Читать книгу Samuel und der Tarnmantel - Solveig Schuster - Страница 7
ОглавлениеUnsichtbarer Gast im Kino
Samuel muss nicht lange warten. Schon kurz nachdem er das Haus in seinem Zaubermantel verlassen hat, kommen auch seine Eltern aus der Tür. „Schön, dass es doch geklappt hat“, sagt Mama, die jetzt ganz dicht vor Papa steht und ihm mit der rechten Hand irgendwelche Fusseln von der Schulter klopft. „Ja, finde ich auch“, sagt Papa und gibt ihr einen Kuss auf den Mund. Samuel möchte am liebsten im Boden versinken. Mama legt einen Arm um Papas Rücken und Papa ihr seinen Arm um den Hals. Dann laufen sie los. Wie ein Liebespaar, denkt Samuel und findet das richtig super. Mehr Zeit darüber nachzudenken, hat er jetzt nicht. Samuel hat Mühe, den beiden zu folgen. Offenbar haben sie es sehr eilig. Als sie um die Ecke biegen, kommt von hinten ein Bus herangefahren. „Komm schnell“, ruft Papa und greift Mamas Hand. Beide laufen los. Samuel ist völlig außer Puste, als sie den Bus erreichen. Hinter den beiden stolpert er in den Bus und muss sich erst einmal auf die Treppe setzen, um Luft zu holen.
Der Bus ist ziemlich leer. Mama und Papa haben sich in die hinterste Reihe gesetzt. Samuel bleibt an der Tür stehen, damit er den Ausstieg nicht verpasst. Er stellt sich mit dem Rücken zu ihnen. Der Mantel ist ein wenig verrutscht und wurde eben beim Rennen ziemlich hin und her gewirbelt. Samuel ist sich daher nicht ganz sicher, ob der Zauber noch wirkt. Er macht einen Test. Neben ihm steht ein dicker Mann, der ziemlich verärgert dreinschaut. Samuel verzieht das Gesicht und macht allerlei Grimassen, um ihn etwas aufzuheitern. Als er merkt, dass dies nichts bei dem Mann bewirkt, steckt er ihm die Zunge heraus. Aber auch das lässt den Dicken ganz unbeeindruckt. Der Zauber wirkt also noch. Samuel fällt ein Stein vom Herzen.
Leider kann Samuel von der Tür aus nicht verstehen, was seine Eltern reden. Aber sie sind gut gelaunt und kichern. Samuel findet das ein bisschen albern und schämt sich auch ein wenig, obwohl ihn ja niemand sehen kann und keiner weiß, dass das seine Eltern sind. Aber wenn Samuel mit seinem besten Freund, Ekki, Bus fährt, ist es meist noch viel lauter. Der Bus hält, Mama steht auf und zieht Papa an der Hand hinter sich her. Das macht sie mit mir auch immer so, denkt Samuel. Mama fährt oft mit dem Bus zur Arbeit, vor allem wenn es kalt ist oder regnet. Auch Samuel steigt dann manchmal mit ein, obwohl er bis zur Schule eigentlich auch laufen kann.
Die Haltestelle, an der sie jetzt aussteigen, kennt Samuel. Wenn man jetzt nach links abbiegt und die Straße noch ein Stück geradeaus weiter läuft, kommt man zum Kino. Wollen Mama und Papa etwa dahin? Tatsächlich. Samuels Eltern schlagen die Richtung ein und halten vor dem Kino-Eingang. Papa öffnet seine Jacke und zieht zwei Karten aus der Innentasche. Achja, erinnert sich Samuel, die hatte ihnen ja Samantha zu Weihnachten geschenkt. Mama und Papa schauen sich die Filmplakate an. Mit den Karten von Samantha haben sie freien Eintritt, den Film dürfen sie sich selbst aussuchen. „Paris at midnight?“ fragt Mama. „Romantische Komödie“ liest Samuel. Hätte es nicht wenigstens ein Abenteuer-Film sein können? Samuel hofft, dass Papa sich doch noch für etwas anderes entscheidet. Aber der willigt ein. „Ja, warum nicht“, sagt er und geht zur Tür. Während Papa die Tür aufhält, huscht Samuel schnell mit seiner Mutter ins Kino hinein, vorbei an den Kassen und zum Kinosaal.
Nur kurze Zeit später treffen auch Samuels Eltern vor dem Kinosaal ein. Es ist schon ziemlich spät geworden und alle Leute haben sich auf ihre Plätze gesetzt. Trotz der Werbung, die gerade von der Leinwand flimmert, ist es stockdunkel. Samuel versucht, sich an den roten Lichtchen auf den Stufen zu orientieren. Vor ihm geht Mama, die ebenfalls im Dunkeln wenig zu sehen scheint. Davor Papa, der jetzt an einer Sitzreihe stehenbleibt und auf die Karten schaut. „Hier müssen wir rein“, flüstert er. Der vierte und fünfte Platz in der Reihe sind noch frei. Mist, denkt Samuel und was mache ICH jetzt? Er hat ja keine Eintrittskarte und somit auch keinen Sitzplatz. Samuel setzt sich auf die Stufen im Gang. Papa hat noch Popcorn geholt. Wie gern hätte Samuel jetzt auch welches. Bis zu Papa und der Tüte würde er ja noch unbemerkt kommen, aber wie hereingreifen, ohne dass es auffällt und vor allem etwas runterfällt. Samuel kann sich vorstellen, was das für eine Aufregung wäre. Wohl keiner im Kino würde sich noch für den Film interessieren. Das kann Samuel auf keinen Fall riskieren. Also bleibt er auf den Stufen sitzen.
Der Film beginnt. Samuel versteht kein Wort, der ganze Film wird in englischer Sprache gezeigt. Zwar hat Samuel inzwischen auch Englisch in der Schule, aber mehr als wie er heißt und wo er wohnt, hat er noch nicht gelernt. Und außerdem spricht Frau Ziegert, seine Lehrerin, auch viel deutlicher, als die Schauspieler dort auf der Leinwand.
Samuel sieht sich im Kino um. Ob er mal rausgeht? Aber wo? Die Ausgänge sind vorn, links und rechts neben der Leinwand, davor hängen dicke Vorhänge. Die müsste er zur Seite schieben, um da durchzukommen. Das klappt nicht, ohne das jemand das bemerkt. In dem Saal sitzen bestimmt über Hundert Leute. Durch die Tür, durch die er gekommen ist, könnte es eher gehen. Die befindet sich links hinter den Stuhlreihen, die Zuschauer haben sie also im Rücken und können sie nicht sehen. Aber was, wenn gerade jemand herein kommt oder noch vor der Tür steht? Samuel ist doch ein bisschen unwohl bei der Sache. Unsichtbar sein, ist das eine, aber nicht aufzufallen, das andere und im Moment eine große Herausforderung.
Und wenn er seinen Mantel und seine Tarnung ablegt, um aus der Tür zu gehen? Was soll schon passieren? Wenn ihn jemand entdeckt und fragt, dann sagt er einfach, er hätte sich in der Tür geirrt. Samuel ist begeistert von seiner Idee. Er steht auf und geht zur Tür. Weil niemand ihm zu folgen scheint und auch vor der Tür alles ruhig ist, zieht er den Mantel aus und legt ihn über seinen linken Arm. Dann öffnet er vorsichtig die Tür.
Vor den anderen Kinosälen stehen jede Menge Leute, die alle noch auf den Einlass warten. Die meisten Filme beginnen zeitlich etwas versetzt, also manche früher, andere eine viertel oder halbe Stunde später. Samuel schaut sich um. Viel spannender ist das hier draußen aber auch nicht, denkt er sich. Das Kino kennt er ja. Er war schon oft mit Mama, Papa, Samantha oder seinen Freunden hier. Natürlich nicht so spät am Abend, aber so anders als am Tag ist es nun auch wieder nicht. Mehr Erwachsene als Kinder oder Jugendliche, aber sonst? Soll Samuel vielleicht doch nach Hause gehen? „Na, wo willst du denn hin?“, hört er plötzlich eine freundliche Stimme hinter sich. Die freundliche Stimme gehört einer Frau, die Sabine heißt. Das steht auf einem kleinen weißen Schild, das sie auf ihrem roten Pullover trägt. Sie arbeitet im Kino und ist für die Kontrolle der Eintrittskarten zuständig. „Das ist sicher nicht der richtige Film“, sagt sie und zeigt auf den Kinosaal, aus dem Samuel gerade gekommen ist. „Äh, nein“, sagt Samuel und sucht nach einer Ausrede. „Welchen Film wolltest du dir denn ansehen, im Moment läuft doch gar keiner in deiner Altersklasse?“ fragt Sabine. „Äh, hm, nein“, stammelt Samuel. „Ich wollte auch gar nicht ins Kino“, sagt er dann. Sabine schaut ihn fragend an. „Ich suche nur meine Eltern“, erklärt ihr Samuel, „meine Schwester liegt zu Hause im Bett, ihr geht es nicht so gut.“ Das klingt glaubhaft. Sabine ist jetzt sehr besorgt. „Soll ich deine Eltern ausrufen lassen. Wir haben an der Kasse ein Mikrofon?“ fragt sie. Nein, bloß das nicht, denkt Samuel, der jetzt angestrengt überlegt, wie er aus dieser Sache wieder heraus kommt. Er schaut sich um. Gegenüber geht gerade eine Frau zur Toilette, die in etwa das Alter seiner Mutter hat. Sie sieht zwar überhaupt kein bisschen so aus wie sie, aber das ist Samuel jetzt völlig egal. „Äh, nein nicht nötig. Da ist ja meine Mutter“, sagt er schnell und zeigt auf die Frau, die gerade hinter der Toilettentür verschwindet. Schnell rennt er hinterher.
„Das ist aber die Damentoilette“, sagt die Frau, die er eben für seine Mutter ausgegeben hat. „Oh, Entschuldigung. Ich will mir auch nur kurz die Hände waschen“, erwidert Samuel. Er ist erstaunt, zu welchen Ausreden er heute fähig ist. Als die Frau hinter einer der Türen verschwunden ist, prüft Samuel im Spiegel seine Nase. Ob die jetzt wohl ein ganzes Stück länger geworden ist? Er schämt sich, weil er sonst eigentlich immer ganz ehrlich ist. Auch wenn Samantha immer sagt, dass kleine Notlügen erlaubt sind. Die Nase hat sich nicht verändert. Samuel ist erleichtert. Jetzt aber nichts wie weg hier. Schnell zieht er den Mantel über und wartet bis seine neue Mama aus der Toilette kommt, um mit ihr gemeinsam durch die Tür nach draußen zu gehen. Es klappt. Unbemerkt gelangt Samuel in den Flur.
Sabine steht am Eingang zu Kinosaal 3 und reißt Karten ab. Sie hat die Toilette nicht im Blick und auch nicht den Kinosaal 1, aus dem Samuel zuerst gekommen ist. Weil gerade ein älterer Herr hineingeht, schiebt sich Samuel kurzentschlossen mit durch die Tür. Hinter ihm steigt er die Stufen mit den roten Lichtchen hinunter, bis zu der Reihe, in dem seine Eltern sitzen. Papa hält Mamas Hand, und sie hat sich jetzt eng an seine Schulter gelehnt. Ist sie etwa eingeschlafen? fragt sich Samuel, dem allmählich auch die Augen schwer werden. Ihm ist langweilig. Er setzt sich auf die Stufen, lehnt sich an den ersten Sitz der Reihe und schließt die Augen.
Plötzlich spürt Samuel einen Fußtritt im Rücken. Um ihn herum herrscht ohrenbetäubender Lärm. Zumindest hat Samuel das Gefühl, dass es sehr laut ist. Er war eingeschlafen und hat nun Mühe, wieder zu sich zu kommen. Er hat so tief geschlafen, dass er gar nicht mitbekommen hat, dass der Film schon zu Ende ist. Die Leute sind inzwischen aufgestanden und verlassen das Kino. Auch die Plätze seiner Eltern sind schon leer. Mist, wo stecken die? Samuel wird unruhig. Und wenn die schon weg sind? Naja, ganz so schlimm ist es nicht, beruhigt er sich. Den Weg nach Hause findet er auch allein. Er schlängelt sich zwischen den Leuten hindurch zum Vorhang und dem Hinterausgang. Draußen ist es jetzt noch etwas kälter geworden. Samuel friert. Er legt den Tarnmantel noch etwas enger um sich.