann hoffe ich, dass Markus sich über diese Dinge ebenfalls im Klaren ist und dass du dich nicht zu irgendetwas drängen lässt.“

„Gewiss nicht“, versicherte Judith.

„Mein Gott! Walter hat Recht“, sprach Markus zu sich selbst, während er in den Spiegel blickte und vorsichtig seine Verletzungen betastete. „Das ist ja wirklich entsetzlich.“

Als er seine Schwester hinter sich wahrnahm, die lautlos das Zimmer betreten hatte, wandte er sich allerdings um.

„Mutter ist vor zwei Tagen fort gefahren“, sagte Anna und kam langsam auf ihn zu. „Sie besucht ihre jüngste Schwester für ein paar Wochen.“

Ihr Bruder nickte. „Ich weiß, Walter hat es mir bereits mitgeteilt.“ Dann sah er aus dem Fenster. „Ehrlich gesagt bin ich froh, dass sie nicht da ist“, fuhr er fort. „Sie wäre zu Tode erschrocken, wenn sie mich in diesem Zustand sähe und noch dazu erfahren müsste, dass ich ohne ihren Gatten zurückgekehrt bin.“

„Das ist doch nicht deine Schuld“, fiel ihm das Mädchen ins Wort.

Markus zuckte mit den Schultern. „Dennoch“, meinte er. „Ich bin sicher, dass Elisabeth es wesentlich lieber hätte, wenn Richard ohne mich zurückgekehrt wäre als gegenteilig.“ Er drehte den Kopf und suchte die Augen seiner Schwester.

Anna jedoch starrte ihn entsetzt an. „Wie kannst du so etwas sagen?“, fragte sie. „Du redest, als stände es Mutter an, sich zu entscheiden, ob sie lieber dich oder Richard immer noch in der Gewalt jener Männer wüsste.“

„Oh Gott, Anna“, erwiderte Markus leise. „Ich fühle mich furchtbar schuldig.“

„Weshalb denn das?“, wollte sie wissen, die Augen voller Bangen.

„Weil ich jenen Männern entkommen konnte und Vater nicht“, antwortete er.

„Was trifft dich denn diesbezüglich für eine Schuld?“, erwiderte das Mädchen verzweifelt. „Du solltest dankbar dafür sein, dass du fliehen konntest. Wünscht du dich etwa wieder dorthin, an jenen entsetzlichen Ort, und willst du wieder Schreckliches erleiden, nur weil du Richard nicht retten konntest?“

„Ich hätte nach ihm suchen müssen“, sagte ihr Bruder. „Aber ich habe nicht einmal an Richard gedacht. Ich bin einfach nur davon gelaufen und überließ ihn seinem Schicksal.“

„Um Himmels Willen, Markus!“, fuhr Anna ihn an. „Weißt du, wie viel Glück es gewesen ist, dass du überhaupt entkommen konntest? Dass diese Wahnsinnigen dich nicht aufspürten? Dass du nach all den entsetzlichen Entbehrungen tatsächlich noch den Weg nach Bernadette gefunden hast und nicht irgendwo vor Entkräftung liegen geblieben bist? Hör jetzt auf mit diesem Unsinn! Ich bin mehr als froh darüber, dass wenigstens du es nach Bernadette geschafft hast und Elisabeth wird das ganz genauso sehen.“

Markus nickte ohne Überzeugung und trat dann auf seine Schwester zu. „Ich würde dennoch gerne eine Zeitlang warten, ehe wir einen Boten zu Mutter schicken, um ihr mitzuteilen, was geschehen ist. Irgendwie habe ich die Befürchtung …“ Er hatte das schreckliche Gefühl, sich vor seiner Schwester dafür rechtfertigen zu müssen, dass er Elisabeth noch nicht sehen wollte.

„Ganz wie du es willst“, erwiderte Anna jedoch.

Sie rückte ein wenig von ihm ab. Und dann hob sie ihre Hand und griff in das Haar ihres Bruders. Jetzt nach der langen Zeit seiner Abwesenheit fiel Anna zum ersten Mal wieder auf, wie außergewöhnlich die Farbe seiner Haare in Wirklichkeit war, denn normalerweise achtete sie nicht darauf.

Markus’ Haar war beinahe so weiß wie der frisch gefallene Schnee im Winter.

„Wie ist die Lage draußen?“, erkundigte sich Markus beim Ziehbruder seines Vaters. Es wurde bereits dunkel, in ein oder zwei Stunden würde es Nacht sein.

Walter zuckte mit den Schultern. „Bis jetzt verhält sich alles ruhig. Nichts Auffälliges, keine besonderen Vorkommnisse. Aber wir müssen dennoch wachsam sein. Ich habe die Soldaten über das Wesentliche aufgeklärt und auch einen Großteil der Dienstkräfte. Daher ist die Stimmung unter den Bewohnern angespannt.“ Er schwieg einen Moment. „Und wie fühlt Ihr Euch selbst?“, wollte er dann wissen. „Ist es Euch gelungen, ein wenig zur Ruhe zu kommen?“

Markus winkte ab. „Nicht wirklich. Ich muss immerzu an Richard denken. Wie es ihm wohl ergeht? Der Gedanke, dass sich mein Vater noch in den Händen dieser Horde befindet und sie ihm weiß der Himmel was antun, ist mir unerträglich.“

„Machen wir uns nichts vor“, erwiderte Walter. „Richard ist tot.“

Ein jedes dieser Worte traf Markus wie ein Messerstich unmittelbar ins Herz. „Seid Ihr des Wahnsinns, so etwas Entsetzliches zu sagen?“, fuhr er den Mann an. „Was macht Euch denn so sicher?“

„Welchen Grund sollten diese Männer haben, Euren Vater am Leben zu lassen?“, fragte Walter zurück.

„Möglicherweise um ihn noch eine Zeitlang auszuquetschen“, antwortete der Sohn des Fürsten bitter. „Weshalb sollten sie Richard zuvorkommender behandeln als mich?“

Walter hob die Achseln. „Das ist wohl denkbar“, gab er zu. „Ich halte es allerdings für weitaus wahrscheinlicher, dass diese Männer Euren Vater schon längst zum Reden gebracht haben. Das wäre nämlich der einzig vernünftige Grund, der erklären würde, weshalb sie aufhörten, Euch zu quälen. Wenn Richard ihnen also all die Auskünfte gegeben hat, die sie von ihm forderten, dann haben diese Männer ganz und gar keine Verwendung mehr für ihn. Im Gegenteil, sein Weiterleben bedeuten eine Verpflichtung, weil sie ihn versorgen müssen, und eine Gefahr dazu. Dieses Risiko werden sie nicht eingehen, erst recht jetzt nicht, nach Eurer Flucht. Und wenn Richard tatsächlich ebenso stolz und trotzig gewesen sein sollte wie Ihr und seinen Mund gehalten hat, nun, dann haben ihn diese Männer längst zu Tode geschunden. Wie auch immer, Richard ist mit Sicherheit nicht mehr am Leben.“

„Und wenn doch?“, schrie Markus. „Wir können doch nicht einfach …“

„Markus!“ Walter drückte den Aufgebrachten in einen der Sessel nieder. „Lasst uns dieses Gespräch auf morgen verschieben. Es wird bereits dunkel und für heute sehe ich keine Möglichkeit mehr, irgendetwas zu unternehmen oder auch nur zu planen.“

„Bis zum Morgengrauen sind Eure grausigen Gedanken vielleicht Wahrheit geworden“, erwiderte der Sohn des Fürsten hart.

„Entweder habe ich Recht und Richard ist längst tot“, antwortete der Ziehbruder des Fürsten ruhig, aber mit einer großen Bestimmtheit. „Oder Richard ist noch am Leben, weil er irgendeine Bedeutung oder einen Nutzen für diese Männer hat. Nun, dann wird er mit Sicherheit morgen noch ebenso am Leben sein wie heute.“

Markus schwieg wütend. „Wie auch immer es sich verhalten mag, diese Ungewissheit ertrage ich nicht“, brachte er schließlich hervor. „Ich werde zu jener Ruine zurückkehren und Richard nach Bernadette bringen. Lebendig oder tot.“

Walter legte ihm beschwichtigend die Hand auf die Schulter. „Lasst uns morgen früh über unsere Möglichkeiten sprechen“, erwiderte er.

Markus war wieder einmal voller Groll auf den Ziehbruder seines Vaters. Aus welchem Grund begriff Walter denn nicht die Dringlichkeit, zu jener Ruine aufzubrechen? Ging es nicht um Leben und Tod seines engsten Freundes?

Missmutig wühlte der Sohn des Fürsten unter seinen Sachen und holte schließlich seine Waffen aus dem Kasten. Er war froh, dass er damals auf seinen Vater gehört hatte, der ihm riet, sich für die Reise lediglich leicht zu bewaffnen und auch nicht das beste und wertvollste Schwert mit sich zu führen. Nun hatte Markus alles verloren, was er im vergangenen Jahr bei sich getragen hatte und war dankbar, dass ihm wenigstens das teure Kettenhemd und sein Lieblingsschwert nicht abhanden gekommen waren. Er dachte an die lange Zeit der Ausbildung, an all die unzähligen Stunden, die er im Lauf seiner Jugend auf den Übungsplätzen verbracht hatte, um sich für einen Fall wie diesen vorzubereiten. Und nun sollte er tatenlos auf Bernadette hocken und die Vorstellung ertragen, dass jene Männer dort draußen im Wald seinen Vater quälten oder gar töteten. All die harte Arbeit war also vollkommen nutzlos gewesen.

Wie alle anderen Knaben hatte auch Markus die unzähligen Geschichten geliebt, die über Ritter und deren heldenhafte Kämpfe erzählt wurden. Selbstverständlich wollte der Sohn des Fürsten ein ebensolch bewundernswerter Ritter werden, wenn er erst einmal groß war, und er hoffte, dass ihn sein Vater zu diesem Zweck an einen anderen Hof schicken würde.

Doch Richard wollte nichts davon wissen. „Für solch einen Unfug ist mir mein Geld zu schade“, schimpfte er. „Ich habe besseres mit meinem Vermögen vor, als davon drei Schlachtrösser zu kaufen, die ansonsten zu nichts nütze sind, und einen Haufen überflüssiges Blech anfertigen zu lassen.“

Es mochte in den Augen des Fürsten noch angehen, sich zur Unterhaltung hin und wieder eines der Turniere anzusehen, die bei irgendwelchen Festlichkeiten abgehalten wurden, er selbst allerdings legte keinen Wert darauf, an den Kämpfen teilzunehmen, denn viel zu oft trug man die Ritter schwer verwundet oder gar tot vom Sandfeld.

Markus allerdings verfolgte die Turniere mit Begeisterung. Was konnte es denn Großartigeres geben, als sein Können in einem Kampf unter Beweis zu stellen? Die siegreichen Ritter wurden als Helden gefeiert und auch den Unterlegenen oder gar Toten kam jede Ehre zuteil. So träumte der Sohn des Fürsten weiterhin davon, später einmal in den Dienst eines Herrn einzutreten und in dessen Auftrag glorreiche Siege zu erringen.

„Schlag dir das aus dem Kopf!“, zerstörte Richard allerdings die Hoffnungen des Jungen. „Glaubst du, ich habe Lust, dass man mir eines Tages deinen aufgeschlitzten Leichnam oder verstümmelten Körper zurückbringt?“, polterte er. „Du wirst Bernadette einmal übernehmen und ich brauche einen gesunden Erben und keinen Krüppel. Das sind doch alles nichts weiter als Geschichten. Glorreiche Schlachten, dass ich nicht lache! Und der viel gerühmte Heldentod, das ist Verrecken in Dreck und Blut! Schluss jetzt mit diesem Unsinn. Du wirst Bernadette nicht verlassen, denn dein Platz ist hier!“ Dann aber mäßigte sich der Fürst. „Selbstverständlich wirst du aber eine gute Ausbildung und die besten Waffen erhalten“, versprach er schließlich, weil er sah, wie enttäuscht sein Sohn war.

Richard hielt Wort. Er ließ exzellente Lehrer an seinen Hof kommen und ordnete an, dass gemeinsam mit Markus alle jungen Burschen auf der Burg unterrichtet werden sollten. Und auch die Söhne der Dienerschaft, ebenso wie die Söhne der freien Bauern, hatten sich, soweit es ihnen zeitlich möglich war, zu den täglichen Übungskämpfen einzufinden.

„Mit Abhängigen, die nicht einmal wissen, an welchem Ende sie ein Schwert anfassen sollen, kann ich nicht viel anfangen“, sagte Richard allem Spott der benachbarten Lehnsherren zum Trotz.

Und weil er wusste, dass sich die meisten Bauern eine Ausbildung und Bewaffnung ihrer Söhne nicht leisten konnten, gab er sein halbes Vermögen dafür aus, um die Heranwachsenden auf seine eigenen Kosten unterrichten und ausstatten zu lassen.

„Ich will, dass sie sich und ihren Besitz verteidigen können“, sagte der Fürst. „Und ich will gut ausgebildete Krieger haben, falls ich sie einmal benötige, um irgendeinen Angriff von der Burg abzuwehren.“

Als Markus seine erste Waffe, ein Holzschwert, erhielt, war er sehr stolz, ebenso wie alle anderen Knaben. Endlich war er ein Krieger, endlich durfte er kämpfen lernen, endlich musste er nicht mehr nur bei den Frauen im Haus sitzen. Gemeinsam mit den anderen lernte der Sohn des Fürsten ein Pferd zu reiten, mit dem Bogen zu schießen und mit Schwert oder Messer umzugehen.

Doch je älter die Burschen wurden, desto härter wurden die Übungen. Oftmals ließ man sie stundenlang im Regen oder der sengenden Sonne kämpfen, bis sie nass bis auf die Haut, vollkommen durchgefroren oder verbrannt und erschöpft und taub vor Hunger waren.

„Glaubt ihr, auf den Schlachtfeldern wird euch irgendjemand fragen, ob ihr müde oder hungrig seid oder ob euch vielleicht die Sonne stört?“, brüllten die Ausbildner die Jungen an.

Sie waren unerbittlich und zeigten nicht das geringste Mitgefühl. Wer es wagte, sich über den Drill zu beschweren, den bestraften sie vor den Augen aller anderen. Und Markus war wohl nicht der einzige, der sich im Stillen nach seiner frühen Kindheit zurücksehnte, in der er noch unbehelligt hatte spielen dürfen und auf dem Schoß seiner Amme sitzen konnte.

Da der Sohn des Fürsten auch während der täglichen Übungskämpfe nicht in der Lage war, die Ruhelosigkeit in seinem Inneren zu beherrschen, war er mit Sicherheit einer derjenigen, die von den Ausbildern am häufigsten bestraft wurden. Die Lust an den Unterweisungen und auch der Stolz darauf waren ihm längst vergangen und oftmals erschien er überhaupt nicht zu den Übungskämpfen.

Erst als Anna heranwuchs und das Verhältnis der Geschwister zueinander im Lauf der Jahre immer enger wurde, begriff Markus allmählich, was sein Vater damals, vor langer Zeit, gemeint hatte. Und der Sohn des Fürsten fragte sich, wie er überhaupt jemals auf den Gedanken kommen konnte, Bernadette zum Zwecke einer Ritterausbildung verlassen zu wollen, denn dies hätte doch gleichzeitig bedeutet, auch von seiner Schwester getrennt zu sein. Natürlich aber war sein Platz hier auf der Burg bei Anna und an keinem anderen Ort. Und weil Markus in der Lage sein wollte, Bernadette für seine Schwester verteidigen zu können, fing er an, die Übungskämpfe sehr ernst zu nehmen und erschien wieder jeden Tag auf den Sandplätzen hinter dem Herrenhaus.

Die Männer rissen den Herrn des Anwesens und seine Gattin auseinander.

„Die Frau auf das Bett!“, sagte einer von ihnen.

Sie kreischte voller Verzweiflung, während ihr Mann versuchte, sich zu befreien, um ihr beizustehen. Doch einer der Kumpanen drückte die Frau auf das Lager nieder und band die Gelenke ihrer Hände an den seitlichen Stangen der Bettbegrenzung fest. Ein anderer stieß den Lehnsherrn zu Boden.

Als er aufbegehrte und schrie: „Ihr seid ja allesamt wahnsinnig!“, erhielt er einen harten Faustschlag mitten ins Gesicht. Dennoch zog sich der Lehnsherr mühsam wieder auf die Knie hoch. „Ich weiß nicht, was ihr von uns wollt. Ich …“

„Glaubt ihm kein Wort!“, sagte derjenige, der die Frau festgebunden hatte. „Er lügt. Er weiß ganz genau, weshalb wir hier sind.“ Immer noch stand er neben dem Bett.

„Also, wo ist es?“, fragte der andere, während er dem knienden Mann die Hände hinter dem Rücken zusammenband.

Sein Kumpan beugte sich über die Frau auf dem Bett und zerrte so lange an deren Gewand, bis der Stoff aufriss und die weiße Haut ihres Oberkörpers zum Vorschein kam. „Wunderschön“, grinste er. „Ich freue mich schon auf später.“

„Oh Gott.“ Beinahe liefen dem Lehnsherrn die Tränen über die Wangen, während er mit ansehen musste, wie die beiden Männer den halbnackten Körper seiner Gattin mit kaum verhohlener Gier anstarrten.

„Schluss mit diesen Kindereien!“ Aus dem Hintergrund trat ein weiterer Mann hinzu, der das Geschehen bislang lediglich regungslos und mit kalten Augen beobachtet hatte. „Fangen wir an!“, sagte er ruhig.

Einst, vor vielen Jahren, war er ein schöner Junge mit nahezu weißem Haar gewesen, jetzt hingen ihm die langen Strähnen bis weit in den Rücken hinab und waren dunkel vom Dreck vieler Monate. In seinem Gesicht stand ein struppiger, ungepflegter Bart, sein Gewand war zerrissen und ungewaschen. Er bestieg das Bett und kniete sich über die Beine der Frau.

„Ich bitte Euch.“ Der Lehnsherr war rastlos vor Angst. „Lasst ab von ihr. Meine Frau weiß doch überhaupt nichts.“

Die beiden Kumpanen traten an seine Seiten und drückten ihn nieder, damit er sich nicht erhob.

„Umso mehr Grund, dass du endlich deinen Mund aufmachst!“, erwiderte der Mann auf dem Bett.

„Tu es nicht!“, schrie die Frau, noch ehe ihr Gatte der Aufforderung in irgendeiner Weise nachkommen konnte. „Gib diesen Hurensöhnen nichts preis. Soll dieser Dreckskerl doch …“ Und sie spuckte dem Mann über ihr mitten ins Gesicht.

Er wischte es nicht weg. Doch mit der Außenseite seiner Hand versetzte er der Frau einen so harten Schlag auf die Wange, dass sie augenblicklich verstummte und nur mehr ein Schmerzenslaut von ihr zu hören war.

„Du hältst gefälligst den Mund, wenn ich mit deinem Mann rede!“, fuhr er sie an.

Anschließend wandte er sich nach dem Lehnsherrn auf dem Boden um, doch dieser schwieg. Da fasste der Mann auf dem Bett nach einer der fest gebundenen Hände der Frau und mit einem fürchterlichen Knacken brach er ihr zwei Finger. Den zuckenden Körper presste er mit einem Arm auf das Lager nieder, während ein gellender Schrei die Luft zerriss. Dann griff er wieder nach der Hand der Frau.

„Unter dem Dach“, stieß der Lehnsherr hervor. „Es gibt eine Nische in der Wand neben dem Fenster.“

Die beiden Kumpanen zu seinen Seiten grinsten mit Befriedigung. „Na also, wir wussten es doch“, sagte einer von ihnen.

Der Mann auf dem Bett erhob sich. „Holt es“, sprach er. „Ich bleibe hier.“

Kaum dass er alleine war, trat er vor den knienden Lehnsherrn, zog sein Messer und stieß es ihm mit aller Kraft mitten ins Herz. Die Frau auf dem Bett dagegen rührte er nicht an, denn seine Kumpanen brauchten sie noch.

Die Nacht war hereingebrochen und trotz aller Unruhe machte sich langsam die Erschöpfung in Markus’ Innerem breit. Er entzündete die Kerzen und ließ sich an dem kleinen Tisch unter dem Fenster nieder. Dann griff er nach der Heiligen Schrift. Diese Bibel war das einzige Buch, das der Sohn des Fürsten besaß. Seine Mutter Elisabeth hatte sie ihm vor Jahren geschenkt, obwohl Markus’ Lateinkenntnisse sich auf wenige Floskeln beschränkten. Ein wenig wahllos blätterte er durch die Seiten und überlegte, ob er seine Schwester Anna zu sich bitten sollte, damit sie ihm ein paar seiner Lieblingspassagen übersetzte. Schließlich aber schlug Markus lustlos die Heilige Schrift zu und griff stattdessen nach Pergament, Feder und Tinte. Eine ganze Weile saß er brütend über dem Blatt und dachte darüber nach, was er seiner Mutter angesichts der Ereignisse schreiben sollte.

Der Sohn des Fürsten war einer der wenigen heranwachsenden Burschen auf der Burg gewesen, die lesen und sogar schreiben gelernt hatten. Richard selbst war zufrieden damit, dass es ihm gelang, die an ihn gerichtete Post zu entziffern, zu schreiben dagegen vermochte der Fürst nicht. Wenn er einen Brief oder eine Urkunde aufsetzen wollte, bat er einen der Schreiber, die auf der Burg beschäftigt waren, oder Elisabeth zu sich. Dass seine Frau wesentlich gebildeter war als er, störte ihn nicht im Geringsten. Dies war auch nichts Ungewöhnliches, denn schließlich sollten die Männer und heranwachsenden Söhne vor allem gute Krieger sein.

Die Fürstin aber hatte seit jeher darauf Wert gelegt, dass ihre beiden Kinder, und nicht nur ihre Tochter, umfassend unterrichtet wurden und so musste Markus nach den Wünschen seiner Mutter lesen lernen, sich mit Zahlen beschäftigen und sich durch die großen Autoren längst vergangener Zeiten quälen. Er nahm es mit Gelassenheit hin, obwohl er sich viele Jahre lang fragte, wofür er dies alles benötigen sollte, denn schließlich hatte er nicht vor, sein Leben in der Bibliothek eines Klosters zuzubringen, sondern würde den Hof seines Vaters übernehmen und für ein Dasein als Burgherr reichte eine wesentlich geringere Bildung seiner Meinung nach vollkommen aus.

Als seine Mutter dann aber eines Tages mit der Anweisung kam, dass Markus, gleich wie seine Schwester, sogar schreiben lernen sollte, war es mit seiner Geduld vorbei. Zum ersten Mal fluchte der Sohn des Fürsten lauthals in Elisabeths Gegenwart und murmelte irgendetwas von Männerhänden daher, die ein Schwert halten sollten, aber keinen Griffel. Dann verschwand er türenknallend in seinem Zimmer. Doch es half ihm nichts. Seine Mutter blieb unerbittlich.

Markus konnte niemals Freude am Schreiben empfinden und im Gegensatz zu seiner Schwester kostete ihn jeder Brief eine halbe Ewigkeit, weil er sich so schwer damit tat, die Worte in die richtige Form zu bringen.

Auch jetzt saß er grübelnd über dem Pergament und quälte sich damit, den geeigneten Beginn zu finden. Und erneut dachte der Sohn des Fürsten daran, seine Schwester Anna zu bitten, den Brief an seiner statt zu schreiben, denn sie hätte mit Sicherheit rasch die passenden Worte zu Papier gebracht. Doch dann schob Markus auch die Schreibutensilien wieder zur Seite. Es erschien ihm unmöglich, seine Mutter über die Ereignisse, die sich zugetragen hatten, in Kenntnis zu setzen, solange er nicht alles versucht hätte, um auch ihren Gatten Richard aus der Gewalt jener Männer zu befreien oder zumindest seinen Leichnam nach Bernadette heim zu holen.

Die Kerze, die auf dem Tisch in einem Halter zu Markus’ Rechten steckte, flackerte. Er blickte auf und weil das Licht wohl bald ausgehen würde, erhob er sich und trat an seinen Schrank heran, damit er später nicht in völliger Dunkelheit in den Fächern nach einer neuen Kerze suchen musste.

„Verzeiht, Herr.“ Eine Frau hatte kaum hörbar die Tür geöffnet und stand nun auf der Schwelle des Zimmers. Als Markus sich herum wandte, senkte sie den Blick. „Maria schickt mich zu Euch, ob Ihr etwas braucht?“

Markus bedachte sie lediglich flüchtig und wühlte dann weiter in seinem Schrank. „Nein, im Moment nicht“, antwortete er hastig. „Hab Dank! … so ein Mist!“

Einige Gegenstände und Kleidungsstücke waren aus den Fächern zu Boden gefallen und mit raschen Schritten kam die Frau an Markus’ Seite, ließ sich nahe neben ihm auf dem Boden nieder und begann, die verstreuten Dinge einzusammeln. Ihre Gestalt war dabei so sehr in sich zusammengekauert, dass Markus nicht allzu viel von ihr erkennen konnte. Lediglich ihre schlanken Füße mit zierlichen Fesseln, die in groben Sandalen steckten, zeigten in seine Richtung. Die Frau erhob sich im selben Moment, in dem sich auch der Sohn des Fürsten aufrichtete und für einen Augenblick standen sie einander viel zu nah gegenüber.

Sie war kaum kleiner als er. Gerade noch war es Markus möglich, auf ihren Scheitel hinab zu sehen. Das Haar der Frau war schulterlang und von einer rötlich blonden Farbe. Glatt und schimmernd wie Seide umrahmte es ihr makelloses Gesicht mit den hohen Wangenknochen. Als die Frau schließlich aufsah, blickte Markus in zwei dunkelgrüne Augen, die ihn an die Farbe des Mooses auf dem Waldboden erinnerten. Ein wenig im Gegensatz zu der Farbe ihres Haares und der ihrer Augen trug die Frau ein dunkelrotes, reich verziertes Kleid. Sie mochte wohl ein paar Jahre älter als der Sohn des Fürsten sein und im Gesamten wirkte sie weit weniger wie eine Dienstmagd als eher wie eine Adelsdame.

Erst als die Frau ihren Blick wieder senkte und von ihm zurücktrat, wurde Markus sich darüber bewusst, dass er sie angestarrt hatte.

„Danke.“ Seine Stimme klang heiser, als er ihr einige Gegenstände abnahm. Er ordnete die Dinge in die Fächer ein und wandte sich anschließend wieder der Frau an seiner Seite zu. „Bin ich bislang einfach blind gewesen oder bist du in der Zeit meiner Abwesenheit nach Bernadette gekommen?“, fragte er leise.

„Eure Mutter stellte mich vor einigen Monaten ein.“ Die Frau bückte sich erneut und las die Kleidungsstücke vom Boden auf.

„Wie ist dein Name?“, wollte Markus als nächstes wissen.

„Erika, Herr“, antwortete sie, während sie ihm ergeben die Gewandstücke entgegenstreckte.

Noch ehe der Sohn des Fürsten sie ihr abnahm, glitt sein Blick unauffällig über ihre schmalen Hände, doch an keinem ihrer Finger steckte ein Ring. Möglicherweise legte diese Frau ihren Schmuck aber auch lediglich zum Arbeiten ab.

„Und woher kommst du?“, fragte Markus weiter. „Aus einem der Dörfer?“

Erika sah ihn geradewegs an. „Nein“, antwortete sie. „Von sehr weit her.“ Ihre Stimme klang abweisend.

„Verzeih, bitte.“ Der Sohn des Fürsten verharrte im Grün ihrer Augen. „Ich wollte dich nicht drängen, mir etwas über deine Herkunft zu verraten.“

Die Frau senkte wieder den Blick. „Ihr habt mich nicht bedrängt.“ Der Tonfall ihrer Stimme war allerdings nicht freundlicher geworden.

„Gut.“ Markus schloss die Türen seines Schrankes. „Wenn du später die Zeit dazu findest, in den Keller zu gehen, dann bring mir doch bitte einen Stapel dieser dünnen, langen Kerzen herauf. Dies hier ist die letzte, die ich habe.“ Er steckte eine Kerze in den nahezu niedergebrannten Halter auf dem Tisch.

„Wie Ihr es wünscht.“ Erika wandte sich dem Ausgang des Zimmers zu. Doch noch ehe sie den Raum verlassen konnte, kam Walter herein und vertrat ihr den Weg.

„Oh… Bitte sehr.“ Er lächelte kaum, hielt ihr allerdings die Tür auf.

Die Frau nickte und zog sich zurück.

„Kommt Ihr zurecht?“, fragte Richards Ziehbruder.

Der Sohn des Fürsten starrte hinter Erika her.

„Markus?“ Walter kam einen Schritt auf ihn zu.

„Wie bitte?“, schreckte dieser auf.

„Ob alles in Ordnung mit Euch ist?“

„Wie …? Selbstverständlich. Natürlich“, erwiderte Markus. „Ich werde mich bald zu Bett begeben.“

„Das habe ich ebenfalls vor“, sagte Richards Ziehbruder. „Ich wollte nur noch einmal rasch nach Euch sehen und Euch eine gute Nacht wünschen.“

Als Walter den Raum verlassen hatte, schüttelte Markus heftig den Kopf, um Erikas Gestalt vor seinen inneren Augen zu vertreiben. Sie hielt sich allerdings hartnäckig.

„Ich bin kein Krieger“, sagte Anselm eines Nachmittags zu Anna. „Im Gegensatz zu deinem Bruder und all den anderen. Ich kann nicht sonderlich gut mit Waffen umgehen.“ Auch der Sohn des Schmiedes war einer der jungen Burschen, die Richard gemeinsam mit Markus ausbilden ließ.

Anna griff nach den Händen des Jungen. „Ach was“, wehrte sie ab, „ich weiß, dass du gut bist. Markus hat es mir schon oft gesagt.“

Elias, der Schmied, war seinem Herrn Richard außerordentlich dankbar dafür, dass auch sein Sohn an den täglichen Übungen teilnehmen durfte, denn er hätte sich die teure Ausbildung niemals leisten können. Daher mahnte er Anselm immer wieder zur Dankbarkeit gegenüber dem Fürsten. Und der Junge gab sich alle Mühe.

„Ich tue immer alles, was die Ausbilder von uns verlangen“, sagte er. „Deswegen falle ich wohl nicht weiter auf. Aber das heißt nicht, ich meine …“

Nur sehr selten ging Anna an den abgezäunten Bereichen hinter dem Herrenhaus vorbei, in denen die Heranwachsenden unterrichtet wurden und sie hielt den Blick dabei gesenkt, wie es von ihr verlangt wurde, damit sie nicht irgendwelche in der Hitze der Kämpfe entblößte Körperteile sehen konnte. Selbstverständlich nahm das Mädchen dennoch all jenes wahr, was sich auf den Sandplätzen abspielte und sie konnte auch Anselm beobachten, sofern er an diesem Tag dabei war. Und wenn sie dann das Klirren einer zu Boden fallenden Waffe vernahm, dann wusste sie, dass er auch sie gesehen hatte.

Nun strich sie sanft über all die unzähligen Narben auf den Händen und Armen des Jungen, an jenen Stellen, an denen ihm glühendes Metall bei der Arbeit die Haut verbrannt hatte.

„Ich weiß.“ Er zog seine Arme zurück. „Ich bin der Sohn eines Schmiedes und ich verbringe einen Großteil meiner Zeit damit, Waffen herzustellen. Doch das ist nicht dasselbe wie sie einzusetzen zu jenem Zweck, für den sie gemacht worden sind. Und trotz all der Übungen in den vergangenen Jahren, bin ich immer noch sicher, dass ich das wohl nur schwerlich könnte. Dennoch muss ich kommen, wann immer dein Vater oder dein Bruder nach mir rufen.“

„Das wird niemals der Fall sein“, mühte sich Anna ihn zu beruhigen. „Uns kann keine Gefahr drohen.“

Aber Anselm wandte sich ab. „Sag das nicht leichtfertig“, erwiderte er. „Wer weiß, was kommt. Und mir graut davor.“

„Vielleicht hast du Glück und bist nicht unter den Gerufenen“, sprach das Mädchen weiter. „Und wenn doch, dann versteckst du dich eben oder stolperst über einen Stein.“ Sie grinste ein wenig hilflos. Es kam nicht allzu oft vor, dass Anselm und sie über solch ernste Dinge sprachen.

Doch die Miene des Jungen blieb unverändert. „Red nicht solch einen Unsinn! Niemand darf sich den Befehlen seines Herrn widersetzen. Weißt du, was mit denjenigen geschieht, die es wagen?“ Er sah ihr geradewegs in die Augen.

Anna aber wich ihm aus.

„Hast du jemals eine der Bestrafungen unten am Tor gesehen?“, fragte er weiter.

Die Züchtigungen ungehorsamer Soldaten oder Abhängiger wurden an einem eigens dafür vorgesehenen Balken in der Nähe des inneren Burgtores vollzogen und etliche der Bewohner sahen sie sich zur Unterhaltung an.

„Hast du es je gesehen?“, wollte Anselm noch einmal wissen.

Anna schüttelte den Kopf. „Nein“, erwiderte sie. Elisabeth gestattete nicht, dass ihre Tochter unter den Zuschauern war und so hatte sich das Mädchen bei diesen Gelegenheiten im Inneren des Gebäudes aufzuhalten.

„Aber ich habe es gesehen“, sagte Anselm. „Und es ist grauenvoll.“

Auch Markus hatte sich vor Jahren einmal eine der Bestrafungen angesehen. Als Anna ihn am Abend fragte, wie es gewesen wäre, meinte er einzig: „Es war widerlich! Ich kann nicht verstehen, was die Leute daran unterhaltsam finden.“

Danach wollte sich der Sohn des Fürsten niemals wieder etwas Derartiges ansehen müssen und verabschiedete sich jedes Mal rechtzeitig vorher mit irgendeiner fadenscheinigen Ausrede.

„Bitte, Anselm“, flehte Anna. „Wollen wir nicht von etwas anderem reden?“ Sie streichelte seine Hände.

Und er ließ es stumm zu.

„Ja“, meinte er schließlich. „Du hast Recht. Sprechen wir nicht weiter darüber. So ist es eben.“ Der Junge versuchte zu lächeln.

Markus sah seine Schwester mit fragenden Augen an. Anna war im Türrahmen mit der Klinke in der Hand stehen geblieben.

„Ich kann nicht einschlafen“, sagte das Mädchen und ließ den Riegel hinter sich ins Schloss gleiten. Dann stand sie etwas unschlüssig vor dem Bett ihres Bruders. „Darf ich mich zu dir legen?“, fragte sie schließlich. Und als Markus stumm blieb, fügte sie leise hinzu: „So wie früher? Weißt du noch?“

Da nickte er langsam, rutschte ein Stück beiseite und Anna kroch zu ihm unter die Bettdecke.

Von frühester Kindheit an war das Mädchen viele Jahre lang des Nachts heimlich aufgestanden und zu ihrem Bruder ins Zimmer geschlichen.

„Kann ich bei dir schlafen?“, weckte sie ihn jedes Mal vorsichtig.

Und Markus hatte ihr augenblicklich Platz neben sich gemacht. Anschließend schlang Anna ihre Ärmchen um seinen Hals und schlief auf der Stelle ein. Die Erzieher der Kinder duldeten es lange Zeit stillschweigend, aber eines Tages sprach Richard mit seinem Sohn.

An diesem Abend sagte Markus zu Anna: „Du bist jetzt schon ein großes Mädchen und brauchst nicht mehr bei mir zu schlafen. Wenn es dir gelingt, nachts in deinem Bett zu bleiben, schenke ich dir etwas Wunderschönes.“

Anna war tapfer und nach ein paar Wochen brachte ihr Bruder ihr ein kleines Häschen mit, das er im Wald gefunden hatte. Das Mädchen war glücklich und verbrachte viel Zeit mit dem Hasen, bis er ein paar Jahre später starb. Markus aber vermisste seine kleine Schwester schmerzlich und sehnte sich nach der Wärme ihres Körpers und dem Geruch ihres Haares. Viele Nächte lag er deshalb wach und ruhelos auf seinem Bett und wünschte, Anna möchte trotz aller Verbote zu ihm kommen.

Jetzt lag sie nach langer Zeit wieder einmal neben ihm und wie früher war sie bereits nach wenigen Augenblicken eingeschlafen. Eine Weile lauschte Markus auf die ruhigen Atemzüge seiner Schwester. Dann richtete er sich auf und schob sogar die Bettdecke ein wenig zurück, um sie besser ansehen zu können. In all den Monaten, die er von Bernadette fort gewesen war, hatte sich Anna ganz und gar verändert. Ihr gelöstes Haar lag auf seinem Kissen, es war um etliches länger geworden, ihre Wangen waren höher und ihr Gesicht weniger kindlich, dafür hatte sich ihr Körper gerundet. Und ein gutes Stück gewachsen war das Mädchen ebenfalls, wie er an diesem Morgen festgestellt hatte, als sie ihm gegenüber stand. Anna war nicht mehr jene kleine Schwester, die er zurückgelassen hatte. In der Zwischenzeit war sie wirklich erwachsen geworden. Und es gab Markus einen heftigen Stich, als er begriff, dass seine gemeinsamen Tage mit Anna nun wirklich gezählt wären, war ihm doch mit seiner Schwester ohnehin schon viel mehr Zeit geschenkt worden als es üblich war.

So war auch seine eigene Mutter Elisabeth mit nicht einmal sechzehn Jahren verheiratet worden und in Annas jetzigem Alter hatte sie bereits einen Sohn von sieben oder acht Monaten gehabt. Wenn Markus die Augen schloss, dann konnte er sich manchmal noch an das junge Mädchen erinnern, das Elisabeth damals gewesen war. Und als nun Anna neben ihm lag, musste er feststellen, dass sie jenem Bild in seinem Inneren so sehr glich, dass es ihm beinahe unheimlich war.

Anna rührte sich ein wenig. Möglicherweise war ihr wegen der fehlenden Decke kalt geworden. „Was ist los?“ Sie öffnete die Augen. „Weshalb siehst du mich so an? Stimmt irgendetwas nicht?“

„Nein, alles in Ordnung.“ Markus zog die Decke wieder über das Mädchen. „Schlaf weiter!“, sagte er und löschte anschließend die Lampe neben seinem Bett.

An jenem Tag, an dem seine Schwester geboren worden war, hatte der Sohn des Fürsten auf den Steinstufen gesessen, die zu Elisabeths Räumen hinaufführten und die dunklen Schreie waren bis zu ihm nach unten gedrungen.

„Muss meine Mutter sterben?“, fragte er die Dienstmagd, die von oben herunterkam, um frisches Wasser zu holen.

„Nein“, beruhigte ihn die Frau und strich dem Jungen über das nahezu weiße Haar. „Das ist ganz normal, wenn ein Kind auf die Welt kommt. Und jetzt geht auf Euer Zimmer, wir holen Euch, wenn alles vorbei ist.“

Es war Richard, der einige Stunden später zu seinem Sohn kam und mit leuchtenden Augen verkündete: „Du hast eine Schwester bekommen.“

Und kurz darauf durfte Markus an der Seite seines Vaters zu Elisabeth ins Zimmer gehen. Die Fürstin lag bereits auf ihrem Bett und sah sehr müde aus, aber als sie ihren Sohn erblickte, lächelte sie ihn an und streckte ihm die Hand entgegen. Markus ließ sich neben seiner Mutter nieder und wunderte sich darüber, wie winzig klein ein neugeborenes Kind war.

Richard allerdings beugte sich über seine Frau und küsste sanft ihre Stirn. „Danke, Elisabeth“, sagte er leise. „Vielen Dank.“

Markus begriff den Sinn dieser Worte erst um vieles später. Niemand hatte wohl nach solch einer langen Zeit der Unfruchtbarkeit damit gerechnet, dass die Fürstin noch einmal ein Kind zur Welt bringen würde. Nun hatte sie aber doch eine Tochter geboren und deswegen war dieses Mädchen sowohl für Richard als auch für Elisabeth etwas Außergewöhnliches.

In den ersten Tagen und Wochen nach ihrer Geburt war der Sohn des Fürsten immer wieder andächtig um seine Schwester herumgeschlichen, um sich davon zu überzeugen, dass es das kleine Mädchen auch tatsächlich gab und sie immer noch da war. Später trug er sie stundenlang herum und als Anna bereits laufen konnte, stolperte sie ihrem Bruder den ganzen Tag hinterher, wohin er auch ging. Die Amme des Mädchens wurde überflüssig und Elisabeth entließ die Frau wenig später. Es gab nichts, das Markus für seine Schwester nicht getan hätte. Er war gerade einmal zehn Jahre alt gewesen, als er angefangen hatte, sich für sie bestrafen zu lassen, und in einem sehr harten Winter, als es kaum noch Vorräte in den Kammern gegeben hatte, hatte sich der Sohn des Fürsten über einige Zeit hinweg geweigert zu essen und seinen Teil an das kleine Mädchen weitergegeben.

„Weshalb machst du solch einen Unsinn?“, fragte Richard, nachdem er sich das Ganze einige Tage lang angesehen hatte.

„Damit Anna nicht verhungert“, erwiderte sein Sohn.

„Und deswegen willst du selbst sterben?“, erkundigte sich der Fürst kopfschüttelnd.

„Wenn es sein muss.“ Markus zuckte lediglich mit den Schultern. „Besser ich als sie.“

Doch Richard knallte die Schüssel vor ihm auf den Tisch. „Du isst jetzt!“, befahl er. „Ansonsten rufe ich ein paar Soldaten und lasse es dir reindrücken.“ Dann zwang er seinen Sohn auf einen Stuhl nieder und stand mit verschränkten Armen neben ihm, bis dieser tatsächlich alles aufgegessen hatte.

Beinahe hätte Markus schallend gelacht, als er an diese alte Geschichte denken musste, doch er verbiss es sich aus Rücksicht auf seine Schwester, die neben ihm lag. Stattdessen griff er nach Annas Hand und nach einer Weile schlief er schließlich ein.

„Ich habe Euch das Frühstück gebracht.“ Walter schloss die Tür hinter sich. „… oder hattet Ihr vor, zum Essen in die Halle hinab zu kommen?“

„Nein.“ Markus schüttelte den Kopf und warf einen Blick in den Spiegel auf seine entsetzlichen Verletzungen. Dann sah er zu dem Holzbrett in Walters linker Hand hinüber. „Danke. Stellt es einfach irgendwo ab.“ Er wies vage durch den Raum.

Richards Ziehbruder ging zum Tisch hinüber. Doch der Sohn des Fürsten rührte das Essen nicht an.

„Ich wollte Euch etwas fragen“, begann Walter. „Ist es Euer Wunsch, dass ich nach Judith schicke? Oder soll ich Eurer Verlobten zumindest die Nachricht zukommen lassen, dass Ihr wohlbehalten zurückgekehrt seid?“

Markus schwieg. „Judith“, wiederholte er schließlich leise, während er sich darum bemühte, sich an das blasse und dürre Mädchen zu erinnern, das seine Gattin werden sollte. Doch ihr Abbild blieb unscharf, überdeckt von dem einer schönen Frau mit rotblondem Haar. Schließlich antwortete er: „Nein, noch nicht. Judith wird sich niemals davon abhalten lassen, nach Bernadette zu kommen, sobald sie erfahren hat, dass ich zurückgekehrt bin und ich möchte ihr in diesem Zustand nicht begegnen.“

„Das verstehe ich nur allzu gut.“ Richards Ziehbruder nickte.

Markus sah ihn an. „Walter“, sagte er langsam, „wir vertun unsere Zeit. Lasst uns augenblicklich einen Trupp zusammenstellen und zu jener Ruine im Wald aufbrechen, um Richard zu befreien und …“

Doch der Ziehbruder des Fürsten hob abwehrend die Arme. „Macht einmal halblang“, erwiderte er mit Bestimmtheit. „Mit wie vielen gut bewaffneten Männern müssten wir Eurer Ansicht nach dort draußen im Wald rechnen?“

Markus hob die Schultern. „Das vermag ich nicht zu sagen“, lautete seine Antwort. „Aber es sind viele, sehr viele, das ist in jedem Fall gewiss. Dennoch …“

Walter aber blickte ihn fest an. „Markus, ich kann gut verstehen, wie Euch zumute ist“, sagte er leise. „Ihr seid nicht der Einzige, dem diese Angelegenheit keine Ruhe lässt. Richard war so etwas wie mein Bruder und darüber hinaus mein engster Freund. Ich habe die ganze Nacht damit zugebracht, eine Lösung zu finden, aber ich fürchte, es gibt keine. In jedem Fall wäre es blanker Wahnsinn, uns auf einen Kampf mit jenen Männern einzulassen, wenn wir nicht einmal wissen, wie viele es sind. Noch dazu im Wald, wo sie uns allemal überlegen sind und uns jederzeit aus dem Dickicht heraus niederschießen könnten. Ja, wenn es möglich wäre, sie auf eine Ebene zu locken …“

„So wollt Ihr Euren Bruder und engsten Freund also seinem Schicksal überlassen?“ Der Sohn des Fürsten kam drohend einen Schritt auf den Mann zu.

Walter schüttelte den Kopf. Er wirkte beinahe verzweifelt. „Richard ist längst nicht mehr am Leben!“, wiederholte er dann seine Aussage vom Vorabend.

„Und wenn doch?“ Markus’ Stimme war schneidend kalt.

„Nun, dann …“ Der Mann schwieg einen Moment. „Dann sehe ich dennoch keine Möglichkeit für uns, ihn zu befreien.“

Mit einer heftigen Bewegung seines Unterarmes räumte Annas Bruder das Holzbrett vom Tisch und einiges ging dabei zu Bruch. „Und warum nicht?“, schrie er. „Sagt mir wenigstens Euren gottverdammten Grund! Wir haben doch einen Haufen Soldaten, die …“

„… die wir dringend hier auf der Burg brauchen“, vollendete Walter. „Wenn Ihr Recht habt und diese Wahnsinnigen dort draußen es tatsächlich auf Bernadette abgesehen haben, dann beobachten sie uns mit Sicherheit und warten nur darauf, dass wir einen Fehler machen. Wir dürfen es in keinem Fall riskieren, auch nur einen Teil der Söldner von der Burg abzuziehen.“ Der Mann war bei seinen Worten recht laut geworden.

„Dann lasst uns mit einem Trupp von Bauern in den Wald ziehen!“, befahl Markus kalt.

Walter lachte beinahe. „Mit einem Bauerntrupp?“, spottete er. „Das ist doch absurd! Die meisten von ihnen haben seit Jahren keine Waffen mehr in den Händen gehalten. Wollt Ihr etwa mit ansehen, wie ein Haufen geübter Krieger Eure Bauern abschlachtet?“

Markus senkte den Blick.

„Wenn Ihr Eure Abhängigen dazu zwingt, Euch in dieser Angelegenheit zu unterstützen und Ihr leichtfertig mit ihrem Leben spielt, dann wird es ein für allemal vorbei sein mit dem Frieden auf Eurem Land, um den sich Richard jahrzehntelang bemüht hat.“ Walter schien wütend. „Und hört endlich auf, Euch selbst als den großen Heerführer darzustellen. In der Verfassung, in der Ihr Euch im Moment befindet, könnt Ihr vermutlich noch nicht einmal ein Schwert halten, geschweige denn, einen stundenlangen Ritt zu jener Ruine mit nachfolgendem Kampf auf Euch nehmen.“

Markus schüttelte vor Zorn und Verzweiflung den Kopf und er begann wieder, wie ein Tier von einer Wand zur anderen zu hasten.

Richards Ziehbruder beobachtete ihn eine Weile mit zusammengekniffenen Augen. „Die einzige Möglichkeit, die wir haben, besteht darin, eine Verstärkung unserer Truppen anzufordern“, sagte er schließlich.

Der Sohn des Fürsten hielt inne und wandte sich ihm zu. „Eine Verstärkung?“, fragte er. „Und woher?“

Walter hob die Schultern. „Von Richards Vasallen“, lautete seine Antwort.

Markus verzog das Gesicht. „Mit Heinrichs fünf Soldaten kann ich nicht viel anfangen. Und Ihr wisst selbst, wie weit entfernt all die anderen leben.“

„Nun, dann lasst es bleiben!“, giftete Richards Ziehbruder, der wohl allmählich die Geduld mit dem Sohn des Fürsten verloren hatte.

„Was seid Ihr so empfindlich?“, zankte Markus zurück. „Kümmert Euch darum! Aber macht deutlich, wie dringend wir die Verstärkung brauchen!“, befahl er anschließend.

Walter nickte. „Ich werde mich darum kümmern“, versprach er. „Und bis dorthin sollten wir alles dafür tun, um die Burg bestmöglich zu sichern und den Bewohnern keine unnötige Angst einzujagen.“

Annas Bruder hatte erneut angefangen, ruhelos in seinem Zimmer auf und ab zu gehen. Und wieder beobachtete ihn Richards engster Freund aufmerksam.

„Oh Gott!“, stieß Markus irgendwann hervor. „Wenn ich daran denke, wie lange das dauern wird, bis die Verstärkung hier ist, dann …“

„Markus.“ Walter trat ein paar Schritte an ihn heran. „Nutzt die verbleibende Zeit, um wieder zu Kräften zu kommen. Und nehmt Euren Verstand zusammen. Ich brauche Eure Unterstützung und Ihr seid mir keine Hilfe, wenn Ihr Euch aufführt, wie …“

„Wisst Ihr was?“ Markus blickte ihn nahezu hasserfüllt an. „Verschwindet endlich aus meinem Zimmer! Ich ertrage Euch nicht mehr. Und sorgt gefälligst dafür, dass sich die Lehnsmänner meines Vaters den Arsch für ihren Herrn aufreißen!“

Nur einen Augenblick später stand Walter kopfschüttelnd auf dem Gang. „He, du!“, hielt er einen der vorübereilenden Dienern auf. „Lauf’ runter ins Dorf und bring deinem Herrn eine Hure.“ Er drückte dem Mann ein Geldstück in die Hand. „Nein, besser zwei.“ Richards Ziehbruder legte noch einmal nach. „Der ist ja ansonsten nicht auszuhalten.“

Nachdem Richard den Erzieher seines Sohnes entlassen hatte, wurde Markus’ Ruhelosigkeit so quälend und allgegenwärtig, dass er sogar oft des Nachts keinen Schlaf mehr fand. Einmal wälzte er sich stundenlang auf seinem Lager hin und her, bis er schließlich aufstand und sein Pferd aus dem Stall holte. Eigentlich hatte Markus in den Wald hinein reiten wollen, doch dann fand er sich zu seiner eigenen Verblüffung vor dem Eingang eines Frauenhauses wieder. Es kostete ihn nicht einmal einen Augenblick Überwindung, in jenes Gebäude einzutreten und als er nach einigen Stunden auf die Burg zurückkehrte, war er sehr ruhig und konnte zum ersten Mal seit vielen Wochen wieder ohne Schwierigkeiten einschlafen. Auch in den folgenden Tagen schien der Sohn des Fürsten ausgeglichen, er verhielt sich maßvoll und geriet eine ganze Zeitlang mit niemandem mehr in Streit. Von da an begann Markus, sehr regelmäßig in die Dörfer zu reiten.

Er war allerdings nicht der Einzige, der die Dienste jener Frauen in Anspruch nahm. Nahezu alle jungen Burschen der Burg gingen hin und wieder in die Dörfer hinunter, ebenso wie Richards Söldner und ein Großteil der anderen Dienstkräfte, ob unverheiratet oder auch nicht. Doch mit Abstand ging niemand so häufig wie Markus. „Du!“, sagte er und zeigte wahllos auf irgendeine der Frauen. Und sie entgegnete mit einem Grinsen: „Schon wieder?“, kannten doch alle bereits den schier unersättlichen Sohn des Herrn.

Allerdings wäre es falsch gewesen zu behaupten, dass Markus jene Orte lediglich zu seinem Vergnügen aufsuchte, so wie es die anderen taten. Nein, er musste gehen, weil die Besuche der Frauenhäuser die einzige Möglichkeit für ihn waren, das wilde Tier der Ruhelosigkeit in seine Gewalt zu zwingen. Aber weil die Wirkung der Besuche nur von einer kurzen Dauer war, stand Markus oftmals bereits in der folgenden Nacht wieder vor einem der Häuser. Stets bevorzugte er die ehrlichen Huren, diejenigen, die ihm nichts vormachten. Bei ihnen zahlte er, bekam, was er wollte, und konnte wieder gehen, ohne sich weiter um irgendetwas kümmern zu müssen. Er blieb diesen Frauen nichts schuldig und sie ihm ebenso wenig und wenn er sich bereits eine halbe Stunde später nicht mehr an das Gesicht der Betreffenden erinnern konnte, hatte er noch nicht einmal ein schlechtes Gewissen deswegen.

Wie angenehm war dies im Vergleich zu seinen Begegnungen mit irgendwelchen Dienstmädchen, zu denen es im Lauf von Markus’ früher Jugend hin und wieder gekommen war. Nur mit Mühe konnte er sich an Einzelheiten entsinnen, doch nach dem, was ihm davon im Gedächtnis geblieben war, war es eine entsetzliche Mischung aus Heimlichkeit, Scham und Hetze gewesen. Bei manch einem dieser Mädchen war er sich im Nachhinein nicht einmal mehr sicher gewesen, ob sie sich mit ihm überhaupt aus freien Stücken eingelassen hatte oder nur deswegen, weil sie glaubte, sich ihm nicht verweigern zu dürfen. Andere hatten ihn mit vollkommen unangemessener Zuneigung überschüttet, die Markus rasch zu viel geworden war. Nachdem er die beruhigende Wirkung, die ein Besuch in den Frauenhäusern auf ihn ausübte, zum ersten Mal erfahren hatte, ließ sich der Sohn des Fürsten niemals wieder mit einer anderen Frau ein.

Novembergrab

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