Читать книгу Polyamorie - Herzen zwischen Erfolg und Hoffnung - Sina Muscarina - Страница 6

1. Sozio-kultureller Hintergrund 1.1. Primat der Bindung

Оглавление

In ihren „Streifzügen durch die Sittengeschichte“ betonen von Bredow & Noetzel (1990), dass politische Ordnungen immer auch die Sexualität regulieren: Was man darf und was verboten ist, wird in gesellschaftlichen Diskursen bestimmt. Die Regelungen im Sozialen beginnen mit der Regulierung der Sexualität. So gehören als Beispiel das Inzest-Tabu und andere Normierungen des Fortpflanzungsverhaltens zur Basis sozialer Normen.

Michel Foucault beleuchtet das Thema Sexualität aus einer historischen Perspektive. Er ist diskursanalytisch orientiert und seine Analysen gehen geschichtlich vor. In seinem 1976 veröffentlichten Werk „Der Wille zum Wissen“ charakterisiert er die historische Entstehung des „Dispositiv[s] der Sexualität“ (Foucault 1983, p. 95). Foucault zeichnet die Diskurse über Sexualität geschichtlich innerhalb Europas nach.

Mit dem Begriff „Diskurs“ benennt Foucault unter anderem verstrickte Machtbeziehungen:

„Eben weil sich Macht und Wissen im Diskurs ineinander fügen, ist dieser als eine Serie diskontinuierlicher Segmente zu betrachten, deren taktische Funktion weder einheitlich noch stabil ist. Genauer: die Welt des Diskurses ist nicht zweigeteilt zwischen dem zugelassenen und dem ausgeschlossenen oder dem herrschenden und dem beherrschten Diskurs. Sie ist als eine Vielfältigkeit von diskursiven Elementen, die in verschiedenartigen Strategien ihre Rolle spielen können, zu rekonstruieren.“ (Foucault 1983, p. 122)

Nach Foucault lassen sich vom 18. Jahrhundert an, „vier große strategische Komplexe […] unterscheiden, die um den Sex spezifische Wissens- und Machtdispositive entfalten.“ (Foucault 1983, p. 125) Diese Komplexe sind nicht gleichzeitig entstanden, sie verfolgen auch kein einheitliches Ziel, sondern sie haben sich im Laufe der Jahrhunderte zu einem dynamischen Machtkomplex zusammengefügt.

Die vier Dispositive, die Foucault aufdeckt, sind folgende:

„Die Hysterisierung des weiblichen Körpers ist ein dreifacher Prozess: der Körper der Frau wurde als ein gänzlich von Sexualität durchdrungener Körper analysiert – qualifiziert und disqualifiziert; aufgrund einer ihm innewohnenden Pathologie wurde dieser Körper in das Feld der medizinischen Praktiken integriert; und schließlich brachte man ihn in organische Verbindung mit dem Gesellschaftskörper […], mit dem Raum der Familie […], und mit dem Leben der Kinder […]:“ (Foucault 1983, p. 126)

Neben der Hysterisierung des weiblichen Körpers ist ein zweiter Wissens- und Machtkomplex entstanden, der kindliche Sexualentwicklung anvisiert:

„Die Pädagogisierung des kindlichen Sexes geht von der zweifachen Behauptung aus, dass sich so gut wie alle Kinder sexueller Aktivität hingeben oder hingeben können und dass diese ungehörige (sowohl ,natürliche‘ wie auch ,widernatürliche‘) sexuelle Betätigung physische und moralische, kollektive und individuelle Gefahren birgt;“ (Foucault 1983, p. 126)

Als dritten Bereich arbeitet Foucault die Sektoren Ökonomie, Politik und Medizin heraus, die sich zu Institutionen entwickeln, welche Sexualität als Fortpflanzungsverhalten regulieren:

„Die Sozialisierung des Fortpflanzungsverhaltens vollzieht sich als ökonomische Sozialisierung über ,soziale‘ oder steuerliche Maßnahmen, welche die Fruchtbarkeit der Paare fördern oder zügeln; als politische Sozialisierung durch Weckung der Verantwortlichkeit gegenüber dem gesamten Gesellschaftskörper […]; als medizinische Sozialisierung, die den Praktiken der Geburtenkontrolle krankheitserregende Wirkungen für Individuum und Art zuschreibt.“ (Foucault 1983, p. 127)

Und schließlich wird der Fokus wieder auf die Medizin geleitet, die unterscheidet, was normale und was pathologische Sexualität ausmacht:

„Und schließlich die Psychiatrisierung der perversen Lust: der sexuelle Instinkt ist als autonomer biologischer und psychischer Instinkt isoliert worden; alle seine möglichen Anomalien sind isoliert worden; man hat ihm eine normalisierende und pathologisierende Rolle für das gesamte Verhalten zugeschrieben; schließlich hat man nach einer Korrekturtechnik für diese Anomalien gesucht.“ (Foucault 1983, p. 127)

Für meine Arbeit ist Foucault insofern relevant, als er den historischen Rahmen absteckt, in dem die Diskurse über Sexualität angesiedelt sind. Er zeigt, dass unter anderem Medizin, Psychologie und Psychotherapie die relevanten Disziplinen sind, deren Worte zum Thema Sexualität Bedeutung haben. Dabei ziehen diese Wissens- und Machtkomplexe nicht an einem einheitlichen Strang, sondern sie streiten innerhalb ihrer Disziplin genauso wie untereinander, sie gehen strategische Schulterschlüsse ein und lösen diese wieder, und sie reflektieren oft die vielfältigen Machtverflechtungen nicht, in denen sie verstrickt sind.

Nach dem Erscheinen von Foucaults „Der Wille zum Wissen“ (1976) gab es einige sexualpolitische Entwicklungen. In den westlichen Staaten gab es einerseits Liberalisierungstendenzen, die eine ökonomisch-rechtliche Gleichstellung von nichtverheirateten Paaren genauso ermöglichte wie die homosexueller Paare, andererseits blieben bestimmte Ideale wie die der Monogamie und der Fixierung von biologischem Geschlecht und Geschlechtsidentität weitgehend unangetastet. Die Fixierung von biologischem Geschlecht und Geschlechtsidentität zeigt sich beispielsweise bei Transvestismus und Transsexualität. In verschiedenen Cultural Studies (Vgl. Marchart 2008, Posner 1993) setzen sich die Autoren ausführlich mit den Phänomenen Transvestismus und Transsexualität auseinander. Wie Posner (1993) betont, existiere das Phänomen des Transvestismus nur, weil die Gesellschaft einen unterschiedlichen Dress-Code für Männer und Frauen vorschreibe. Würden Männer auch Kleider tragen dürfen, gäbe es die Kategorie „Transvestismus“ nicht.

Die Ordnung der Menschen in die Dichotomie von männlich und weiblich und die Paarbildung von Menschen unterschiedlichen Geschlechts (Heterosexualität) sind fundamentale Elemente unserer Konstruktion einer gesellschaftlichen Realität, ebenso wichtig zeigen sich stabile sexuelle Identitäten. Diese gesellschaftliche Realität fürchtet Transvestismus, Hermaphroditismus und Homosexualität, weil sie die Fundamente unserer gesellschaftlichen Realität öffentlich in Frage stellen (vgl. Posner 1993).

Welches Sexualverhalten eine Gesellschaft als normal etikettiert, hat immer auch mit der Öffentlichkeit unterschiedlicher sexueller Anschauungen zu tun:

„Herstellung von Öffentlichkeit lag immer im Interesse von sexualpolitisch unzufriedenen Minoritäten, deren stärkste unzweifelhaft die weiblichen Menschen gewesen sind. Was öffentlich geworden ist, kann als normal betrachtet werden. Uns liegt an der Normalität als einem radikalen Zustand der Vergesellschaftung, der Schluss macht mit der Einsamkeit, in der ich mich allein, als pervers, nymphoman oder gar verrückt definieren müsste.“ (Katharina Rutschky 1984, zit. nach von Bredow & Noetzel 1990, p. 45)

In diesem Sinne verstehe ich die vorliegende Arbeit unter anderem auch als Beitrag zur Herstellung von Öffentlichkeit für die Anliegen der Menschen, die Polyamorie als Liebesstil leben und vertreten.

Polyamorie - Herzen zwischen Erfolg und Hoffnung

Подняться наверх