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ОглавлениеKapitel 1
Neubeginn
Die Busfahrt von Fairbury, einer Kleinstadt in Montana nach New York fühlte sich für Alyssa an, wie eine Ewigkeit. Eine Ewigkeit, die drei Tage dauerte, sie durch unzählige Bundesstaaten führte und sie mit jeder Meile weiter von ihrer trostlosen Vergangenheit entfernte. Ihr die Hoffnung auf eine neue Zukunft gab, die nicht fremdbestimmt war, die sie sich selbst kreieren konnte.
Fairbury war eine typische Kleinstadt, in der jeder jeden kannte. In der Lilly, so wurde sie von ihren Freunden und Familie genannt, keine Perspektive mehr blieb, als sie ihren College Abschluss unter Dach und Fach gebracht hatte.
Alyssa wollte nicht dort versauern, wo ihre Mutter sie als kleines Mädchen hingebracht hatte, weil sie sich in einen Cowboy verliebte. Sie wollte nicht mehr mit ihren beiden Stiefbrüdern unter einem Dach leben.
Ihr Traum war es Journalistin zu werden, aber dazu brauchte sie eine Grundlage, ein solides Studium und was könnte weiter von Montana entfernt sein, als New York um zu studieren?
Als sie sich von ihrer Mom verabschiedete und die Farm ihres Stiefvaters verließ, war ihr klar, dass sie hart würde arbeiten müssen um sich ihr Studium zu finanzieren. Aber das machte sie nur noch entschlossener, als sie es ohnehin schon war. Mit 22 Jahren war sie endlich soweit den Absprung zu schaffen, endlich auf eigenen Beinen stehen, endlich fliehen. Lilly wollte nichts weiter als der Enge auf der Farm und dem Leben in einer Welt, in die sie nicht gehörte, entfliehen. Sie wollte neu beginnen, sich eine Zukunft abseits der strengen Regeln ihres Stiefvaters erarbeiten und harte Arbeit war sie wirklich gewohnt. Ein kleines Mädchen war sie gewesen, als sie nach Montana verfrachtet wurde. Ein kleines Mädchen, dass die Schönheit der Natur nicht zu schätzen wusste, dass nichts mit der wundervollen frischen Luft anfangen konnte, von der ihre Mutter immer so schwärmte. Für sie war Montana nichts als eine grüne Einöde, in der es nur zwei Brüder zum Spielen gab. All ihre Freundinnen hatte sie zurücklassen müssen und schon allein deswegen verzieh sie ihrer Mutter nicht, dass sie sich nun mit wesentlich älteren Jungs herumschlagen musste.
Der Bus nach New York, der sie in eine andere Welt bringen würde, war ihre letzte Chance auf eine Flucht und Lilly wusste, dass sie diese viel zu lange hinausgezögert hatte. Schon damals, als sie ihren Abschluss in der Tasche hatte, hätte sie verschwinden müssen. Doch damals machte ihr die neue Welt noch mehr Angst, als es ihr altes Leben tat. Selbst nun, als sie New York Stunde um Stunde näherkam, war sie sich nicht sicher, ob sie für diese Stadt mutig genug sein würde. Doch sie war sich sicher, dass eben diese Metropole ihre einzige Chance war ein selbstbestimmtes Leben zu führen.
Alyssa war sehr froh, dass sie erst einmal bei einem alten Freund ihres Stiefbruders Dawson unterkriechen konnte. Cale hatte den Absprung aus Fairbury schon vor Jahren geschafft und arbeitete nun als Assistent eines knallharten Anwalts in einer schicken Kanzlei in Manhattan. Doch allein dieser Job reichte sicher nicht aus um sich ein Apartment an der Upper East Side leisten zu können, von dem er ihr in den schillerndsten Farben vorschwärmte. Doch Alyssa fragte nicht danach wo das Geld für den aufwendigen Lebensstil herkam, den er offenbar pflegte. Sie war einfach froh, dass er ihr für ein paar Dollar die Woche ein Zimmer untervermietete und ihr so den Start in ihr neues Leben ein wenig vereinfachte.
„Hey Lilly”, freudestrahlend winkte Cale Alyssa entgegen, als sie müde und ausgelaugt von der langen Fahrt, mehr torkelnd als gehend auf ihn zukam.
Ihr verschlug es die Sprache. Vor ihr stand nicht mehr der spindeldürre, blonde Junge, der so oft mit ihrem Stiefbruder herumgehangen hatte. Vor ihr stand ein Kerl, dessen Gang Selbstbewusstsein verströmte, dessen perfekt gestyltes, kurzes Haar in der Sonne fast golden schimmerte. Vor ihr stand ein eleganter Mann, der nichts mehr mit dem Jungen gemein hatte, der auf dem Rücken eines Pferdes mit zerrissenen Jeans die Kühe auf die Weide trieb.
Überschwänglich, als hätten sie sich erst vorige Woche voneinander verabschiedet, zog Cale Lilly in seine Arme, wirbelte sie voller Freude um seine eigene Achse. Lilly bekam kaum Luft: „Oh Cale, lass mich runter.” „Hey Süße. Schön das du hier bist“, fröhlich küsste er sie auf beide Wangen, bevor er sie zu Boden ließ. Lilly war die Situation zwischen all den Menschen, die zu ihren Bussen hasteten, peinlich: „Hey Cale… es ist schön dich wieder zu sehen. Du siehst gut aus.“ „Danke für das Kompliment. Aus dir ist aber auch ein flotter Feger geworden“, erwiderte er als er sie von oben bis unten begutachtete. Beide interessierte die Hektik um sie herum nicht, als sie sich gegenseitig von Kopf bis Fuß musterten. Für Lilly war New York wie ein anderer Planet. Ein neues Universum, auf das sie sich freute, dass sie unbedingt erkunden wollte. Schon so lange fühlte sie sich im fernen Montana von dieser Stadt magisch angezogen. In ihrem Zimmer hingen Poster von der Freiheitsstatue und der Skyline Manhattans. Der Puls der Großstadt begann in ihr zu vibrieren als wolle er sie nach all den Jahren in Montana aus einem tiefen Koma erwecken.
Nein, Lilly war kein kleines Mädchen mehr, das stand fest, als Cale ihre Hände hielt und an ihr herabsah. Als er Fairbury damals verließ, war sie 13 Jahre alt gewesen. Ein kleines Mädchen mit traurigen Augen dem er versprach ihr zu jedem Geburtstag eine Karte zu schreiben. Natürlich hatte sie ihm geglaubt und er enttäuschte sie nicht. Auch nicht, als sie ihn bat ihr bei ihrem Start in New York zu helfen.
Cale war unter all den Freunden ihrer Brüder immer schon ihr Liebling gewesen. Der unscheinbare, schlaksige Kerl hatte sie oft gegen ihre Stiefbrüder verteidigt und so war er in ihrer Erinnerung ihr Ritter in goldener Rüstung. Der Junge, zu dem sie aufblickte, den sie anhimmelte, der ihr immer verschwörerisch zu zwinkerte, wenn er an ihr vorbeiging. Beinahe so, als gäbe es ein riesiges Geheimnis, von dem nur sie beide wussten und dass sie unbedingt hüten mussten.
„Danke, dass du mich abholst“, Lilly war müde. Die Reise mit dem Bus war anstrengend gewesen, aber für einen Flug war sie zu geizig. Denn das bisschen Geld, dass sie sich zusammengespart hatte, musste eine ganze Weile reichen. Schließlich hatte sie keine Ahnung, ob sie sobald einen Job bekommen würde und wie lange Cale sie bei sich wohnen ließ wusste sie auch nicht. Sicher hatte er eine Freundin, so verdammt gut wie er aussah. Cales blaue Augen leuchteten, seine Nase und seine Wangen waren von süßen, winzigen Sommersprossen überzogen, was ihm einen kindlichen, spitzbübischen Ausdruck verlieh. Aus ihm war ein hübscher Mann geworden, dem die Frauen sicher zu Füßen lagen und da war das Mädchen aus Montana doch nur im Weg.
Im Gegensatz zu Cale, dessen hübsches Gesicht überall auffiel, war Lilly ein eher unscheinbares Mädchen. Ihre langen, braunen Locken fielen ihr zerzaust über die Schultern. Ihre hübschen rehbraunen Augen versteckte sie hinter einer Nerd-Brille, die sie nicht trug um eine Sehschwäche auszugleichen, sondern um dahinter möglichst unscheinbar zu wirken, und ihre kleinen Figur Probleme, die sie sich selbst einzureden versuchte, blieben unter Jeans und T-Shirt verborgen. Sie war keine Frau, die sehr viel Wert auf Äußerlichkeiten legte. Nur selten manikürte sie sich die Nägel oder zupfte sich die Augenbrauen. Auf einer Farm in Montana interessierte es niemanden ob der Nagellack zu den Schuhen passte oder die Haare perfekt frisiert waren. Sie lebte sogar eher nach der Maxime bloß nicht auffallen, möglichst unscheinbar durchs Leben gehen. Dabei war sie eigentlich ein sehr hübsches Mädchen, auch wenn sie das selbst anders sah.
„Du siehst ziemlich fertig aus. Komm“, Cale griff nach Lillys Hand, „ich bring dich nach Hause und Morgen ziehen wir durch die Stadt.“ „Ich muss mich morgen an der Uni einschreiben.“ „Okay, dann machen wir das eben zuerst und ziehen dann um die Häuser.“ „Stört es dich wirklich nicht, wenn ich bei dir penne?“ „Nein, echt kein Problem. Du kannst das Gästezimmer haben solange du willst“, erwiderte Cale und zog Lilly ganz selbstverständlich an der Hand hinter sich her. Dabei fiel ihr durchaus auf, dass ihnen der ein oder andere Passant hinterher sah. Aber das lag sicher nur an Cale, der in seinen verwaschenen Jeans und dem enganliegenden Shirt unglaublich heiß aussah.
Routiniert, wie ein echter New Yorker, pfiff Cale ein Taxi heran, schmiss Lillys Taschen in den Kofferraum und folgte ihr dann auf den Rücksitz.
Lilly war völlig überwältigt von der Stadt. Voller staunen sah sie auf die vorbeifliegenden Wolkenkratzer, beobachtete die Menschen, die eilig über den Gehsteig hasteten. Lilly war noch nie in einer so imposanten Stadt gewesen und die Menschen, die sie sah, faszinierten sie. Es war eine so kunterbunte Mischung aus allen sozialen und ethnischen Schichten, das sie ihren Blick nicht abwenden konnte. Sie hörte Cale nicht einmal zu, der ihr alles Mögliche über die Bauwerke erzählte, an denen sie vorbeifuhren, ihr das ein oder andere Lokal nahelegte, ihr Bars zeigte, in denen man besonders gut feiern oder einfach ein gutes Glas Wein genießen konnte. All das interessierte Lilly nicht. Sie war fasziniert von allem was sie sah.
Die Fahrt vom Busbahnhof zu Cales Wohnung an der Upper East Side dauerte Lilly eindeutig nicht lange genug. Sie war so fasziniert von der Stadt, deren Herzschlag sie förmlich spüren konnte, dass Cale sie anstupsen musste, als das Taxi vor einem Apartment Haus hielt und der Portier heran trat um die Tür zu öffnen.
„Mein Gott Cale“, Lilly blieb mit weit auf gerissenem Mund vor dem Gebäude stehen und sah völlig überwältigt die Fassade hinauf: „Hier wohnst du?“ „Ja“, mit stolzgeschwellter Brust gesellte er sich zu ihr, „hab hart dafür gearbeitet.“ „Wow.“ „Komm mit hoch. Da wirst du erst staunen.“ „Ich bin schon gespannt“, und wie gespannt Lilly war.
Voller Stolz meldete Cale Lilly beim Portier als Besucher an und schob sie dann durch die Halle zu einem der beiden Aufzüge. Gemeinsam fuhren sie in den 24. Stock des modern sanierten Altbaus, der insgesamt 35 Stockwerke hoch war. Die Wände waren, im Kontrast zu den dunklen Böden, mit sandfarbenem Marmor verkleidet, als Lilly und Cale den Fahrstuhl verließen, genauso wie unten in der Eingangshalle. Sie war beeindruckt und fragte sich nicht das erste Mal in den vergangenen fünf Minuten wie Cale es sich leisten konnte in einem solch luxuriösen Apartmenthaus zu wohnen. Schließlich war er doch nur der Assistent eines Anwaltes.
Was konnte er als solcher denn schon verdienen?
30.000 im Jahr?
Endgültig von den Socken war Lilly allerdings, als sie hinter Cale das Apartment betrat, in dem er lebte. Böden aus Botticino Marmor, schneeweiße Wände, edle Ledergarnituren und Gemälde an den Wänden, die sicherlich ein Vermögen wert waren, obwohl Lilly mit dieser seltsam abstrakten Kunst nichts anfangen konnte. Das ganze Apartment wirkte so durchgestylt, als würde jeden Moment ein ganzes Foto-Team zu einem Shooting für ein Hochglanz-Möbelmagazin hereinplatzen.
Lilly verschlug es die Sprache: „Scheiße Cale, wie kannst du dir so ein Apartment leisten?“ „Ich wohn erst seit drei Monaten hier. Ist echt geil, … nicht“, erwiderte Cale freudestrahlend, doch Lilly spürte sofort, dass er ihr nicht erzählen wollte, wie er an die Kohle kam um so feudal zu wohnen.
„Schau mal“, stolz und glücklich stand Cale an der großen Glasfront, die sich um das Ganze, in U-Form angelegte, Apartment herumzog und einem ein unglaubliches Gefühl von Weite vermittelte.
Lilly trat neben ihn. Fast beiläufig legte er seinen Arm um ihre Hüfte, zog sie an sich heran und machte mit dem anderen Arm eine Geste, die ihr verdeutlichen sollte, was er meinte.
Lilly staunte. Obwohl um sie herum noch viele, höhere Häuser standen und sie sich nicht gerade im Penthouse befanden, hatte Cale von seinem Wohnzimmer aus, zwischen den Häusern hindurch beinahe freien Blick zum Central Park hinüber und dieser Blick war atemberaubend. Einfach unglaublich schön. Bewundernd schmiegte Lilly sich an Cales Schulter. Wie ein verliebtes Paar standen sie aneinander gekuschelt da und genossen gemeinsam die wundervolle Aussicht.
Lilly fühlte sich auf Anhieb wohl. Sie war in einer ganz anderen Welt angekommen. Nichts erinnerte mehr an die einfachen Verhältnisse, in denen sie aufgewachsen war, nachdem ihre Mutter Sharon Harvey Morton heiratete und sie mit ihr nach Montana auf eine Rinderfarm ziehen musste.
Lilly war damals 7 Jahre alt gewesen, ein neugieriges, kleines Mädchen, das ihrer Mutter nicht verzeihen wollte, dass sie all ihre Freunde verlassen musste. Montana war für sie ein Schock gewesen, den sie nie wirklich überstand. Daran konnte sie sich, im Gegensatz zu vielen anderen Dingen aus dieser Zeit, noch gut erinnern. Die Farm der Mortons lag abgelegen in einem kleinen Tal. Eigentlich war es sehr schön dort, doch Lilly konnte diese Schönheit im Grunde nie wirklich genießen. Ganz im Gegenteil … sie hasste die Abgeschiedenheit, sie hasste die Arbeit auf der Farm und sie hatte in all den Jahren ein sehr schwieriges Verhältnis zu ihrem Stiefvater Harvey. Er war ein sehr tyrannischer Mensch, ein Mann, der Kontrolle über alles und jeden ausüben musste und Dawson, der ältere ihrer Stiefbrüder, war ihm diesbezüglich sehr ähnlich.
Lilly vermisste auf der Farm in Montana am meisten das Meer. Vor Montana lebte sie mit ihrer Mutter und deren ständig wechselnden Männerbekanntschaften in einem Wohnwagen-Park weit weg vom Strand am Rande von Los Angeles. Doch gerade deswegen waren die seltenen Ausflüge ans Meer etwas ganz Besonderes für das kleine Mädchen. In Montana aber gab es keinen Strand und schon gar keinen Albert. Er war der Mann, den sie am ehesten als ihren Vater bezeichnete. 3 Jahre lang ging er in dem schäbigen Trailer, den sie mit Sharon bewohnte, aus und ein, fuhr mit ihr zum Strand, kaufte ihr Eis und Spielsachen. Für sie war er ihr Vater und ihn musste sie aufgeben, weil ihre Mutter sich Hals über Kopf in einen Farmer aus Montana verliebte, der ihr ein besseres Leben versprach.
Ihren richtigen Vater kannte Lilly nicht. Er verließ sie und ihre Mutter ehe sie ein Jahr alt wurde und Sharon sprach nie über ihn. Nicht einmal, wenn Lilly sie danach fragte. Vielleicht war auch das ein Grund dafür, warum Mutter und Tochter sich im Laufe der Jahre immer mehr entfremdeten. Sharon war ihrem Mann geradezu hörig und je älter Lilly wurde, desto mehr verurteilte sie ihre Mutter dafür sich nicht um ein selbstbestimmtes Leben zu bemühen.
Lilly selbst suchte in New York genau danach … nach einem Leben, in dem sie niemandem mehr gehorchen musste. Ein Leben in dem sie ohne Angst existieren durfte. Alles wonach sie in New York suchte, war sich selbst.
„Hast du Lust auf Pizza?“ Cale riss Lilly aus ihren Gedanken.
„Klar, aber die bezahl ich“, Lilly fand es schon äußerst großzügig, dass sie bei Cale, in dieser affengeilen Wohnung unterkriechen durfte, da wollte sie wenigstens einen kleinen Beitrag leisten und für das Essen bezahlen.
„Nein, Süße … du bist eingeladen. Dein Zimmer ist übrigens den Gang runter links“, sagte er eher beiläufig während er in einer Hand sein Handy hielt um dem Lieferservice anzurufen, und mit der Anderen einen langen schmalen Gang hinab zeigte, der durch kleine Lichtspots an der Decke beleuchtet wurde. Mit klopfendem Herzen ging Lilly den Gang entlang. Was sie wohl hinter der Tür erwarten würde, wo sie doch eigentlich damit gerechnet hatte eine Zeit lang auf Cales Couch zu schlafen?
Vorsichtig schob Lilly die Tür auf, tastete an der Wand nach dem Lichtschalter, der aber kein Schalter war, sondern ein Sensor, der auf die Bewegung ihrer Hand reagierte. Lilly stockte erneut der Atem, als Millionen winziger Spots in der Decke, die aussahen wie ein Sternenhimmel und auch genauso asymmetrisch angeordnet waren, das Zimmer erhellten. Sie stand mitten in einem Raum, der dreimal so groß war, wie ihr Zimmer auf der Farm. Den begehbaren Kleiderschrank und das angrenzende Bad nicht einmal mit eingerechnet. Die Aussicht war nicht ganz so atemberaubend wie vom offenen Wohnraum aus, aber Lilly war trotzdem völlig überwältigt von all dem Luxus.
Der Raum war in drei Bereiche unterteilt. Rechts von der Tür stand ein riesiges King-size Bett, das mit einer weißen Tagesdecke aus Satin bezogen war und an dessen Ecken vier dicke, etwa 1,50m hohe Pfosten aus Walnussholz prangten. Links und rechts neben dem Bett befanden sich zwei Türen. Die Eine führte in den begehbaren Kleiderschrank, die Andere in ihr eigenes Bad das genauso wie die Böden in der Lobby in weißem Marmor gehalten war. Das alles fühlte sich an wie ein Traum. Lilly spürte wie ihr Herz vor Freude in ihrer Brust zu hüpfen begann als sie sich auf die Ledercouch fallen ließ und sich darum bemühte von all diesen überwältigenden Eindrücken nicht erschlagen zu werden. Sie war angekommen. Angekommen in einer Welt, in die sie eigentlich nicht gehörte, in der sie ihren Platz erst finden musste, die absolut nichts mehr mit ihrem alten Leben gemein hatte und noch unwirklicher war als ihr bisheriges Leben auf der Farm.
„Hey, die Pizza ist da“, mit einem verschmitzten Lächeln sah Cale um die Tür herum. Lilly saß wie festgenagelt auf der Couch und sah zum Fenster hinaus: „Wie kannst du dir das alles nur leisten?“ „Ich hab da Mittel und Wege“, es war ihm deutlich anzusehen, dass er nicht so recht wusste, ob er Lilly erzählen sollte, wie er mit einem Jahresgehalt von etwa 30000 Dollar an ein Apartment kam, das sicher weit über eine Million wert war. Aber sie ließ sich nicht so einfach abwimmeln: „Sag’s mir. Den Scheiß will ich unbedingt auch.“ „Da bin ich mir jetzt nicht so sicher. Komm, die Pizza wird kalt“, Cale war schon auf dem Weg ins Wohnzimmer, aber Lilly hakte nach: „Raus mit der Sprache.“ „Willst du das wirklich wissen?“ „Natürlich. Das Apartment ist der absolute Hammer. Wen hast du dafür um die Ecke gebracht?“ „Du bist süß Lilly“, Cale schmunzelte, „dafür brauche ich niemanden um die Ecke zu bringen. Es sind eher andere Dienste, die ich erbringen muss.“ „Hä…?“ Lilly sah ihn verständnislos an.
Sie war einen Moment lang nicht in der Lage eins und eins zusammen zu zählen und Cale wusste das: „Du süßes, naives Kind vom Land. Du wirst schon noch draufkommen. Los iss …“, mit einem Bissen verschwand ein riesiges Stück Pizza in seinem Mund, womit er unmissverständlich klarstellte, dass die Unterhaltung beendet war. Er war nicht bereit mit ihr über seine Einnahmequellen zu sprechen und Lilly blieb nichts Anderes übrig, als das für den Moment zu akzeptieren. Schließlich ging es sie im Grunde ja auch nichts an.
Dennoch saß Lilly grübelnd neben Cale auf dem weißen Ledersofa, alles in der Wohnung war sehr hell gehalten, und versuchte in seiner Miene zu lesen, aber sie konnte seine Gedanken nicht ergründen. Dabei ließ seine Bemerkung eigentlich keinen Raum für Spekulationen. Er verkaufte sich für Geld.
Wie sonst kam er zu all dem Luxus?
Der Abend war für Lilly bald zu Ende. Während Cale sich ausgehfertig machte, ging sie duschen und stand dann im Bademantel vor dem spärlich gefüllten Kühlschrank um sich etwas Antialkoholisches zu trinken zu holen. Dabei gab dieser völlig überdimensionierte Kühlschrank außer Bier, Wein und Champagner nicht wirklich etwas her. Weder essbares noch eine einfache Cola oder ein schnödes Wasser.
Wovon lebt der denn?
Sie grübelte noch über diese Frage nach, als Cale plötzlich hinter ihr stand und sie mit einem lauten -tada- fast zu Tode erschreckte: „Scheiße Cale.“
Lilly schlug sich die Hand auf die Brust um zu verdeutlichen, wie sehr er sie erschreckt hatte, als sie sich in seine Richtung drehte und ihn bewundernd musterte.
„Wie seh ich aus“, in Posing Haltung präsentierte er seinen Look und Lilly musste feststellen, dass er in dem weißen, fast durchsichtigen Hemd, der verwaschenen, schwarzen Jeans und dem schwarzen Blazer wirklich verdammt gut aussah. Sein blondes Haar war perfekt gestylt und die strahlend weißen Zähne ließ er 100%ig regelmäßig bleichen. Dieses absolut perfekte Weiß, das zwischen seinen sinnlichen Lippen hervor blitzte, konnte auf keinen Fall echt sein, wirkte aber auf eine unglaublich anziehende Weise sehr erotisch.
„Sexy“, Lilly pfiff anerkennend zwischen ihren Zähnen hervor, „du schleppst die Mädels sicher reihenweise ab.“ „Auf die Mädels hab ich's gar nicht abgesehen“, verschmitzt grinsend drückte er ihr einen beinahe selbstverständlichen Kuss auf die Lippen, der sie nicht nur verwirrte, sondern ihr einen Augenblick lang gar die Sprache verschlug, während Cale sich zwinkernd abwandte. Sprachlos und verwirrt blieb ihr nichts Anderes übrig als zuzusehen, wie er übertrieben mit den Hüften wippend, durch die Tür verschwand.
Das waren eindeutig zu viele neue Informationen, zu viele überwältigende Eindrücke für einen Tag.
Seit wann war Cale denn schwul?
In Fairbury war er doch immer nur mit Mädchen zusammen gewesen. War er etwa ein homosexueller Callboy? Kam er so an das viele Geld für dieses unglaubliche Apartment? Lilly fröstelte bei dem Gedanken daran. Nicht dass es sie störte, dass er seine sexuelle Bestimmung in der Männerwelt gefunden haben konnte, aber dass er sich für Geld verkaufte, war fast zu viel für ihren naiven Verstand.
Als kleines Mädchen hatte sie ihn immer angehimmelt, war ihm nachgelaufen, wenn er Dawson auf der Farm besuchte. Wenn Cale sprach hing sie an seinen Lippen obwohl er damals bei weitem nicht dem Traummann glich der er heute war. Doch dann war er von einem Tag auf den anderen gegangen. Zurück blieben von ihm nur die Postkarten, die er ihr zu jedem Geburtstag schickte und auf denen immer dieselben Worte standen: Alles Liebe zum Geburtstag meine Süße. Halt die Ohren steif und lass dich nicht unterkriegen. Dein Cale.
Sieben Jahre lang wartete Lilly auf diese Geburtstagskarten, fragte sich, wie es Cale wohl ging. In einem kurzen Telefonat zwei Wochen vor ihrer Ankunft in New York hatte er ihr erzählt, dass er für einen Anwalt arbeitete, dass ihm der Job höllischen Spaß machte. Cale hörte sich glücklich an, also, weshalb maßte sie sich an seine Lebensumstände zu beurteilen? Schließlich wusste sie nicht einmal sicher, ob ihre Vermutung der Wahrheit entsprach und selbst wenn ja, hatte er sicher seine Gründe dafür und sie durfte das weder beurteilen noch verurteilen. Es war schließlich sein Leben.
Lilly ging in ihr Zimmer zurück, während Cale auf Party Tour ging. Sie selbst war nie ein Partytiger gewesen. Zumal sich Partys in Fairbury und Umgebung auf die wöchentlichen Tanzabende oder Besuche im Diner beschränkten. Für die jungen Menschen der Gegend hielten sich die Möglichkeiten, mal ordentlich einen drauf zu machen, wirklich in Grenzen. Andererseits machte sie sich einfach nichts draus ihre Zeit damit zu verschwenden sich gegenseitig anzuschreien, weil die Musik so laut war, dass man sein eigenes Wort kaum verstand. Außerdem hatte sie ohnehin nicht sonderlich viele Freunde, mit denen sie hätte Party machen können. Also blieb sie meist auf der Farm. Vielleicht würde sich das nun in New York ändern, aber sie war nicht deswegen über zweitausend Meilen mit dem Bus gefahren. Vorrangig wollte sie sich auf ihr Studium konzentrieren. Ein Studium, das sie schon so lange vor sich herschob, weil ihr ihre Mutter immer ein schlechtes Gewissen einzureden versuchte. Schon seit vielen Jahren fühlte Sharon sich auf der Farm einsam, denn eigentlich war sie dort in all den Jahren genau so wenig angekommen wie ihre Tochter. Doch während Lilly die Möglichkeit zur Flucht endlich ergriff und gegangen war, blieb Sharon diese Option bei einem tyrannischen Ehemann wie Harvey Morton nicht. Er hätte sie ganz sicher zurückgeholt. Und das nicht zwangsläufig aus Liebe, sondern nur um zu demonstrierten, dass er sie als seinen Besitz ansah. Dabei hoffte Lilly inständig, dass sie selbst in New York endlich in Sicherheit sein würde.
Seit ihrem Entschluss, endlich zu studieren, sprach ihr Stiefvater Harvey kein Wort mehr mit Lilly, weil ihm eine Arbeitskraft verloren ging. Immerhin war sie seit langem nicht nur für die Pferde, sondern auch für die Buchhaltung verantwortlich. Lilly musste mitarbeiten, so wie alle auf der Farm ihren Beitrag leisteten um den Betrieb am Laufen zu halten. Doch während sie die Arbeit mit den Pferden liebte, weil es etwas unglaublich Friedliches hatte, hasste sie es Zahlen zu jonglieren, Verkäufe und Auktionen zu organisieren, ständig mit Futtermittelherstellern über Preise zu verhandeln oder die Viehpreise zu beobachten. Ein Job, der sie weder ausfüllte, noch ihr sonderlich große Perspektiven eröffnete, außer den lieben langen Tag in der Nähe der Menschen sein zu müssen, die sie hasste.
Lilly träumte davon ihr eigenes Buch zu veröffentlichen, an dem sie schon seit Jahren schrieb. Ein Buch, in dem sie ihr eigenes Leben aufarbeitete. Ein Buch, in dem sie mit ihrer Familie abrechnete.
Obwohl sie letztlich fiktive Charaktere verwendete, und ihre Geschichte nicht als Biografie erzählte, war ihre Mutter, seit sie es heimlich gelesen hatte, stocksauer auf Lilly, weil sie der Meinung war, dass ihr ihre eigene Tochter damit in den Rücken fiel. Ihr mit den Zeilen, die sie schrieb, ein Spiegelbild vorhielt, das sie selbst nicht sehen wollte. Für sie waren all die Dinge von denen Lilly erzählte, frei erfunden. Sie wollte nicht hören wie ihre Tochter unter der Kontrollsucht ihres Stiefbruders litt, wie sie von ihrem Stiefvater gedemütigt wurde.
Eigentlich war die Farm in Fairbury, die schon in vierter Generation von den Mortons bewirtschaftet wurde und am Rande der Rocky Mountains lag, ein idyllisches Fleckchen Erde. Eine Gegend in der man Ruhe und Frieden finden konnte, aber nicht auf Mortons Run. Dort zählte nur harte Arbeit, das Gefüge der Familie und Lilly passte da einfach nicht hinein, egal wie sehr sie hineingezwängt wurde. Sie wollte einfach kein Teil dessen mehr sein und so floh sie nach New York. Lilly wollte endlich ihren eigenen Weg finden, sich ihre eigene Zukunft aufbauen. Vor allem fliehen was auf der Farm geschah. Ihr war klar, dass das kein leichtes Unterfangen werden würde, denn ihre wenigen Ersparnisse reichten vielleicht für einen Monat. Wenn sie wirklich Acht gab eventuell für zwei, falls sie sich keine Wohnung suchen musste. Je länger sie bei Cale unterkriechen durfte, desto mehr Zeit blieb ihr auch, einen Job zu finden, mit dem sie sich ihr Studium ohne Unterstützung ihrer Familie finanzieren konnte. Dabei war sie nicht so blauäugig zu glauben, New York würde nur auf Alyssa Emilia Cole aus Montana warten. Diese Art von Selbstüberschätzung war nie eine Charaktereigenschaft gewesen die Lilly ihr Eigen nannte. Trotzdem hoffte sie darauf sich wenigstens einen Job in der Verlagsbranche ergattern zu können und nicht gerade in einer Bar Cocktails mixen zu müssen.
Als Lilly von ihrem Wecker aus dem Schlaf gerissen wurde brauchte sie einen Augenblick um sich zu sortieren. Die halbe Nacht hatte sie sich im Bett herumgedreht, weil sie nicht schlafen konnte. Mit ihrer Ankunft in New York war sie sich wieder der Angst bewusstgeworden, die sie trotz allem all die Jahre daran gehindert hatte diesen Schritt zu tun, Montana zu verlassen. Obwohl sie dort nie glücklich war, war es doch ihre Heimat. Die einzige Heimat, die sie kannte, seit sie den Trailer-Park in LA verlassen musste. Doch nun war sie in der großen Stadt angekommen und obwohl sie bei Cale untergekrochen war, fühlte sie sich einsam, ein wenig verlassen fast. Denn Lilly war nie gezwungen gewesen selbstständig zu sein. Ihr ganzes Leben war bisher von ihrem Stiefvater geordnet und von ihren Stiefbrüdern bestimmt worden. Entscheidungen wurden für sie getroffen und Lilly wehrte sich nie dagegen, weil ihr die Kraft dazu einfach fehlte.
Doch nun war das anders. In New York war sie auf sich allein gestellt. Auch, weil sie es so wollte. Natürlich hätte sie auch in Montana studieren können, obwohl Harvey immer der Meinung war, ein Studium sei für eine Frau nur Zeitverschwendung, da Frauen prinzipiell an den Herd gehörten. Aber in diesem grundsätzlichen Wunsch unterstützte Sharon ihre Tochter zumindest, verteidigte sie ihrem Mann gegenüber so gut sie konnte. Doch als sie beschloss in New York zu studieren, anstatt in der Nähe der Farm zu bleiben, begann auch Sharon an dem Vorhaben ihrer Tochter zu zweifeln. Sie und ihre Mutter waren nie ein wirklich gutes Team gewesen. Im Grunde standen sie sich nicht einmal besonders nahe, weil sie sich meist nichts zu sagen hatten, weil die Erwartungen, die sie an ihr Leben stellten, sich nicht vereinen ließen. Trotzdem, und vielleicht auch genau deswegen, war Lilly fest entschlossen ihren Weg zu gehen. Sie wollte ihrer Mutter beweisen, dass man sich auch als Frau nicht zufriedengeben musste, nur weil der Mann, mit dem man verheiratet war, einen ernähren konnte. In der modernen Zeit, in der sie lebten brauchte eine Frau keinen Mann um sich selbst zu definieren. Eine Frau durfte ihre eigenen Entscheidungen treffen, eigenverantwortlich handeln. Doch Harvey Morton war ein Mann vom alten Schlag und genau deswegen war der Weg den Lilly nun eingeschlagen hatte, der einzig Richtige … zumindest für sie.
Nach einem schnellen Sprung unter die Dusche band Lilly ihr noch nasses Haar zu einem Knoten zusammen und schlenderte im Bademantel in die Küche um zu frühstücken. Wenn sie sich recht erinnerte hatte sie irgendwo ganz hinten im Kühlschrank eine Packung Milch gesehen, die hoffentlich noch nicht sauer war und eine offene Packung Müsli stand neben der Spüle. Mehr, woraus man irgendwie hätte ein Frühstück zubereiten können, hatte Cale, aus welchen Gründen auch immer, offensichtlich nicht in der Wohnung. Doch als Lilly einigermaßen wach in die Küche stapfte, bemerkte sie Cale, der mit zerzausten Haaren und ruinierten Klamotten auf dem Boden hockte. Völlig teilnahmslos starrte er ins Leere, reagierte gar nicht darauf, dass seine Freundin schockiert und besorgt vor ihm in die Knie ging. Erst, als sie ihre Arme um ihn schlingen wollte, weil sie das Bedürfnis überkam ihn trösten zu müssen, hob er abweisend die Hand: „Lass.“ „Cale“, Lillys Stimme zitterte, „was ist denn passiert?“ Sie bekam keine Antwort. Stattdessen sank sein Blick wieder starr zu Boden.
Lilly schauderte bei dem Anblick, den ihr Freund ihr in diesem Augenblick bot. Nichts war mehr zu sehen, von dem lebenslustigen, jungen Mann der am Abend zuvor fröhlich grinsend das Apartment verließ um Party zu machen. Ganz im Gegenteil, nun wirkte er geradezu apathisch.
„Cale, bitte sag doch was. Du machst mir Angst“, ihre Augen füllten sich mit Tränen und plötzlich wurde ihr klar, was mit ihm passiert sein musste. Genauso ging es ihr, genauso fühlte sie sich, wenn sie zu Dingen gezwungen wurde, die sie nicht tun wollte. Dinge, die ihre Seele zerstörten. Es war der gleiche nichtssagende Blick, dem sie begegnete, wenn sie selbst in den Spiegel blickte. Es war dieselbe Hilflosigkeit, die seine Haltung ausdrückte.
Cale war zu etwas gezwungen worden, was er nicht begreifen konnte!
Diese Feststellung fuhr Lilly durch Mark und Bein, weil sie all die Gefühle, die nun in ihm tobten, nur zu gut kannte.
„Cale, bitte sieh mich an“, behutsam legte sie einen Finger unter sein Kinn, zwang ihn, den Kopf zu heben und sie anzusehen. Seine wunderschönen Augen starrten sie tot an. Nichts war darin zu lesen, nichts außer tiefer Verzweiflung und Angst.
„Ich bin hier Cale. Red mit mir, lass mich dir helfen“, Lilly war, als würde sich sein Schmerz um ihr Herz legen und langsam zudrücken. Dabei flehten ihre Augen ihn an, doch endlich etwas zu sagen. Doch sie wusste aus eigener Erfahrung, dass ihm alle Worte fehlten. Dass er nicht in der Lage war zu beschreiben, was geschehen sein musste. Lilly hoffte so sehr, dass sie sich irrte. Einem großen, starken Mann wie Cale konnte so etwas Schreckliches nicht geschehen sein.
Noch während Lilly ihn verzweifelt ansah und auf eine Reaktion wartete, erhob Cale sich plötzlich. Sein versteinerter, ängstlicher Gesichtsausdruck wich einem schüchternen Lächeln: „Wann willst du zum Campus?“ „Was?“ Lilly starrte ihn verwirrt an. Mit einem solch plötzlichen Stimmungsumschwung hatte sie nicht gerechnet. Es schien beinahe so, als hätte er die Schublade, in die er all diese demütigenden Erfahrungen verstaute, abgeschlossen und auf einen Schlag vergessen. Oder aber er war ein verdammt guter Schauspieler.
„Ich geh schnell duschen, dann fahren wir zusammen. Okay“, mit einem Mal stand vor ihr nicht mehr der Mann, der noch gerade eben apathisch auf dem Boden gesessen hatte. Sondern der Mann, der sie vor wenigen Stunden vom Busbahnhof abholte.
Verdattert erwiderte Lilly: „Okay, soll ich noch schnell Frühstück machen?“ „Nein, wir essen unterwegs. An der Ecke gibt es ein wundervolles kleines Lokal. Dort kann man ganz wunderbar frühstücken. Die machen ganz frische Croissants“, ohne eine Antwort abzuwarten, drehte Cale sich um und verschwand in seinem Zimmer.
Was war das denn nun?
Verwirrt blieb Lilly zurück. Gerade eben noch saß Cale, leichenblass und völlig durch den Wind, auf dem Boden und im nächsten Moment sah er sie lächelnd an und erzählte ihr was von frischen Croissants?
Nein, ein solcher Stimmungsumschwung sah einem Mann nicht ähnlich. Irgendetwas musste in der vergangenen Nacht, während sie selbst sich im Bett herumwälzte und versuchte sich an ihr neues Leben zu gewöhnen, geschehen sein das ihn derart aus der Bahn warf.
Wie lange saß er wohl schon in der Küche auf dem kalten Marmorboden, bevor sie aufgetaucht war? Minuten? Stunden vielleicht?
Lilly war fest entschlossen ihn zu fragen. Sie wollte wissen was geschehen war, weil sie ihm helfen wollte. Sie wusste nur zu gut, was die Brutalität anderer Menschen mit einem selbst anstellen konnte und Cale hatte genau so ausgesehen, wie sie in manchen Nächten, wenn sie in den Spiegel sah: verzweifelt, verwirrt, verstört. Lilly sah die Angst, weil sie sie nur zu gut kannte.
Cale war schrecklich still, als sie nebeneinanderher zu dem kleinen, französischen Café an der Ecke schlenderten. Lilly versuchte sich damit abzulenken, das Getümmel der Stadt zu beobachten, versuchte die Blicke der Menschen zu erhaschen, die an ihr vorbei hasteten. Aber sie bemerkte schnell, dass die Anonymität der Großstadt eine solche, fast schon intime, Art der Kontaktaufnahme nicht zuließ. Irgendwie fühlte sie sich wie auf einem anderen Planeten. Alles war so anders, so neu und so schön. Sie spürte, dass sie sich im Gewirr dieser riesigen Stadt verlieren würde und darauf freute sie sich sehr.
In einer kleinen Stadt wie Fairbury kannte Jeder Jeden. Alles was man tat wurde beobachtet. Jeder fragte einen nach seinem Befinden oder suchte ein kleines Schwätzchen. In New York war das alles ganz anders. Diese Stadt duftete nicht nach Heu, Rindern und Freiheit, sondern nach Leben. Ein Leben, auf das Lilly sich mit Haut und Haar einlassen wollte. Sie fühlte, dass ihre Chance, endlich von vorne zu beginnen, gekommen war und sie war bereit mit beiden Händen danach zu greifen. Obwohl sich unter ihr kein Netz und kein doppelter Boden befand. Obwohl sie niemand auffangen würde, wenn sie auf die Schnauze fiel. Ihr war klar, worauf sie sich ein ließ, wenn sie glaubte in einer Stadt wie New York Karriere machen zu können.
Lilly wollte unbedingt Schriftstellerin werden und nebenbei als freie Journalistin arbeiten. Ihr erstes Buch lag längst mehr oder weniger fertig auf der Festplatte ihres Laptops, bereit die Welt zu erobern, doch noch fehlte ihm der Feinschliff. Lilly ging mit ihrer Art zu schreiben sehr kritisch ins Gericht. Immer wieder änderte sie Passagen, schrieb teils ganze Abschnitte um. Vielleicht war sie dabei auch ein wenig zu selbstkritisch, aber ihr Werk musste einfach perfekt sein, wenn sie es auf den Weg bringen wollte. Wenn sie irgendwann wirklich den Mut fand der ganzen Welt ihre Geschichte zu erzählen.
„Woran denkst du“, fragte Cale, der selbst völlig in sich gekehrt schon seit Minuten in seinem Latte Macchiato rührte.
Lilly sah zu ihm auf. Die Frage, was mit ihm passiert war, lag ihr auf der Zunge, doch sie spürte instinktiv, dass das hübsche, kleine Café, in dem sie ihr Frühstück nachdenklich hinunterschlangen, nicht der richtige Ort war um über wirklich Wichtiges zu sprechen. Also antwortete sie: „Ich hab ein bisschen Angst.“ „Wovor?“ Interessiert hob Cale den Kopf.
Lilly dagegen wich seinem fast ängstlichen Blick aus. Nur nicht in irgendwelchen Kamellen rühren, möglichst Unwichtiges reden war ihre Devise an diesem Morgen: „Die Uni.“ „Da wirst du schon klarkommen. Du bist doch ein schlaues Mädchen.“ „Deswegen mach ich mir auch keine Sorgen. Aber ich brauch dringend einen Job mit dem ich mir eine kleine Wohnung oder wenigstens ein Zimmer in irgendeiner WG leisten kann.“ „Du kannst bei mir bleiben solange du willst.“ „Danke, aber du hast dein eigenes Leben. Da willst du doch sicher nicht ständig deine kleine Schwester um dich rumhaben“, Lilly lächelte ihn liebevoll an.
Ja, seine kleine Schwester hatte er sie vor gefühlt 100 Jahren immer genannt!
„Du bist süß. Ich hätte gern eine kleine Schwester wie dich. Was tun wir denn heute den ganzen Tag?“ Auch Cale schien nicht an ernsthaften Gesprächsthemen interessiert zu sein und Lilly spielte das Spiel mit: „Also, ich weiß ganz sicher, was ich vorhabe, aber was tust du?“ „Ich werde dich begleiten. Schließlich kennst du dich doch in der großen, neuen Stadt nicht aus und heute Abend machen wir beide so richtig einen drauf. Schließlich musst du New York bei Nacht kennenlernen bevor am Montag für dich der Ernst des Lebens anfängt.“ „Ich hab dich wirklich lieb“, freudestrahlend schlang Lilly ihre Arme mitten in dem inzwischen fast schon überfüllten Café um Cales Hals. Ja, er war ihr ein Freund. Endlich einmal ein Kerl, der nicht mehr von ihr wollte.
Lilly war überwältigt von der Universität. Schon vor 4 Jahren, nach ihrem High-School Abschluss, hatte sie sich an vielen Unis beworben um englische Literatur zu studieren. Aber damals war es ihre Mutter, die sie dazu überredete, doch in Montana zu bleiben. All die Jahre bereute Lilly diese Entscheidung, weil sie sich auf der Farm eingeengt fühlte. Weil es einfach nie wirklich ein zu Hause für sie geworden war. Doch nun begann dank eines Vollstipendiums ein neuer Abschnitt ihres Lebens und sie freute sich mit jeder Faser darauf.
„Los komm“, Lilly griff nach Cales Hand, „ich möchte mir noch das Wohnheim ansehen. Vielleicht ergibt sich da ja was für mich.“ „Oh Lilly“, Cale war genervt, „was willst du denn da? Ich hab dir doch gesagt, dass du bei mir bleiben kannst.“ „Ja, … trotzdem“, erwiderte Lilly aufgekratzt und lief mit dem Lageplan in der Hand einfach los. Natürlich ging Cale ihr nach. Was hätte er auch sonst auf dem Uni Campus tun sollen? Außerdem waren ihm die schmachtenden Blicke der vielen spätpupertären Mädchen um ihn herum zu anstrengend.
Ungeduldig blieb Lilly am Eingang zum Wohnheim, zwei Blocks von der Uni entfernt, stehen. Ihr war klar, dass Cale all das, was für sie so neu und aufregend war, nervte. Aber sie war ihm trotzdem unglaublich dankbar dafür, dass er nicht schlappmachte und sie begleitete. Dass er ihr zur Seite stand und ihr ihr aufgekratztes Verhalten verzieh.
Lilly konnte sich ein dickes Grinsen nicht verkneifen, als sie sich zu Cale, der gelangweilt hinter ihr her trottete, umdrehte. Eine kleine Gruppe Mädchen, an denen er vorbeigegangen war, blieb stehen und drehte sich nach ihm um. Lilly kam nicht umhin, ihnen klar zu machen, dass dieser unglaublich gutaussehende Kerl ihre Begleitung war. Denn besitzergreifend streckte sie ihm ihre Hand entgegen und sagte gerade so laut, dass es ihre direkte Umgebung verstehen konnte: „Nun komm schon Schatz.“ Verdutzt, aber für die Girls nicht erkennbar, weil sie in seinem Rücken standen, sah er Lilly an. Und sie konnte an seinem Grinsen sehen, dass er das Spiel mitspielen würde: „So schnell ich kann mein Liebling.“
Beherzt schlang Cale seinen Arm um Lillys Taille und zog sie fest und unmissverständlich an sich. Dabei flüsterte er: „Ich konnte diese pubertierenden Kinder noch nie leiden.“ „Naja, die bist du erst mal los. Du solltest halt auch nicht so scheiße gut aussehen. Wahrscheinlich glauben die eh nicht, dass ein Kerl wie du mit `ner Tussi wie mir zusammen ist.“ „Stell dein Licht nicht immer unter den Scheffel. Du bist ein tolles Mädchen und wenn dich mein Stylist durch die Mangel gedreht hat, werden die Typen mich heute Abend um deine Begleitung beneiden“, antwortete Cale und kniff Lilly für alle sichtbar in den Hintern.
Lilly jauchzte überrascht auf: „Cale.“ Mit gespielter Empörung schlug sie ihm auf die Finger.
Oh Gott, wie sie seine wundervoll unbeschwerte Art liebte. Schon damals, bevor er Fairbury verließ hatte er ihr damit den Kopf verdreht. Sie war ein kleines, dummes Mädchen gewesen und er der unerreichbar, coole Typ. Lilly war glücklich. Vielleicht sogar war sie es das erste Mal in ihrem Leben wirklich.
Lilly konnte die neidischen Blicke der Mädchen in ihrem Rücken spüren und es fühlte sich wunderbar an. Noch nie war jemand auf sie eifersüchtig gewesen, aber diese drei brünetten Girls, die sich so unnatürlich glichen, als hätte sie derselbe Stylist nach demselben Muster gepimpt, waren es. Das konnte sie fühlen. Lilly spürte, wie ihr Selbstbewusstsein einen kleinen, fast vorsichtigen Satz machte und endlich wieder einmal hinter der Mauer, hinter der es sich all die Jahre versteckt hatte, hervor lugte.
„Ich hab kein Geld für einen Stylisten“, flüsterte Lilly Cale zu, als sie sich stolz und zufrieden an seine Schulter kuschelte, als sei er wirklich ihr Freund. Er lehnte einen Moment lang seinen Kopf an den ihren: „Mach dir deswegen mal keine Sorgen. Carlos ist ein guter Freund von mir. Er kommt um halb sechs. Du wirst dich nicht mehr wiedererkennen, wenn er mit dir fertig ist.“ „Das fürchte ich auch“, erwiderte Lilly mit einem Lächeln auf den Lippen, dass mehr Skepsis ausdrückte als Freude. Sie hasste, was Cale offenbar mit ihr vorhatte und doch würde sie sich dem niemals widersetzen, weil ihm dieser Abend wichtig zu sein schien und sie sich geschworen hatte, ein wenig offener zu werden. Lilly wollte nicht als Mauerblümchen versauern, wo sie doch nun in einer der aufregendsten Städte der Welt lebte.
Lilly war der Option, ins Wohnheim zu ziehen, eigentlich nicht abgeneigt. Immerhin war es eine günstigere Alternative, als sich ein Einzimmerapartment suchen zu müssen oder mit wildfremden Menschen in einer WG zu leben. Allerdings gehörte sie dort, mit ihren 22 Jahren für eine Erstsemester eher zur älteren Garde und ob sie mit den jungen “Mädchen“ um sich herum, die ständig nur von Jungs und Partys sprachen, würde etwas anfangen können, bezweifelte sie stark. Deshalb wäre ihr ein Einzelzimmer am liebsten gewesen, aber die waren rar gesät und noch viel schwieriger zu ergattern. Also schob sie die Option Wohnheim erst einmal bei Seite und hoffte, dass sie noch eine Weile bei Cale unterkriechen konnte um Geld zu sparen.
Was Lilly aber auf jeden Fall tat, war am schwarzen Brett im Wohnheim nach Jobangeboten für Studenten zu suchen. Aus den vielen Angeboten suchte sie sich mehrere heraus, um sich bewerben zu können. Dabei hörte sich eines ganz besonders interessant an: Beim E.B. Publisher wurde eine Praktikantin gesucht. Natürlich machte Lilly sich keine Hoffnung darauf, dass dieser Job über Botengänge und Kaffee kochen oder irgendwelches Zeug kopieren hinausreichen würde. Aber er wurde bezahlt und sie bekam zumindest einen Fuß in die Tür eines Verlages. Also riss sie sich die E-Mail-Adresse vom Board und steckte den Abschnitt in das Case ihres Smartphones.
Cale lachte, weil das alte Ding fast auseinanderfiel und das Handy, das darin steckte seine besten Tage längst hinter sich hatte. Aber Lilly war das egal. Schließlich war sie kein Kind reicher Eltern und für das Handy, das wirklich nicht mehr zu den modernsten gehörte, aber dennoch tadellos funktionierte, hatte sie lange gespart. Außerdem war sie kein Mensch, der Dinge austauschte, nur weil bereits neue, leistungsfähigere Technik auf dem Markt war. Auch wenn Lilly und ihre Mutter nicht die besten Freunde waren, war sie ihr doch dankbar dafür, dass sie ihr beigebracht hatte, den Wert eines Gegenstandes zu schätzen.
Lilly war von all den neuen Eindrücken völlig überwältigt und total erledigt, als sie mit Cale das Apartmenthaus betraten, in dem sie wohnten. Auf dem Weg zum Aufzug teilte ihnen der Portier mit, dass im Apartment Besuch auf sie wartete. Lilly wunderte sich darüber, doch offensichtlich war es in diesen Wohnhäusern üblich, dass Personen, die im Vorfeld vom Mieter angemeldet waren, auch mal in die Wohnung gelassen wurden ohne, dass jemand anwesend war.
Sofort bemerkte Lilly, dass Cales Augen zu leuchten begannen, als er den Namen des Besuchers hörte. Offensichtlich war dieser Carlos mehr als einfach nur ein Freund. Aber fragen wollte sie ihn nicht danach, als sie in den Fahrstuhl stiegen und hinauffuhren. Auf gar keinen Fall wollte sie in seiner Privatsphäre herumrühren. Wenn Cale mit ihr über seine Beziehung zu Carlos reden wollte, dann würde er das irgendwann ganz sicher auch tun.
„Hey Alter“, Cale hatte kaum die Tür geöffnet, kam Carlos ihm bereits entgegengesprungen und zog ihn in eine innige Umarmung. Lilly kam sich bei der Herzlichkeit, mit der sich die beiden begegneten, mit einem Mal seltsam überflüssig vor. Cale und Carlos waren definitiv mehr als nur Freunde und es dauerte einen Augenblick, bis Cale sich aus der Umarmung löste um ihr seinen Freund vorzustellen: „Süße, das ist Carlos. Alter, das ist meine alte Freundin Alyssa.“ „Freut mich“, Lilly reichte Carlos die Hand, „nennen sie mich doch bitte Lilly.“ „Klar doch“, erwiderte Carlos und zog mit einem Mal so ruckartig an ihrer Hand, dass sie geradezu in seine Arme fiel und er sie an sich ziehen konnte, wie er es einen Augenblick zuvor bei Cale getan hatte. Lilly war von dieser Spontanität völlig überrascht. Für einen Moment war sie kaum in der Lage seine Herzlichkeit zu erwidern. Doch Carlos schien das nicht zu stören. Er strahlte Lilly mit einer so wundervollen, inneren Wärme an, dass sie sofort wusste, dass sie den etwas untersetzten Südamerikaner mit den aufgeweckten Augen mochte.
„Das ist ja ne ganz Niedliche“, ein verschmitztes Lächeln spielte um Carlos Lippen, als er Cale in die Seite stupste und Lilly dabei aufmerksam beäugte. Sie fühlte sich etwas unwohl in ihrer Haut, als er sich mit Zeigefinger und Daumen immer wieder das Kinn rieb und sie dabei von oben bis unten begutachtete, als überlegte er sich, was denn aus ihr zu machen sei.
„Hallo“, empört unterbrach Lilly das Getuschel der beiden Männer, die sich hinter vorgehaltener Hand ganz offensichtlich über sie unterhielten, sie dabei aber absichtlich links liegen ließen.
Cale zwinkerte ihr zu: „Carlos macht aus dir eine Prinzessin.“ „Wozu?“ „Na, du dummes Huhn“, Carlos wirkte sehr aufgekratzt, „damit du den Männern heute Abend den Kopf verdrehen kannst.“ „Moment…“, Lilly wich einen Schritt zurück, „was habt ihr beide ständig mit heute Abend?“ „Cale hat VIP Karten für einen der angesagtesten Clubs der Stadt und da gehen wir drei heute Abend hin“, voller Freude hüpfte Carlos, wie ein Gummi-Flummi auf der Stelle. Doch Lilly verspürte plötzlich die Angst vor ihrer eigenen Courage. Sie wollte zwar offener sein, doch es auch wirklich umzusetzen kostete sie nun doch zu viel Überwindung: „Ich geh nirgendwo hin. Ich war noch nie in einem Club. Dazu hab ich keine Lust und Klamotten ohnehin nicht.“ „Lass das mal unsere Sorge sein“, erwiderte Cale todernst.
Offenbar nahmen die beiden Herren ihre Meinung zwar zur Kenntnis, schienen sich aber dennoch nicht sonderlich dafür zu interessieren, dass Lilly noch nicht bereit war in einem Club abzufeiern. Den ganzen Tag hatte sie versucht Cales Ankündigung zu ignorieren, doch offenbar war das kein Scherz gewesen. Cale und Carlos hatten längst beschlossen Spaß zu haben und sie dachten überhaupt nicht daran Lilly eine andere Wahl zu lassen als mit ihnen zu gehen.
Trotzdem, obwohl sie längst begriffen hatte, dass sie ihr wirklich keine andere Wahl lassen würden, war Lilly sehr darum bemüht, den Beiden zu zeigen, dass sie mit ihren Plänen überhaupt nicht einverstanden war. Sie wollte den Abend nicht in irgendeinem Club verbringen. Sie wollte sich gemütlich auf ihre Couch werfen, sich irgendeinen Scheiß im Fernseher ansehen und ihre neugewonnene Freiheit auf ihre Weise genießen. Aber ihre Einwände wurden nicht geduldet. Stattdessen organisierte Cale erst einmal eine Flasche Wein und reichte Lilly ein Glas, während Carlos sich an ihr Styling machte.
Carlos war in etwa so groß wie Cale. Dunkles, fast schwarzes Haar und strahlend braune Augen. Aber er war ein ganz anderer Typ Mann, als Cale. Carlos verbarg nicht, dass er homosexuell war. Jede seiner unzähligen Gesten deutete darauf hin und Lilly gefiel das. Hieß es doch, dass er mit seinem Leben im Reinen war. Etwas, worum sie ihn beneidete.
Lilly versuchte Carlos, mit einer Peeling Maske im Gesicht und einem Glas Weißwein in der Hand, zu beobachten, aber das war gar nicht so einfach, denn er schien keine Sekunde still zu halten. Trotzdem stellte sie fest, dass er auf seine Art ein gutaussehender Mann war. Trotz eines leichten Bauchansatzes, der unter seinem enganliegenden, leuchtend blauen Seidenhemd zu erkennen war, wirkte er sehr gepflegt. Sicher verbrachte er in einer Woche wesentlich mehr Zeit damit sich zu peelen, cremen und waxen, als Lilly das jemals getan hatte. Dabei passte das eigentlich überhaupt nicht zu seinem Latino Image. Irgendwie war dieser Kerl ein wandelnder Widerspruch. Aber er war süß und so hörte Lilly auch irgendwann auf zu protestieren und ließ ihn einfach machen.
Ganz sicher wusste er was er tat … im Gegensatz zu ihr!
Nach einem gründlichen Peeling samt Gesichtspflege, Lilly wunderte sich doch sehr darüber, was Carlos alles an Beautyprodukten aus seinem goldfarbenem Aluminiumkoffer hervorzauberte, versuchte er sich an ihren widerspenstigen Locken. Dabei überkam Lilly schon fast die Angst, er könnte zur Schere greifen, als er eine Ewigkeit lang um sie herumging, sich immer wieder eine ihrer wilden Strähnen griff, daran zog, begutachtete und wohl offensichtlich abzuwägen versuchte, was an dieser Frisur noch zu retten wert sein könnte. Dabei murmelte er pausenlos vor sich hin, schüttelte den Kopf um dann wieder in seinem Koffer nach den richtigen Hilfsmitteln zu suchen, die ihm bei der Bekämpfung des Desasters auf ihrem Kopf, eventuell helfen konnten. Schließlich wies er Lilly etwas barsch an, sie solle ihre Haare waschen, wobei er ihr ein Shampoo in die Hand drückte. Lilly verschwand ohne Protest ins Bad, während Carlos nach drei riesigen Kleidersäcken griff, die die ganze Zeit an der Tür zum Badezimmer hingen und Lilly sich fragte, was sich wohl darin verbarg.
Ganze drei Stunden verbrachte Carlos damit Lilly auf Vordermann zu bringen. Wobei er nicht müde wurde, immer wieder zu betonen, welch Schwerstarbeit er mit ihr doch zu leisten hatte. Dabei wuchs Lillys Unmut von Minute zu Minute. Während Carlos und Cale sich mit einer Flasche Wein langsam in Stimmung brachten, stellte sie ihr Glas irgendwann unbeachtet zur Seite. Sie mochte keinen Alkohol und vertrug ihn dementsprechend auch nicht. Deshalb mied sie es für gewöhnlich zu trinken und diesen Vorsatz würde sie auch im Club beherzigen. Denn ihr war längst klar, dass sie aus der Nummer mit der bevorstehenden Partynacht nicht mehr rauskam. Ganz egal wie sehr sie dagegen protestierte.
Während Cale und Carlos in ihren schicken Klamotten, Cale trug zur dunkelblauen Designerjeans ein weißes Shirt und ein maßgeschneidertes blaues Sakko und Carlos stolzierte in einem schwarzen, wohl ebenfalls maßgeschneiderten Anzug herum, den er mit einem zartrosa farbenem Hemd kombinierte, in der Küche an der Frühstücks-Tresen saßen und sich nun schon die dritte Flasche Wein gönnten, stand Lilly vor dem großen Spiegel in ihrem Zimmer. Ganz egal wie sehr sie sich bemühte, sie erkannte die Frau nicht mehr wieder, die sie da ansah.
Carlos hatte ganze Arbeit geleistet. Ganz offensichtlich verstand er sein Handwerk, denn sie sah überhaupt nicht nuttig aus, wie das immer endete, wenn sie selbst versuchte sich schick zu machen. Das dezente Make-Up das er gezaubert hatte, ließ sie aussehen, wie eine Frau, die sich in ihrer eigenen Haut wohl fühlte. Aber das war absolut nicht so, denn in dem schwarzen, viel zu enganliegenden Cocktailkleid und dem bordeauxroten Bolerojäckchen, das mit wunderschöner schwarzer Stickerei verziert war, fühlte sie sich wie eine Fremde im eigenen Körper. Aber sie war wunderschön. Die schmalen Spagettiträger ihres Kleides betonten vor allem ihre Schultern und ihren, ihrer Meinung nach viel zu langen, schlanken Hals, hinderten sie aber auch daran einen ordentlichen BH zu tragen, der bei ihrer doch recht üppigen Oberweite zwingend notwendig gewesen wäre. Doch auch dieses Problem konnte Carlos lösen ohne in Panik zu geraten. Irgendwie hatte er wirklich an alles gedacht und so zog er eine trägerlose Korsage aus seinem Koffer hervor. Natürlich passte diese nicht nur farblich zum Kleid, sondern auch zum schwarzen Spitzenhöschen und den Strumpfbändern, die die hautfarbenen Nylons an Ort und Stelle halten sollten.
Noch nie in ihrem Leben war Lilly so herausgeputzt gewesen. Nicht einmal bei ihrem High-School Abschlussball und dennoch konnte sie sich einfach nicht an den Anblick gewöhnen. Die Frau im Spiegel war einfach nicht sie. Da spielte es auch keine Rolle, dass Carlos sich besonders mit ihren Haaren sehr große Mühe gegeben hatte. Lilly wusste aus eigener Erfahrung, dass es sehr anstrengend war ihre wilden Locken zu bändigen, aber Carlos war nach einigem hadern entschlossen ans Werk gegangen und heraus gekommen war eine traumhafte Frisur, bei der er ihr Haar zuerst mit dem Glätteisen malträtiert und es dann zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte um schließlich einige Strähnen wieder heraus zu ziehen und romantische Wellen hinein zu zaubern. Lilly sah aus wie eine Prinzessin, fühlte sich aber wie im falschen Film. Hatte sie doch irgendwann einmal beschlossen lieber möglichst unauffällig durchs Leben gehen zu wollen, weil es so viel einfacher war sich zu verstecken, wenn man nicht wie ein bunter Hund auffiel. Aber das, was sie nun darstellte, war alles andere als unauffällig.
„Scheiße Lilly“, voller Begeisterung sprang Cale auf, als Lilly endlich aus dem Schlafzimmer kam, „ich erkenn dich ja nicht mehr wieder.“ „Es ist schrecklich“, Lilly wollte vor Verzweiflung heulen, doch sie hatte Angst das Make-Up zu ruinieren, denn damit hätte sie Carlos ganz sicher richtig sauer gemacht bei all der Mühe, die er sich gegeben hatte.
„Hey“, pfiff Carlos gekränkt hervor. Für seine harte Arbeit erwartete er doch ein wenig Dankbarkeit.
„Du bist wunderschön Lilly“, Cale versuchte ihrer Verzweiflung entgegen zu wirken.
„Das bin nicht mehr ich. Bitte, … geht doch allein“, Lilly spürte, wie ihr nun wirklich Tränen in die Augen stiegen. Sofort sprang Carlos herbei und wischte sie ihr mit einem rosafarbenen Taschentuch aus den Augenwinkeln, ehe sie ihr über die Wange liefen: „Stell dich nicht so an Süße. Du bist eine wirklich schöne Frau. Zeig dich und trau dich ja nicht das Make-Up zu ruinieren indem du jetzt anfängst zu heulen. Außerdem rate ich dir dringend diese scheußliche Brille in den Müll zu werfen.“ Liebevoll lächelte Carlos Lilly an. Warum nur fehlte ihr jegliches Selbstvertrauen?
„Lasst uns endlich gehen. Wir sind ohnehin schon spät dran“, Cale stellte sein Weinglas in die Spüle und griff nach dem Wohnungsschlüssel, den er lässig in seiner Hosentasche verschwinden ließ. Carlos reichte Lilly ihre, zum Bolero passende Clutch und bot ihr dann seinen Arm, damit sie sich bei ihm unterhaken konnte. Zögerlich nahm Lilly sein Angebot an und ließ sich von ihm halten, während Cale ihr in die bordeauxroten Monster Heels half.
Woher hatten die beiden nur all die Sachen? Allein das Kleid kostete das Vermögen von 580$. Das hatte sie gesehen, als Carlos versuchte still und heimlich das Preisschild abzumachen, nachdem sie das Kleid bereits angezogen hatte. Wie viel mochten dann erst die Jacke und die Schuhe gekostet haben? Lilly versuchte darüber erst gar nicht nachzudenken, während sie sich darum bemühte in diesen schrecklich unbequemen Schuhen stehen zu bleiben und sich nicht die Knöchel zu brechen als sie zusammen die Wohnung verließen. Schließlich war sie es nicht gewohnt auf 12cm Absätzen zu laufen und tanzen würde sie in diesen Schuhen ganz sicher schon mal gar nicht.
Vor dem Haus wartete bereits eine schwarze Limousine auf das Trio, als sie auf dem Gehsteig traten. Immer noch hielt Lilly sich fast krampfhaft an Carlos Arm fest. Schon nach den wenigen Metern vom Apartment zur Limo schmerzten ihre Füße und sie fragte sich, wie sie das den ganzen Abend ertragen sollte, als Cale ihr ein Glas Champagner reichte: „Hier Süße, trink was mit uns.“ „Danke“, erwiderte Lilly und nahm das Glas, ohne die Absicht es auch auszutrinken, entgegen. Dann stieß sie mit den Beiden an. Ihr war eigentlich nicht zum Feiern zu Mute. Gerade erst einmal etwas mehr als 24h lebte sie in New York und fühlte sich, als sei sie längst noch nicht angekommen. Als Mädchen vom Land ging ihr der Puls der Großstadt viel zu schnell. Cale schien sein Leben in einem Tempo zu leben, das der Stadt entsprach. Immer in Bewegung, immer am Limit. Doch Lilly fragte sich, ob er das tat, weil es ihn wirklich glücklich machte. Oder ob er hinter der Fassade des ewig Strahlenden sein wahres Ich verbarg. Lilly tippte eher auf Letzteres, als sie Cale und Carlos beobachtete, während sich die Limousine durch die vollgestopften Straßen Manhattans schlängelte. Diese Stadt schlief wirklich nie.
Auf der Fahrt musterte Lilly Cale und Carlos ganz genau. Sie wirkten sehr vertraut, aber doch seltsam distanziert. Irgendwie so, als wollten sie mehr, konnten es aber nicht. Dabei waren sie zusammen ein so hübsches Pärchen und Lilly fühlte sich fast ein wenig wie das fünfte Rad am Wagen. Es war, als gehörte sie einfach nicht dazu. Während Cale und Carlos ganz aus dem Häuschen waren, wollte Lilly nicht in einem Club bei lauter Musik und völlig überteuerten Getränken die Zeit totschlagen und Geld ausgeben, das sie sinnvoller in ihr Studium investieren konnte. Sie wollte doch einfach nur in der Anonymität der Stadt verschwinden, ihr Leben ordnen und versuchen neue Wege zu gehen.
Die Warteschlange vor dem J`s war so lang, dass Lilly aus dem Staunen nicht mehr herauskam, als sie in der Limo daran vorbeifuhren und schließlich direkt vor dem Eingang hielten. Vor dieser bemühten sich zwei Türsteher darum ihren Job zu tun, die in Statur und Aussehen dem typischen Klischee dieses Berufes entsprachen. Lilly war sich absolut sicher, dass diese Beiden sie niemals in den Club lassen würden, während Cale selbstbewusst an sie herantrat und einem der Beiden die Tickets unter die Nase hielt. Sofort wurde Tylers Miene, der Name stand zumindest auf seinem Namensschild, freundlicher. Cale grinste triumphierend in Richtung der Wartenden, als Tyler zu einem Funkgerät griff, das an seinem Gürtel hing und irgendetwas hineinsprach, das Lilly nicht verstand. Aber sie wusste ganz sicher, dass sie sich noch nie in ihrem Leben so fehl am Platze fühlte, wie in diesem Moment, in dem sie in ihrem Rücken von Einigen, die offensichtlich schon länger auf Einlass warteten, beschimpft wurde. Ein kalter Schauer kroch ihren Nacken empor. Sie konnte einfach nicht verstehen, warum diese Menschen sie so anfeindeten. Schließlich wäre sie in diesem Augenblick überall lieber gewesen, als vor der Tür dieses Clubs.
„Mach dir keinen Kopf“, Carlos spürte instinktiv, dass Lilly sich in ihrer Haut immer unwohler fühlte. Er wollte sie aufmuntern, schlang seinen Arm um ihre, von der Korsage wohlgeformte Taille und zog sie beschützend an sich. Das erste Mal, seit sie sich am Nachmittag kennen gelernt hatten, hatte Lilly das Gefühl einen richtigen Kerl vor sich zu haben. Denn in seinem Arm fühlte sie sich beschützt, sicher, als könne ihr niemand etwas anhaben.
Es dauerte nur wenige Augenblicke, Augenblicke, die Lilly wie eine Ewigkeit vorkamen, bis eine hübsche, Rothaarige in einem megaengen Stretch Kleid an der Tür erschien, um die Gäste hinein zu begleiten. Lilly wunderte sich über diesen Service. In Montana gab es einen solchen, leicht versnobten Service nicht.
Die Rothaarige begleitete das Trio in den abgetrennten VIP Bereich des Clubs wo sie ihnen ihre Lounge zuwies und ihnen dann die Getränkekarte reichte. Carlos sah sie sich nicht einmal an, bevor er Champagner und Mineralwasser bestellte. Die Rothaarige nickte artig und verschwand, was Lilly endlich Gelegenheit bot sich in dem Club umzusehen.
Der VIP-Bereich, in dem sie es sich in einer mit schicken, weichen Polstermöbeln ausgestatteten Lounge, bequem gemacht hatten, befand sich leicht erhöht im hinteren Bereich des Clubs. Dieser Bereich war durch gläserne Raumteiler, die sich offensichtlich verschieben ließen und nur von ihrer Seite aus durchsichtig waren, von den normalen Gästen abgetrennt. Was sicherlich die Privatsphäre der VIP Gäste sichern sollte, Lillys Gefühl, völlig fehl am Platze zu sein, aber auf unangenehme Art nur noch verstärkte. Allerdings empfand sie den Club an sich nicht so abstoßend, wie sie es sich vorgestellt hatte. Was wahrscheinlich auch daran lag, dass die Musik angenehm laut war und sie sich immerhin noch unterhalten konnten ohne sich anschreien zu müssen. Und sowohl Cale, als auch Carlos waren sehr darum bemüht sie in eine Unterhaltung zu verwickeln. Schließlich wollten sie Spaß haben und nicht den ganzen Abend mit einem Trauerkloß am Tisch sitzen.
Nach dem zweiten Glas Champagner taute Lilly auch tatsächlich langsam auf. Was aber ausschließlich am Alkohol lag, der ihre Zunge beflügelte und nicht unbedingt daran, dass sie sich plötzlich wohler fühlte.
Gerade, als Cale Lilly dazu überredet hatte mit ihm die Tanzfläche zu stürmen, trat die Rothaarige an sie heran und stellte eine riesige Platte mit verschiedensten Häppchen auf den Tisch: „Mit den besten Wünschen von Mr.Blake.“ „Oh“, Carlos pfiff anerkennend durch eine süße Zahnlücke, die Lilly bisher noch gar nicht aufgefallen war, „richten sie Mr.Blake unseren Dank aus.“
Die Rothaarige nickte und verschwand unauffällig, während Lilly Cale ansah und fragte: „Wer ist dieser Mr.Blake?“ „Ihm gehört der Club.“ „Ja“, fiel Carlos ein, „dieser und noch ein paar Andere. Ethan Blake ist einer der reichsten Kerle des Landes. Ich hab wirklich noch nie einen so zuckersüßen Typen kennengelernt. Den würd ich sicher nicht von der Bettkannte schubsen.“ „Carlos“, mit gespielter Empörung sah Lilly den Südamerikaner an. Er verdrehte schmachtend die Augen und ließ sich dabei theatralisch in ihren Schoss fallen. Lilly lachte amüsiert, während Cale peinlich berührt den Kopf schüttelte: „Benimm dich, Alter. Wir haben zwei Monate gebraucht um hier rein zu kommen. Da will ich nicht auffallen.“ „Oh Mann, tu bloß nicht so, als würdest du ihn zurückweisen.“ „Das hab ich ja nicht gesagt, aber du weißt doch, dass er total hetero ist.“ „Ja leider“, mit einem zu einer traurigen Fratze verzogenem Gesichtsausdruck, schlug Carlos die Hand aufs Herz, als wolle er es daran hindern aus seiner Brust zu springen.
„Mein Gott Jungs, benehmt euch“, Lilly hatte das Gefühl einen kleinen Streit schlichten zu müssen.
„Dir würde er ganz bestimmt gefallen“, todernst sah Cale Lilly an, rieb sich dabei das Kinn, als müsse er die Tragfähigkeit einer Hängebrücke beurteilen. Sie schüttelte sofort den Kopf: „Hör auf. Ich bin nicht der Typ Frau auf den Männer stehen.“ „Du solltest nicht immer an dir selbst zweifeln oder stehst du etwa generell auf Frauen?“ Carlos neugieriger Blick traf sie, brachte sie einen Augenblick lang zum Nachdenken: „Nein … keine Ahnung … ich glaub nicht. Hab's noch nie ausprobiert.“ „Oh, ein Frischling. Hättest du denn mal Bock drauf? Ich kenn da ein paar Mädels, denen ich dich vorstellen könnte“, wieder rieb Cale sein Kinn. Lilly boxte ihn empört in die Seite: „Nein, bloß nicht. Schluss damit“, Lilly musste dieses peinliche Thema beenden: „Sag mal, kriegt man denn in Clubs immer was zu essen?“ „Klar, warum nicht? Wer eine gute Grundlage bildet gibt mehr Geld für Alkohol aus“, genüsslich schob Carlos sich eine gefüllte Feige in den Mund. Sein Grinsen reichte fast von einem Ohr zum anderen. Ja, Lilly hatte wirklich noch viel zu lernen.
Der Abend nahm seinen Lauf und Lilly fand mit fortschreitendem Alkoholpegel immer mehr Gefallen daran, obwohl sie sich beharrlich weigerte in ihren High Heels die Tanzfläche zu betreten. Sie wollte auf keinen Fall auf die Schnauze fallen und sich in mitten all dieser Leute, die wie wild die Hüften kreisten, blamieren. Etwas, was sicher geschehen wäre, wenn sie als Turnschuhträgerin versucht hätte auf 12cm Mörder Hacken zu tanzen. Doch Cale und Carlos ließen es sich nicht nehmen die Tanzfläche unsicher zu machen und Lilly sah ihnen gern dabei zu. Die Beiden waren wirklich ein schönes Paar und Lilly beschloss Cale bei Gelegenheit mal danach zu fragen, was denn zwischen ihm und Carlos lief, als plötzlich die Rothaarige wieder vor ihr stand und ihr einen Drink überreichte: „Mit den besten Wünschen, von einem besonderen Gast.“ „Oh“, verlegen sah Lilly zu der schlanken, jungen Frau auf, „es tut mir leid, aber richten sie diesem Gast bitte aus, dass ich dieses Getränk leider nicht annehmen kann.“ „Wenn sie wünschen“, mit einem Mal war der Rothaarigen anzusehen, das sie sich wohl ein klein wenig davor fürchtete diesem besonderen Gast Lillys Nachricht zu überbringen.
Weswegen sie Lilly fast ein wenig leid tat, als sie nach dem Glas griff und es wieder auf ihr Tablett stellte, um dann in der Menge zu verschwinden. Lilly versuchte zu erkennen, wem die Rothaarige ihre Abfuhr überbrachte, doch sie verschwand zu schnell im Gewühl der Menschen als dass sie dieses kleine Geheimnis hätte Preis geben können. Obwohl sie wirklich alles andere als an Männerbekanntschaften interessiert war und sie ihre Mutter immer davor gewarnt hatte, Getränke von fremden Männern anzunehmen, war sie doch eine sehr neugierige Frau. Wer wollte ihr denn schon einen Drink spendieren? Sicher war das irgendein windiger, schleimiger Kerl, der eine schnelle Nummer suchte. Doch sie war trotz aller Neugier nicht an einem Abenteuer interessiert.
Es war schon weit nach Mitternacht, als Lilly sich endlich von der Couch erhob. Sie musste ganz dringend zur Toilette, doch nach dem ganzen Champagner und trotz der Häppchen fühlte sie sich ziemlich wacklig auf ihren hohen Schuhen. Ein Umstand, der Carlos nicht verborgen blieb und ihn dazu verleitete zu fragen: „Soll ich dich begleiten?“ „Nein danke, das schaff ich schon“, erwiderte Lilly und versuchte tapfer in ihrem leicht beschwipsten Zustand, einen Fuß vor den anderen zu setzten. Bis zur Toilette würde sie es schon noch schaffen und selbst wenn sie straucheln sollte, gab es auf ihrem Weg immer noch genug Kerle, an denen sie sich sicher festhalten konnte.