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4. DAS THORJAN’SCHE PFERD

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Einar Ormsson, ein dänischer Jarl in Jütland, war niemals ein Mann schneller Entschlüsse. Bei den Zusammenkünften auf dem Thing war er immer der letzte der Jarle, der seine Meinung zu einem Streitfall äußerte. Auch in seiner Halle gab er erst einen Urteilsspruch ab, nachdem er sich gründlich damit beschäftigt hatte. Es wird sogar berichtet, dass er einst einer Hochzeit eines seiner Vasallen erst die Zustimmung gab, als dessen Braut bereits auf dem Kindbette gestorben war.

Einmal wäre beinahe sein gesamtes Gefolge verhungert, weil er sich nicht entscheiden konnte, welches Getreide er im Frühling aussäen lassen sollte.

Sogar sein erstgeborener Sohn soll erst einen Namen erhalten haben, als er bereits laufen konnte. Er nannte ihn schließlich Orm, nach seinem Vater.

Wenn man all diese Geschichten hört, verwundert es auch nicht, dass er sich erst dazu entschließen konnte, seine Schiffe auf Raubzug an ferne Ufer zu schicken, als seine Nachbarn bereits mit reicher Beute und strahlendem Ruhm heimgekehrt waren.

„Orm, mein Junge“, sagte er zu seinem Sohn, als der Herbst bereits die Blätter gelb färbte, „nimm ein paar meiner Schiffe, stelle eine gute Mannschaft zusammen und bring mir Schätze aus fernen Ländern, die unsere Nachbarn vor Neid erblassen lassen.“

Orm, der das genaue Gegenteil zu seinem Vater war, nämlich überaus schnell entschlossen und hitzköpfig, musste dazu nicht lange überredet werden. Schon am Abend desselben Tages hatte er eine schlagkräftige Mannschaft zusammengestellt, mit der er am Morgen des übernächsten Tages in See stach.

Ein Ziel war schnell ausgemacht. Nachdem in den letzten Sommern immer wieder die britannischen Inseln den Wikingern zum Opfer fielen, war allen klar, dass dort nicht mehr viel zu holen war. Dagegen berichteten viele Raubfahrer, dass sie diesen Sommer im Land der Franken und weiter südlich gute Beute gemacht hatten. Besonders den Fluss hinauf, den die Einheimischen Seine nannten, waren allen Anschein nach wahre Schätze zu holen.

Der Wind stand gut und so segelten sie wortwörtlich in Windeseile an den Küsten Sachsens, Frieslands und Asturiens entlang und erreichten ungehindert die Mündung der Seine. Von da an nahmen sie die Ruder zu Hilfe und kämpften sich gegen die Strömung den Fluss hinauf.

Schon bald kam der erste Kirchturm am Horizont in Sicht und die Vorfreude der Männer auf Kampf und Beute führte dazu, dass sie zum Takt der Ruderschläge ihre gefürchteten Kriegsgesänge anstimmten.

Noch bevor die Anwohner des Dorfes die Segel und Drachenköpfe der Langschiffe den Fluss hinaufkommen sahen, hörten sie die rauen Stimmen der Männer und hegten keinen Zweifel daran, wer sie heimzusuchen gedachte.

In wilder Panik flohen sie in die Wälder und ließen all ihr Hab und Gut und oft sogar ihre Kinder und Alten ungeschützt in den Häusern und Höfen zurück.

Zuerst waren Orm und seine Gefährten erzürnt über so viel Feigheit, doch dann beschloss man, das Gute an der Sache zu sehen und in aller Ruhe die Siedlungen zu plündern.

Es dauerte nicht lange, bis sie bemerkten, dass es nicht viel zu holen gab.

Ein paar Hühner, einige rostige Waffen und einen Haufen schmutziger Kleider waren alles, was sie finden konnten. Nicht einmal ein paar minderwertige Münzen ließen sich finden, geschweige denn Gold, Edelsteine oder zumindest kostbare Tücher oder Gewürze.

Thorjan der Weitgereiste, der seinen alten Freund Orm auf diesem Raubzug begleitete, beherrschte die Sprache der Einheimischen am besten und erfuhr von einem der zurückgelassenen Alten den Grund für diese Armut. Alleine in diesem Sommer war die Siedlung schon viermal von verschiedenen dänischen Wikingern geplündert worden.

Enttäuscht stiegen sie zurück auf ihre Schiffe und ruderten weiter flussaufwärts.

Doch in der nächsten Siedlung war ihr Erfolg aus denselben Gründen nicht besser. Wenigstens etwas Vieh fand man, was immerhin eine willkommene Abwechslung des Speiseplans brachte.

Doch da man auch in der dritten und vierten Siedlung, die man überfiel, keine nennenswerte Beute machen konnte und die kälter werdenden Nächte langsam aber sicher den nahenden Winter ankündigten, deutete alles darauf hin, dass dies der erfolgloseste Raubzug aller Zeiten werden könnte.

„Alle werden mich verspotten und über mich lachen!“, klagte Orm seinem Freund Thorjan auf dem ausgestorbenen Marktplatz der fünften und schon viele Male vorher geplünderten Siedlung. „Mein Vater wird zum ersten Mal in seinem Leben nicht lange nachdenken müssen und mich sofort nach unserer Rückkehr verstoßen.“

Thorjan wusste nicht, wie er ihn trösten sollte und war froh, als sie von einem der anderen Wikinger unterbrochen wurden, der seinem Anführer die Gefangenen vorführen wollte. Wie auch in den anderen Siedlungen handelte es sich wieder nur um Alte, Kranke und Kinder.

Wie üblich war es an Thorjan, die Einheimischen in ihrer Sprache zu befragen.

Nach allen Fragen über Gold, Schmuck und sonstigen Wertsachen, die wie zu erwarten keine erfreulichen Ergebnisse brachten, stellte er auch wieder die Frage nach der Häufigkeit der Überfälle in diesem Sommer.

Doch dieses Mal barg die Antwort eine Überraschung.

„Dreimal von euresgleichen“, antwortete einer der Alten, „und einmal von den Männern des Herzogs Herwigs.“

„Euer Herzog überfällt sein eigenes Volk?“, fragte Thorjan verwundert nach.

„Er ist kein wahrer Herzog, sondern nur ein Räuber und Mörder wie ihr!“, entfuhr es dem Mann. „Doch er ist weit und breit der reichste und mächtigste Mann am Ufer der Seine, weil noch keiner von euch Heiden das Kunststück fertig gebracht hat, seine Burg zu plündern!“

„Eine Burg voller Schätze die noch keiner geplündert hat?“

„Vergesst es, Nordmann! Keiner kommt dort ungebeten herein! Und nun schon gar nicht mehr!“

„Was meinst du damit?“, wollte Thorjan wissen,

„Die Ernte ist eingebracht und in der Burg verstaut“, erklärte der Alte. „Nicht mal eine längere Belagerung braucht Herweg zu fürchten.“

„Es gibt keine Mauer, die uns standhalten könnte!“

„Wenn du meinst.“ Der alte Mann hob gleichgültig die Arme. „Ihr könnt ja gerne euer Glück versuchen. Acht Meilen flussaufwärts. Ihr könnt sie nicht verfehlen. Vielleicht gelingt es euch, vielleicht findet ihr einen raschen Tod. Beides würde mich glücklich machen.“

Nachdem Thorjan Orm und den anderen von der ungeplünderten Burg erzählt hatte, fassten sie wieder neuen Mut.

Sofort bestiegen sie die Schiffe und ruderten den Fluss hinauf. Bald sahen sie die Zinnen der Burg über den Wipfeln der am Ufer stehenden Bäume.

„Das ist unser Ziel!“, rief Orm seinen Männern zu. „Ich schwöre bei Odin, dem Schutzherren meiner Sippe, dass ich nicht eher kehrtmachen werde, bis ich diesem Herwig das letzte Körnchen Gold unter dem Fingernagel weggekratzt habe.“

Doch als die Schiffe um die letzte Biegung herum waren und die Burg offen vor ihnen lag, bereute Orm seine leichtfertig dahin gesprochenen Worte, denn die Burg war ganz anders, als er es erwartet hatte. Sie schien wahrlich uneinnehmbar. Statt einfacher Mauern aus übereinander geschichteten behauenen Steinen, waren die Mauern dieser Burg steil zulaufende natürliche Felswände. So massiv und unüberwindlich, dass nicht einmal eine Horde Riesen sie niederzureißen vermocht hätte. Nur in einer kleinen Spalte zwischen den Felsen waren einige Steine gemauert worden, die ein riesiges hölzernes, mit Eisen beschlagenes zweiflügeliges Tor umfassten.

„Bei den Göttern“, fluchte Orm, „das ist keine normale Burg, das ist Hrimthurs Werk. Wie sollen wir dort hinein gelangen?“

„Das Tor steht noch auf!“, rief einer der Männer. „Vielleicht haben sie uns noch nicht bemerkt. Wenn wir uns eilen…“

„Unsinn!“, unterbrach ihn Orm. „Siehst du nicht die Männer auf der Mauer über dem Tor? Sie haben uns genauso gut gesehen, wie wir sie.“

„Doch warum schließen sie das Tor nicht?“, fragte sich Thorjan laut.

„Seht!“, rief ein anderer der Männer und zeigte auf den Waldrand zu ihrer Rechten.

Zwei Reiter und annähernd zehn Männer zu Fuß brachen aus dem Wald hervor und rannten so schnell sie konnten auf das Tor zu.

„Wer ist das?“, fragte einer der Wikinger.

„Mir scheint, sie waren auf der Jagd!“, meinte Orm. „Schneidet ihnen den Weg ab, vielleicht können sie uns noch nützlich sein.“

Sofort setzten sich die Nordmänner in Bewegung.

Natürlich gelang es ihnen nicht, die Reiter einzuholen, doch die Läufer konnten ohne große Mühe vor den Toren abgefangen und eingekesselt werden.

Schnell stellte sich heraus, dass es nur ein paar Jagdhelfer ohne besonderen Wert waren. Hätte man die Reiter erwischt, hätte man wahrlich einen Grund zur Freude gehabt, denn einer davon, so verrieten die Jagdhelfer Thorjan, war der Sohn des Herzogs persönlich gewesen.

„Der hätte uns wenigstens Lösegeld eingebracht“, wetterte Orm, „aber so haben wir gar nichts. Für ihre Jagdhelfer würden sie uns nicht mal ein paar Eier geben.“

„Abwarten!“, unterbrach ihn Thorjan. „Vielleicht sind sie uns doch nützlich. Sie beschrieben ihren Herrn als äußerst hochmütig und eitel!“

„Wie sollte uns das nützen?“, wollte Orm wissen.

„Nun. Ganz einfach…“, lächelte Thorjan und erklärte Orm seinen Plan.

Kurze Zeit später stand der Anführer der Nordmänner allein und in voller Bewaffnung und Rüstung einen Speerwurf weit entfernt vor den Toren der herzoglichen Burg und rief mit fester lauter Stimme nach dem Herzogssohn.

„Was bist du für ein Feigling, dass du vor uns davon reitest und deine Getreuen jämmerlich im Stich lässt?! Wärst du ein Däne, würde dein Vater dich von der höchsten Zinne seiner Burg stoßen und dir angewidert hinterher spucken! Wenn du einen letzten Funken Ehre besäßest, würdest du herauskommen und versuchen, deine Männer in einem ehrlichen Zweikampf gegen mich auszulösen!“

Wie es Thorjan, der zusammen mit den anderen Nordmännern nur einige Schritte entfernt vom Ufer die Begebenheiten aus der Ferne beobachtete, vorausgesagt hatte, öffnete sich kurz darauf das Tor der Burg und einer der Reiter, die vorhin noch vor ihnen geflohen waren, trabte langsam hoch zu Ross daraus hervor und stellte sich Orm gegenüber.

„Ich bin Hermann der Starke, der Sohn des Herzogs. Niemand nennt mich einen Feigling und lebt weiter!“

„Dann steig ab und komm her und kämpfe!“, rief ihm Orm mit seinem Schwert winkend zu.

„Von Mann zu Tier?“, spottete Hermann. „Das bist du wohl kaum wert, Abschaum. Lieber von Tier zu Tier. Mein Pferd soll dich in Fetzten trampeln!“

Und mit ein paar Tritten in die Seite spornte er sein Pferd an und stürmte auf Orm los.

Der Nordmann, der nicht mit einem fairen Kampf gerechnet hatte, wartete den Vorstoß mit kühlem Kopf ab. Erst im letzten Augenblick sprang er vor den todbringenden Hufen zur Seite und stach mit seinem Schwert nach dem Pferd, sodass dessen Bauch durch die Vorwärtsbewegung von vorne bis hinten aufgeschlitzt wurde und es tödlich verletzt wie ein Stein zu Boden sank, wodurch es seinen Reiter einige Fuß weit nach vorne schleuderte. Sofort rannte Orm auf den Herzogssohn zu und hielt ihm sein Schwert an den Hals.

Im Tor der Burg zeigten sich ein paar weitere Reiter, doch noch bevor sie sich zu einem Angriff entschließen konnten, hatten Thorjan und die anderen Wikinger zu Orm aufgeschlossen und die Männer des Herzogs verschwanden wieder hinter das sich schließende Tor.

Als Hermann wieder zu Bewusstsein kam, stand Orm lächelnd über ihm und hielt nach wie vor das Schwert an seinen Hals.

Mit vor Hass funkelnden Augen sah der junge Mann zu dem Dänen auf.

„Was ist los?“, spukte er förmlich vor Orms Füße. „Bring es zu Ende, Bastard!“

„Nicht doch“, entgegnete der Wikinger beinahe sanft. „Du bringst uns sicher ein hübsches Lösegeld!“

„Niemals!“, schrie ihn der junge Mann an und stemmte seinen Oberkörper so ruckartig und heftig in die Höhe, dass ihm Orms Klinge tief in den Hals fuhr.

Langsam rutschte der Körper an der Klinge des überraschten Wikingeranführers wieder hinab und sank tot zu Boden.

„Bei Odin! Was sollte das jetzt?!“, fluchte Orm und schaute Rat suchend in Thorjans Gesicht.

Doch auch dieser konnte nur fassungslos mit den Schultern zucken.

„Vielleicht bezahlen sie auch für den Toten Lösegeld. Sicher wollen sie nicht, dass wir ihn an die Hunde verfüttern, oder so!“, meinte einer der Männer.

„Das Pferd ist auch hin!“, meinte ein anderer. „Schade drum. Sah kräftig aus.“

„Moment mal!“, fand Thorjan endlich seine Sprache zurück. „Das Pferd bringt mich da auf einen Einfall.“

„Ein totes Pferd?“, wunderte sich Orm.

„Genau. Es erinnert mich an eine Geschichte, die ich auf einer meiner Reisen gehört habe“, begann Thorjan zu erzählen. „Sie handelt von einigen Männern, Seefahrer wie wir, die eine Stadt über viele Winter belagerten, aber nicht fähig waren, sie einzunehmen. Die Mauern waren zu hoch und zu dick. Einer der Männer, sein Name war Odisson oder so ähnlich, hatte die Eingebung, ein großes hölzernes Pferd zu bauen. Sie ließen es am Strand zurück, als sie so taten, als würden sie aufgeben und heimwärts segeln. Doch in Wirklichkeit warteten sie nur in der nächsten Bucht, bis die Belagerten das Pferd in ihre Stadt gezogen hatten. Was diese nämlich nicht wussten, war, dass das Pferd innen hohl war und sich einige der Belagerer in seinem Bauch versteckt hatten. Des Nachts schlichen sie heraus und öffneten die Tore für die anderen Männer, die inzwischen zurückgekehrt waren. So fiel die Burg durch eine List.“

Orm schüttelte nur ungläubig mit dem Kopf. „Sehr unwahrscheinlich. Warum sollten sie dieses Pferd in ihre Stadt gezogen haben?“

„Wegen der Götter!“, antwortete Thorjan. „Beide Seiten glaubten an dieselben Götter. Die Belagerten glaubten, die anderen hätten dieses Pferd ihrem Meeresgott gebaut, um für eine sichere Heimreise zu bitten. Sie dachten, wenn sie es in ihre Stadt, genauer gesagt in den Tempel dieses Gottes, ziehen, dann würde die Gunst auf sie übergehen.“

„Warum baut man einem Meeresgott ein Pferd?“, wollte einer der Männer wissen.

„Ihr Meeresgott war auch der Gott der Pferde!“, erklärte Thorjan.

„Ein seltsames Volk“, erwiderte der Kämpfer. „Njörd würde uns für verrückt halten und uns ertränken, wenn wir ihm ein Pferd schnitzen würden!“

Viele Männer stimmten mit lautem Gelächter zu.

„Schluss jetzt!“, unterbrach sie Orm ärgerlich. „Was willst du uns vorschlagen, Thorjan? Das wir in den Wald gehen sollen um ein Holzpferd zu bauen?“

„Nein. Das würden sie bestimmt nicht in ihre Burg ziehen. Im Gegenteil. Es würde mich nicht wundern, wenn sie diese Geschichte auch kennen und den Braten riechen würden.“

„Außerdem sind es Christen“, warf jemand ein. „Die würden bestimmt nichts anfassen, was unseren Göttern geweiht ist.“

„Vielleicht könnten wir uns in ein paar Bierfässern verstecken“, meinte ein anderer grinsend. „Die würden sie bestimmt in ihre Burg holen!“

„Unsinn!“, widersprach Orm. „Diese Saufbolde würden sie sofort anzapfen und uns entdecken.“

„Oder falsch herum aufstellen, sodass man darin ertrinken würde“, wandte Thorjan ein. „Nein. Mir schwebt etwas anderes vor. Ich brauche nur einen mutigen Freiwilligen, der in die Burg eindringen muss.“

„Wenn jemandem der Ruhm gebührt, die Festung alleine zu nehmen, dann mir!“, bestimmte Orm, bevor sich jemand anderes dafür zur Verfügung stellen konnte.

„Nein Orm!“, lehnte Thorjan ab. „Du bist leider zu dick!“

„Zu….. was?“, Orm lief rot an vor Wut.

„Nein, entschuldige“, beeilte sich Thorjan zu berichtigen. „Nicht zu dick, sondern zu groß und zu kräftig!“

„Das war noch nie ein Hindernis!“, wandte Orm immer noch wütend ein.

„Das glaube ich gern, aber was ich suche, ist ein kleiner Mann, mit nicht allzu breit gebauten Schultern!“

„Oh!“, nickte Orm verstehend. „Von dieser Sorte habe ich leider nur einen Mann in meinem Gefolge… Dich!“

„Ich wusste es!“, seufzte Thorjan und rollte mit den Augen. „Also gut. Ich mache es selbst.“

„Und was genau ist jetzt der Plan?“, wollte Orm wissen.

„Hab Geduld mein Freund. Zuerst sollten wir mal den toten Jungen und das Pferd zum Schiff bringen.“

Während einige der Männer die Leichen zum Flussufer trugen, erklärte Thorjan seinem Freund sein Vorhaben. Orm war begeistert und entsetzt gleichzeitig. Allerdings zweifelte er auch ein wenig an der Durchführbarkeit.

„Keine Sorge!“, wandte Thorjan ein. „Alles, was ich brauche, ist ein Ledersack, ein scharfes Messer und ein Schilfrohr!“

Noch am selben Tag setzte man den Plan in die Tat um und bei Sonnenuntergang stand Orm wieder in voller Rüstung vor den Toren der Burg und begehrte mit lauter Stimme den Herzog zu sprechen.

Als Herwig auf der Mauer erschien, grüßte ihn Orm nach alter Sitte mit erhobenem Schwert.

„Was willst du, verfilzter Heide?“, blaffte ihn der alte Mann an.

„Der Herbst geht zu Ende und ich muss heimwärts segeln. Doch du sollst wissen, dass ich im nächsten Sommer wieder kommen werde und dann wird deine Burg fallen.“

„Du bist gekommen, um mir das zu sagen?“, wunderte sich der Herzog.

„Das, und dass ich dir deinen Sohn überlasse!“, er winkte ein paar Männer herbei, die den Toten und sein ebenfalls erschlagenes Pferd vor die Tore der Burg legten.

„Wenn du mich fragst“, höhnte Orm, „solltest du das Pferd ehrenvoller begraben als den Jungen, denn nur mit dem Pferd habe ich gekämpft. Der Feigling hat sich selbst getötet.“

Ohne ein weiteres Wort abzuwarten, drehte sich der Nordmann um und begleitete seine Männer zurück zum Schiff.

Er war noch nicht dort angekommen, als sich die Tore der Burg bereits öffneten und ein Ochsenkarren herausgefahren kam, auf den ein paar Männer den toten Herzogssohn legten. Das tote Pferd wurde mit einem starken Seil an den Karren gebunden und so zurück in die Burg geschleift.

„Was geschieht nun?“, wollte einer der Wikinger wissen, der an Orms Seite lief. „Wenn Thorjan mit den Bräuchen dieser Gegend richtig vertraut ist, wird man den Jungen bald mit seinem Pferd und in voller Rüstung begraben. Allerdings werden sie ihn erst in ihrer Kirche aufbahren, damit sich das Volk von ihm verabschieden kann.“

„Du meinst, er wird nicht verbrannt.“

„Das hoffe ich“, antwortet Orm, „…für Thorjan!“ Das hoffte er natürlich wirklich, dennoch konnte er sich ein derbes Grinsen nicht verkneifen.

Doch den Plan weiter befolgend, gab er den Männern den Befehl, sofort die Schiffe zu besteigen, die Ruderbänke zu bemannen und hinter die nächste Flussbiegung zu rudern.

In der Burg geschah nun genau das, was Thorjan der Weitgereiste vorausgesagt hatte. Hermanns Leiche wurde gesäubert, in seine beste Rüstung gesteckt und in der Kirche vor dem Altar, umgeben von einem Meer aus Kerzen, aufgebahrt.

Das tote Pferd aber ließ man in der Nähe der Stadttore liegen, um es am Morgen zusammen mit seinem Herrn zu beerdigen. Niemandem waren deshalb die Nähte aufgefallen, mit denen der aufgeschlitzte Bauch des Pferdes zugenäht worden war. Und auch das kleine Schilfrohr, das in seiner Brust steckte, hatte niemand bemerkt.

Unbeobachtet lag es regungslos an der Tormauer. Doch als die Nacht in ihrer ganzen Schwärze über das Land hereingebrochen war, kam plötzlich Bewegung in den toten Körper des Streitrosses. Sein Bauch wippte auf und ab als würde es schwer atmen. In einem Ledersack eingenäht hatte sich Thorjan im Bauch des Pferdes versteckt und war so von den Burgbewohnern selbst in ihre Festung getragen worden. Durch ein Schilfrohr atmend, hatte er die Nacht abgewartet und durchtrennte nun mit ein paar gezielten Stichen zuerst den Ledersack und dann die Nähte, die den Pferdebauch zusammenhielten. Wie ein Aal schlängelte er sich aus dem toten Körper und erkundete seine Umgebung. Er konnte sein Glück kaum fassen, als er bemerkte, dass er nur wenige Schritte vom Tor entfernt lag. Im gesamten Innenhof war keine Wache zu sehen. Falls welche aufgestellt waren, dann beschränkten sie sich wohl darauf, auf den Wehrgängen oberhalb des Tores zu stehen und das Feld vor der Burg zu beobachten. Tatsächlich konnte er zwei bewaffnete Männer auf der Mauer erkennen, doch nur einer davon stand mit dem Gesicht zum Fluss auf seinem Posten, während der andere an die Mauer gelehnt dasaß und zu schlafen schien.

Thorjan dankte Odin für diese glückliche Fügung, dann schlich er mit dem Messer zwischen den Zähnen zu der Leiter, die links neben dem Tor stand und kletterte leise hinauf. Langsam pirschte er sich von hinten an den pflichtbewussten Wächter an und zog ihm mit rechts das Messer durch die Kehle, während ihm seine linke Hand den Mund zuhielt. Ohne einen Laut von sich gegeben zu haben, sank der Wächter tot zu Boden.

Dessen schlafenden Gefährten zu töten, war weniger schwierig. Nachdem er auch das erledigt hatte, stieg er die Leiter wieder zurück in den Hof hinunter und öffnete leise das Tor.

Orm hatte seine Männer derweil durch den Wald bis nahe an die Burg geführt und wartete auf das verabredete Zeichen. Als er den Ruf des Waldkauzes endlich hörte, schlichen sie geduckt zum geöffneten Tor, wo sie Thorjan schon erwartete.

Nachdem auch der letzte Wikinger den Innenhof betreten hatte, verkündete Orm mit einem lauten Schlachtruf, dass die Zeit des Versteckens vorüber war.

Brüllend und Äxte schwingend schwärmten die Nordmänner aus und raubten alles, was ihnen begehrlich vorkam, und töteten jeden, der sich ihnen in den Weg stellte.

Orm selbst war es, der in Herwigs Halle vordrang und ihn und seine gesamte Leibgarde eigenhändig erschlug.

Erst als die Sonne im Osten aufging, verließen die Wikinger mit Säcken voller Schmuck, Gold und anderer Wertsachen über ihren Schultern gut gelaunt die Burg und verstauten die reiche Beute auf ihren Schiffen.

Da man Stromabwärts auf die meisten Ruder verzichten konnte, feierten die Wikinger den ganzen Weg die Seine hinab bis in die Nordsee mit dem ebenfalls erbeutetem Wein des Herzogs. Auf der offenen See trug sie der Wind ebenso schnell in die dänische Heimat, wie er sie hergebracht hatte.

„Ein Hoch auf Thorjan Pferdemantel!“, rief Orm ein Trinkspruch aus, nachdem er in der Halle seines Vaters die Geschichte erzählt hatte.

„Nein, Nein!“, wehrte Thorjan lachend ab. „Wie du weißt, war es nicht meine List, sondern die des Odisson. Nennt mich weiterhin den Weitgereisten, dann bin ich zufrieden.“

„Ganz wie du meinst, mein Freund!“, rief Orm und schwenkte sein Trinkhorn. „Doch eins ist gewiss: Noch viele Winter wird man sich in Midgard die Geschichte vom Thorjanischen Pferd erzählen, wenn schon lange keiner mehr von diesem Odisson weiß.“

Die Saga von Witte Wittenson

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