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ОглавлениеGrauer Stahl, der unbewegt erscheint, weil er sich so rasch im ausgewuchteten Schwungrad dreht, grauer Schnee in einer Ulmenallee, graue Dämmerung, hinter der die Sonne steht – das war das Grau von Vidas Leben, als sie neununddreißig Jahre alt war.
Sie war klein, lebhaft und bleich; ihr gelbes Haar war farblos und sah trocken aus; ihre blauen Seidenblusen, bescheidenen Spitzenkragen, hohen, schwarzen Schuhe und Matrosenhüte waren pedantisch und reizlos wie ein Schulzimmerpult; aber ihre Augen bestimmten die Erscheinung, zeigten, daß sie eine Persönlichkeit und eine Kraft war, verrieten ihren Glauben an das Gutsein und die Zweckhaftigkeit aller Dinge. Diese Augen waren blau und standen nie still; sie drückten Belustigung, Mitleid, Begeisterung aus. Hätte man sie schlafend gesehen, wenn die Fältchen an ihren Augen in Ruhe waren und die gerunzelten Lider die strahlende Iris verbargen, dann hätte sie ihre Macht verloren.
Sie war in einem hügeligen Wisconsin-Dorf geboren, wo ihr Vater ein langweiliges Landpastorat innehatte; sie arbeitete sich durch ein frömmelndes College; sie unterrichtete zwei Jahre in einem Städtchen voller Tataren und Montenegriner und Unmengen von Eisenerz, und als sie nach Gopher Prairie kam, riefen die Bäume und die schimmernde Geräumigkeit der weizenbewachsenen Prärie in ihr die Gewißheit wach, sie sei im Paradies.
Sie lehrte Französisch, Englisch und Geschichte und hatte die zweite Lateinklasse, die sich mit Dingen metaphysischer Natur, genannt Indirekte Rede und Ablativus absolutus, beschäftigte. Jedes Jahr gewann sie von neuem die Überzeugung, daß die Schüler anfingen, schneller zu lernen. Sie wendete vier Winter daran, die Debattiergesellschaft aufzubauen, und als die Debatten dann tatsächlich an Freitagnachmittagen stattfanden und die Sprecher ihre Konzepte nicht vergaßen, fühlte sie sich belohnt.
Sie lebte ein Leben, das ganz von Nützlichkeit in Anspruch genommen war, und schien so kalt und unkompliziert zu sein wie ein Apfel. Aber insgeheim bewegte sie sich zwischen Angstgefühlen, Sehnsüchten und Schuldbewußtsein. Sie wußte, was es war, wagte aber nicht, es beim Namen zu nennen. Schon der Klang des Wortes »Geschlecht« war ihr verhaßt. Wenn sie träumte, eine Haremsfrau zu sein, mit großen weißen, warmen Gliedern, erwachte sie zu einem Schaudern, hilflos im Dunkel ihres Zimmers. Sie betete zu Jesus, immer zum Sohn Gottes, weihte ihm die furchtbare Gewalt ihrer Anbetung, nannte ihn den ewigen Bräutigam, wurde leidenschaftlich, begeistert, groß, wenn sie seine Herrlichkeit betrachtete. So konnte sie es ertragen, überstehen.
Tagsüber, in ihren vielen Tätigkeiten geschäftig, war sie imstande, sich über ihre höllisch dunklen Nächte lustig zu machen. Mit gemachter Heiterkeit verkündete sie allerorten: »Ich bin wohl eine geborene alte Jungfer«, »Eine einfache Schulmamsell wie mich wird nie im Leben ein Mensch heiraten«, und: »Ihr Männer, ihr großen, dicken, lauten, lästigen Geschöpfe, wir Frauen würden euch gar nicht dulden und uns nicht die netten, sauberen Zimmer von euch verschmutzen lassen, wenn ihr nicht gehätschelt und geführt werden müßtet. Wir würden ganz einfach ›Ksch!‹ machen und euch alle davonjagen!«
Aber wenn ein Mann sie beim Tanzen an sich preßte, sogar wenn »Professor« George Edwin Mott ihr bei Betrachtungen über die Ungezogenheit Cy Bogarts väterlich die Hand tätschelte, erbebte sie und dachte voll Stolz daran, daß sie sich ihre Jungfräulichkeit erhalten hatte.
Im Herbst 1911, ein Jahr bevor Dr. Will Kennicott heiratete, war Vida seine Partnerin bei einem Bridgeturnier auf fünf Rubber. Damals war sie vierunddreißig, Kennicott etwa sechsunddreißig. Für sie war er ein erhabenes, jungenhaftes, amüsantes Wesen, alle Heldeneigenschaften in einem männlich prachtvollen Körper. Sie hatten der Gastgeberin beim Herumreichen von Waldorf-Salat, Kaffee und Kuchen geholfen. Sie saßen in der Küche Seite an Seite auf einer Bank, während die anderen gewichtig im Zimmer nebenan speisten.
Kennicott war männlich und neugierig auf sie. Er streichelte Vida über die Hand, legte nachlässig seinen Arm um ihre Schulter.
»Nicht!« sagte sie scharf.
»Sie sind eine hübsche Person«, meinte er, ihr tastend auf den Rücken klopfend.
Während sie sich wegbog, sehnte sie sich danach, näher an ihn heranzurücken. Er beugte sich zu ihr hinüber und sah sie wissend an. Sie blickte zu seiner linken Hand hinunter, die ihr Knie berührte. Dann sprang sie auf und begann lärmend, völlig überflüssigerweise, Geschirr abzuwaschen. Er war zu träge, um dem Abenteuer weiter nachzugehen – und in seinem Beruf zu sehr an Frauen gewöhnt. Sie war ihm für die Unpersönlichkeit seiner Unterhaltung dankbar. So konnte sie wieder die Herrschaft über sich gewinnen. Sie wußte, daß sie ganz nahe an ausschweifenden Gedanken gewesen war.
Einen Monat später, bei einer Schlittenpartie, als er mit ihr unter den Büffelhautdecken saß, flüsterte er: »Sie tun so, als ob Sie eine erwachsene Schullehrerin wären, und sind doch nichts weiter als ein kleines Kind.« Sein Arm umfaßte sie.
Sie wehrte sich.
»Haben Sie den armen einsamen Junggesellen nicht ein bißchen gern?« schmachtete er einfältig.
»Nein! Ihnen liegt gar nichts an mir. Sie wollen sich nur an mir üben.«
»Das ist häßlich von Ihnen! Ich hab' Sie schrecklich gern.«
»Ich Sie nicht. Und ich will es auch gar nicht dazu kommen lassen.«
Er zog sie hartnäckig an sich. Sie packte seinen Arm. Dann warf sie die Decke ab, stieg aus und lief mit Harry Haydock dem Schlitten nach.
Das war ihr ganzes erstes Liebesabenteuer.
Er verriet mit nichts eine Erinnerung daran, daß er sie »schrecklich gern« hätte. Sie wartete auf ihn; sie schwelgte in Sehnsucht und in einem Schuldgefühl wegen ihrer Sehnsucht. Sie redete sich ein, sie wolle nicht einen Teil von ihm; wenn er ihr nicht seine ganze Zuneigung schenkte, würde sie sich nie von ihm berühren lassen; und als ihr bewußt wurde, daß sie wahrscheinlich log, glühte sie vor Verachtung. Im Gebet kämpfte sie es durch. In einem rosa Flanellnachthemd kniete sie nieder, das dünne Haar fiel ihr über den Rücken, ihre Stirne zeigte das Grauen einer tragischen Maske, während sie aus ihrer Liebe zum Gottessohn und der Liebe zu einem Sterblichen eins machte und nicht recht wußte, ob schon je vor ihr eine Frau so gelästert hätte. Sie wollte eine Nonne sein und ewig anbeten. Sie kaufte sich einen Rosenkranz, sie war aber in solcher Strenge als Protestantin aufgezogen worden, daß sie es nicht über sich bringen konnte, ihn zu gebrauchen.
Als Vida hörte, daß Kennicott ein hübsches junges Mädchen heiraten wollte, das noch dazu aus der Großstadt kam, verzweifelte sie. Sie gratulierte Kennicott und entlockte ihm nebenbei die Trauungsstunde. Um diese Stunde saß Vida in ihrem Zimmer und malte sich die Hochzeit in St. Paul aus. Voll von einer Ekstase, die sie entsetzte, folgte sie Kennicott und dem Mädchen, das ihr ihre Stelle gestohlen hatte, folgte ihnen in den Zug, durch den Abend, die Nacht.
Es wurde ihr leichter, als sie sich zu dem Glauben durchgerungen hatte, es sei nicht eigentlich schändlich von ihr, es bestehe eine mystische Beziehung zwischen ihr und Carola, die es ermöglichte, daß sie mittelbar und doch wirklich bei Kennicott sei und ein Recht darauf habe.
Sie sah Carola gleich nach ihrer Ankunft in Gopher Prairie. Sie starrte das vorüberfahrende Automobil an, in dem Kennicott und das Mädchen saßen. In dieser Nebelwelt der Gefühlsübertragung empfand Vida keine gewöhnliche Eifersucht, sie hatte die Überzeugung, seitdem sie Kennicotts Liebe durch Carola empfangen habe, sei diese ein Teil von ihr, ein Astral-Ich, ein erhöhtes und geliebteres Ich. Sie freute sich über den Charme des Mädchens, über ihr glattes schwarzes Haar, den ätherischen Kopf, die jungen Schultern. Aber plötzlich ärgerte sie sich. Carola blickte sie eine Viertelsekunde an, sah aber an ihr vorbei, auf eine alte Scheune neben der Straße. Wenn sie schon das große Opfer gebracht hatte, konnte sie zumindest Dankbarkeit und Anerkennung erwarten, raste Vida, während ihr bewußter Lehrerinnenverstand sie verworren bat, diesen Wahnsinn zu unterdrücken.
Bei ihrem ersten Besuch wollte eine Hälfte von ihr einen Menschen willkommen heißen, der sich gleichfalls für Bücher interessierte; und die andere Hälfte brannte darauf, zu erfahren, ob Carola etwas von Kennicotts früherem Interesse für sie selbst wüßte oder nicht. Wie sie erkannte, ahnte Carola nicht einmal, daß er je die Hand einer anderen Frau berührt hätte. Carola war ein amüsantes, naives, seltsam gelehrtes Kind. Während Vida auf das lebhafteste die Pracht und Herrlichkeit des Thanatopsis schilderte und der Bibliothekarin Carola Komplimente über ihre Arbeitsausbildung machte, stellte sie sich vor, dieses Mädchen wäre das Kind, das sie Kennicott geboren hätte; und aus dieser Symbolbildung zog sie einen Trost, der ihr seit Monaten fremd gewesen war. Als sie dann nach dem Abendessen mit den Kennicotts und Guy Pollock nach Hause kam, empfand sie eine plötzliche, nicht unangenehme Abkehr von der Zärtlichkeit. Sie lief in ihr Zimmer, schleuderte ihren Hut aufs Bett und schwatzte los: »Das ist mir egal! Ich bin fast genau so wie sie – nur ein paar Jahre älter. Ich bin auch leicht und rasch, und ich kann ebenso gut reden wie sie, und ich bin ganz sicher – Die Männer sind solche Narren. Ich könnt' ihn zehnmal so schön lieben wie dieses verträumte Baby. Und ich bin genau so hübsch wie sie!«
Allein, als sie auf dem Bett saß und ihre dünnen Schenkel anstarrte, verließ der Trotz sie allmählich. Sie wehklagte:
»Nein. Ich bin's nicht. Du lieber Gott, wie halten wir uns selber zum Narren! Ich behaupte, ich bin ›geistig‹. Ich behaupte, meine Beine sind hübsch. Sind sie gar nicht. Sie sind mager. Altjüngferlich. Es ist mir ekelhaft! Ich hasse diese impertinente junge Person! Eine egoistische Katze, die seine Liebe für selbstverständlich hält – Nein, sie ist zum Anbeten … Ich finde, sie sollte nicht so freundlich zu Guy Pollock sein.«
Ein Jahr lang liebte Vida Carola, sehnte sich danach, die Einzelheiten ihrer Beziehungen zu Kennicott auszuspionieren – tat es aber nicht – freute sich an ihrem Spieltrieb, der sich in kindischen Teegesellschaften auslebte, und ärgerte sich, da nun das mystische Band zwischen ihnen vergessen war, auf höchst gesunde Weise darüber, daß Carola annahm, sie sei ein soziologischer Messias, der gekommen sei, Gopher Prairie zu erlösen. Dieser letzte Teil von Vidas Gedankenkette wurde nach Ablauf eines Jahres am häufigsten beleuchtet. Sie brütete verdrossen: »Die Leute, die alles mit einemmal, ohne jede Arbeit, ändern wollen, gehen mir auf die Nerven! Ich muß mich vier Jahre hinstellen und arbeiten, die Schüler für Debatten aussuchen und abrichten, sie quälen, damit sie sich vorbereiten, sie bitten, sich selbst Themen zu wählen – vier Jahre, um zwei, drei gute Diskussionen zu bekommen! Und sie kommt rauschend daher und erwartet, sie könnte in einem Jahr die ganze Stadt in ein Bonbonparadies verwandeln, in dem kein Mensch mehr etwas anderes tut, als Tulpen züchten und Tee trinken. Und dabei ist es doch wirklich eine nette, gemütliche alte Stadt!« Aber trotzdem betrog sie sich nie, und immer wieder war sie zerknirscht.
Durch Hughs Geburt erwachte ihre transzendentale Gefühlswelt wieder. Sie war empört darüber, daß Carola nicht ganz davon ausgefüllt war, Kennicotts Kind geboren zu haben. Sie gab wohl zu, daß Carola das Kind zärtlich zu lieben und tadellos zu pflegen schien, aber sie begann jetzt sich mit Kennicott zu identifizieren und in dieser Phase zu empfinden, daß sie viel zu sehr unter Carolas Unbeständigkeit gelitten hätte.