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ОглавлениеDie Nachmittags- und Abendpredigten – das waren die Höhepunkte der Meetings, wenn Sharon laut, mit ausgestreckten Armen, rief: »Freilich ist der Herr an diesem Ort, und ich wußte es nicht«, »All unsere Rechtschaffenheit ist wie schmutzige Lumpen«, »Wir haben gesündigt und gehen der Herrlichkeit Gottes verlustig«, »Oh, daß der Mensch sich in mir erhebt, daß der Mensch, der ich bin, aufhören möchte zu sein«, »Macht eure Rechnung mit Gott« und »Ich schäme mich nicht des Evangeliums Christi, denn es ist die Kraft Gottes zum Heile«.
Aber schon bevor diese garantierten Anrufungen sündige Herzen erreichen konnten, hieß es die Gefühlsbewegungen des Publikums vorbereiten, und zu diesem Zweck war viel zu erledigen, bevor Sharon mit ihrer Redekunst in Aktion trat, ebenso, wie Garderoben, Coulissenschieber und Eintrittskassen vor der Wahnsinnsszene der Lady Macbeth ihre Arbeit tun müssen. Ein großer Teil dieser Vorbereitungen gehörte zu Elmers Obliegenheiten.
Sobald Sharon ihn eingeübt hatte, nahm er sich der »persönlichen Arbeit« an. Die Mädchen überließ er der Direktrice für persönliche Arbeit, einer jungen Frau, die gern tanzte und eine Schwäche für Glasschmuck hatte, es aber trefflich verstand, den Bekenntnissen alter Jungfern zu lauschen. Seine Arbeiter waren Bankkassengehilfen, Buchhalter von Kolonialwarengeschäften, Kommis aus Schuhläden, Handfertigkeitslehrer. Sie nahmen sich Läden, Lagerhäuser und Fabriken vor und hielten in Bureaux Mittagsandachten ab, bei denen sie erklärten, auch die allergrößte Fertigkeit im Stenographieren bewahre einen nicht vor der Wahrscheinlichkeit der Hölle. Elmer erklärte nämlich, die Bekehrungsaussichten seien größer, wenn die Leute in gehöriger Furcht zu den Meetings kämen.
Wenn es ihnen gestattet wurde, gingen die Arbeiter von Tisch zu Tisch und sprachen mit jedem Opfer einzeln über die heimlichen Sünden, die ja mit einiger Gewißheit bei jedem vorauszusetzen waren. Und sowohl Arbeiter wie Arbeiterinnen mußten die bescheideneren Häuser aufsuchen und sich erbieten, mit der verlegenen mehlbestäubten Frau, dem pfeifeschmauchenden, schuhlosen Mann niederzuknien und zu beten.
Über alle statistischen Daten der persönlichen Arbeit – soundsoviel Seelen eingeladen, zum Altar zu kommen, soundsoviel Ansprachen an Arbeiter bei ihren Essenkannen, soundsoviel Hausgebete und ihre Länge – wurde von Elmer und der Direktrice für persönliche Arbeit Buch geführt und daraus mit einiger Phantasie die Bilanz gezogen, die Sharon als Bericht nach den Meetings und als Ausgangspunkt für die Chancen künftiger Meetings war.
Elmer hatte mit Adelbert Shoop, dem schmachtenden, einfältigen Tenor, der mit der Musikleitung betraut war, täglich eine Zusammenkunft, um die Hymnen auszuwählen. Manchmal mußte man singen: »Sanft und zärtlich rufet Jesus«, um das Publikum in Zutrauen einzulullen, manchmal war es notwendig, ein Gefühl primitiver Brüderlichkeit in ihnen zu erwecken; dann sang man:
»Es ist die gute alte Religion –
Sie war gut genug für Paul und Silas
Und ist gut genug für mich –;«
und manchmal hatte man sie mit Melodien wie »Am Kreuze« oder »Vorwärts, christliche Soldaten« anzufeuern. Adelbert machte sich Gedanken über etwas, was er »Anbetung durch Lieder nannte,« doch Elmer war der Ansicht, der wahre Zweck des Singens sei, das Publikum in eine geistige Verfassung zu bringen, in der es alles tun muß, was man von ihm verlangt.
Er lernte, auf der Schreibmaschine mit zwei Fingern Briefe zu schreiben, und erledigte Sharons Post – das heißt, was sie ihn davon sehen ließ. Er führte auf Scheckbuch-Kontrollblättern Buch für sie, salopp, aber hinreichend. Er schrieb allabendlich die Geschichte ihrer Predigten, die von den Zeitungen zusammengestrichen und zwischen Berichte von bemerkenswerten Bekehrungen hineingestopft wurde. Er redete mit Kirchensäulen, die so reich und moralisch waren, daß ihre eigenen Pastoren Angst vor ihnen hatten. Und er erfand ein neues Hilfsmittel zum Heil, das bis zum heutigen Tage bei den mehr evangelistischen Meetings in Gebrauch ist; allerdings wird es Adelbert Shoop zugeschrieben.
Adelbert verstand sich auf die meisten Belustigungen, die im Schwange waren. Er trieb Männer und Frauen an, »gegeneinander« zu singen. In dem spannenden Augenblick, da Sharon nach Bekehrten rief, sprang Adelbert zwischen den Bänken entlang, dick, aber behend, rosig und schüchtern lächelnd, klopfte den Leuten auf die Schulter, sang mitten unter ihnen den Chor eines Liedes mit und kehrte oft mit drei oder vier durch das Schwert des Herrn Gefangenen zurück, seine dicken Arme schwingend und jubelnd: »Sie kommen – sie kommen« – dann entstand immer eine wilde Jagd zum Altar.
Adelbert, in seiner mädchenhaften Begeisterung, konnte fast ebensogut wie Sharon oder Elmer verkünden: »Heute abend sollt ihr alle Evangelisten sein, jeder einzelne von euch! Drückt Eurem Nachbarn zur Rechten die Hand und fragt ihn, ob er gerettet ist.«
Er weidete sich an ihrer Verlegenheit.
Er hatte wirklich Talente. Nichtsdestoweniger war es Elmer, nicht Adelbert, der den »Halleluja-Ruf« erfand.
Elmer erinnerte sich seines College-Rufs, besann sich darauf, wie dieser ihn angespornt hatte, dem gegnerischen Stürmer das Knie in den Leib zu stoßen oder den feindlichen Zenter gegen das Knie zu treten, und sagte sich: »Warum sollen wir hier nicht auch Rufe haben?«
Er selbst schrieb den ersten in der Geschichte bekannten.
Halleluja, lobet Gott, hal, hal, hal!
Halleluja, lobet Gott, hal, hal, hal!
Schon fühle ich mich stärker,
Hal, hal, hal,
Zur Errettung der Nation –
Aaaaaaaaaaaa-men!
Das ließ sich hören, wenn Elmer vorsang; wenn er vor allen einhertanzte, seine starken Arme schwenkte und brüllte: »Noch einmal! Zwei Yards noch! Zwei Yards für den Heiland! Vorwärts, Jungens und Mädels, unsere Mannschaft! Wollt ihr sie im Stich lassen? Nicht ums Verrecken! Vorwärts also, ich will sehen, daß das alte Dach von eurem Singen einstürzt! Hal, hal, hal!«
So mancher zaudernde junge Mensch, den die intensive Weiblichkeit von Sharons Beschwörungen ein wenig angewidert hatte, wurde auf diese Weise zur Tribüne gebracht, um mit Elmer einen Händedruck zu tauschen und die Segnungen der Religion kennenzulernen.