Читать книгу Mein kleines bisschen Einsamkeit - Sonja Krenn - Страница 3

1. Kapitel

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„Komm schon, dreh’ dich ein letztes Mal zu mir..." Mir ist bewusst, dass ich gerade ein Eichhörnchen anflehe, das mir wiederum keine Beachtung schenkt. Es gräbt viel lieber in der Erde nach seinen Nüssen, die es irgendwann anders vergraben hatte. Immerhin bleibt das Tier auf diesem einen Fleck sitzen. Dennoch wünschte ich, es würde mir statt seinem buschigen Schwanz, sein Gesicht zeigen. Ich möchte unbedingt sein kleines rosa Schnäuzchen fotografieren. Unbedingt! Diese Naheaufnahme fehlt mir nämlich noch in meiner Fotosammlung. Meistens sind es Vögel, die zwischen den Ästen zwitschernd herumfliegen oder für ihre Jungen Futter suchen. Ich habe sogar ein Foto auf dem einer einen Regenwurm für seine Jungen in seinem Schnabel trägt. In Nahaufnahme! Das war ein Glücksschuss! Ich liebe außergewöhnliche Motive. Stundenlang könnte ich in unserem Garten auf Fotosafari gehen…Es sei denn ich werde davon abgehalten. „Thea, wir warten auf dich!“ Meine Mutter steht in der Haustüre und wartet ungeduldig, dass ich endlich Zeit für sie habe. „Der Tisch ist längst gedeckt!“ Ich hätte mich nicht ruckartig umdrehen sollen, damit habe ich das Eichhörnchen verschreckt. Es ist rasch in der Krone des Baumes verschwunden. Vermutlich lacht es mich jetzt aus, weil ich meine Chance verpasst habe oder atmet tief durch, weil es endlich seine Ruhe hat. „Vielleicht besuchst du mich wieder kleines Eichhörnchen!“, rufe ich hinterher. Möglicherweise erinnert es sich das nächste Mal an meine Freundlichkeit und schenkt mir den verpassten Moment erneut. „Der Kaffee wird kalt! Ich habe ihn dir bereits eingeschenkt“, empfängt mich meine Mutter und verändert dabei ihren Gesichtsausdruck zu einem entspannten, freundlichen Lächeln. Sie ist NIE entspannt, wirklich NIE. Sie leidet unter dem Dauerhektik-ohne-Grund-Syndrom. Ich bin kein Arzt, aber eindeutige Symptome davon sind wenig Geduld, Mangel an Zeit, ständig von Kleinigkeiten genervt sein und Augenringe, die bis zum Bauch reichen, da Schlaf im engen Terminplan wenig Platz findet. Gut das Syndrom habe ich erfunden, aber dass sie selten Geduld, geschweige denn Zeit hat, ist die Tatsache. Ihr Job samt der tausenden Terminlichkeiten, die teilweise oder eher gesagt meistens im Ausland stattfinden, hat für sie höchste Priorität. Ein Wunder, dass sie an meinen Geburtstag überhaupt gedacht hat. „Mit Milch?“, hake ich nach um sicher zu gehen, dass sie meine Vorlieben nicht vergessen hatte. „Natürlich und es gibt Käsekuchen!“ Vor meinem geistigen Auge sehe ich bereits wie Erdbeersirup über den saftigen Kuchen läuft und sich auf dem weißen Teller mit den Krümeln zu einer schmackhaften Komposition vereint. „Wer hat den denn gedeckt?!“, wundere ich mich, als ich den Tisch erblicke. Auf jedem Teller liegt eine Serviette mit bunten Luftballons und neben meinem steht ein verpacktes Geschenk. Hellblaues Geschenkpapier mit lila Punkten. Wer für die Gestaltung des Geburtstagstisches zuständig war, musste denken, ich feiere meinen fünften Geburtstag… Ich schätze es dennoch, sie haben sich schließlich Mühe gegeben und jede Menge Zeit investiert und das ist die absolute Seltenheit im Hause Baker. „Alles Gute zum Geburtstag, Thea!“, begrüßt mich mein Vater, der sich gemächlich aus seinem Stuhl löst. Das ist bereits die nächste Überraschung an diesem Tag. Er leidet zwar nicht an dem Syndrom meiner Mutter, aber er ist ebenso selten zu Hause. Manchmal sehen wir uns wochenlang nicht. Seine Umarmung fühlt sich unheimlich gut an, ich möchte gar nicht loslassen. Wer weiß, wann ich ihn das nächste Mal sehen werde. Manchmal erschleicht mich die Vermutung, er bleibe absichtlich länger in seiner Arbeit. Dort meckert ihn niemand an, er ist sein eigener Chef und er kann faulenzen bis es ihm davon langweilig wird. Ich möchte keinem unterstellen, er täte in der Arbeit nichts, aber was zur Hölle muss ein einfacher Groß- und Außenhandelskaufmann eines mittelständischen Betriebes schon tun und das 60 Stunden in der Woche. Und wieso hat er ständig Abendtermine und Besprechungen, die er keinesfalls verpassen darf? Seinem Verhalten nach ist er der Manager dieser Firma, ich bin mir aber ziemlich sicher, er ist nur ein Angestellter. Auf der Website finde ich nicht einmal seinen Namen. „Was macht dein Fotoprojekt?“ Sein Interesse ist bestimmt gespielt, aber wenn er mich schon fragt, bekommt er eine Antwort. „Eigentlich läuft es ganz gut. Jeden Tag bekomme ich neue Abonnenten dazu. Meine Kasse klingelt!“ „Das freut mich Schätzchen!“, mischt sich meine Mutter ein, die dabei ist den Kuchen zu servieren. Das Messer gleitet durch den Teig des Kuchens. Mein Gaumen zittert vor Ungeduld. Kaum berührt der Teller die Tischdecke setze ich an, die Gabel in mein Stück zu stechen. „Stopp!“, unterbricht mich mein Vater. Irritiert blicke ich auf. „Was ist denn?!“ „Möchtest du es gar nicht aufmachen?!“ Er schiebt das Paket neben meinen Teller. Irgendwie fühle ich mich genötigt und eigentlich wäre mir der Kuchen gerade wichtiger… Nur sollte ich das besser nicht zu laut sagen und zudem spare ich es mir die Optik zu kommentieren, denn einer der beiden ist vermutlich außerordentlich stolz über die Auswahl der Farben. Genau genommen, konnten sie sich das Geschenk ganz sparen, denn ich ahnte, dass mein größter Wunsch wieder nicht in Erfüllung gehen würde… In diesem Moment bestätigt mir meine Mutter genau diesen Gedankengang: „Schätzchen, sei nicht enttäuscht, aber von einem Hund rieten uns die Ärzte ab. Es sei zu gefährlich, viel zu riskant. Aber wir dachten mit 19 Jahren brauchst du sowieso keinen mehr, du kannst dich schließlich selbst beschäftigen…“ Die Worte bohren sich wie ein Dolch in mein Herz, all die vergangenen Jahre, die Erfahrungen, kommen wie ein loderndes Feuer in mir hoch. Wieso konnte ich nicht einfach eine normale 19-Jährige sein? „Wir wollen nur dein Bestes!“, fügt mein Vater leise hinzu. „Wir wollen nur dein Bestes!“ Dieser Satz begleitet mich wie mein Teddybär Tschu Tschu seit meiner Geburt und wenn ich ganz ehrlich bin: Ich kann es nicht mehr hören! Aber alles von Anfang…

Wakefield, Januar 1995: „Max, wir bekommen endlich ein Baby!“ Irgendwas in diese Richtung hatte meine Mutter gewiss gesagt, als sie von ihrer Schwangerschaft erfuhr. Zu diesem Zeitpunkt wusste keiner was auf sie zukommen würde, aber sie ahnten bereits, dass das Leben andere Pläne hatte. Ursprünglich wünschten sie sich drei Kinder. Im Idealfall hätten es drei Mädchen sein sollen, die miteinander groß werden, miteinander spielen und vermutlich Models oder Modedesignerinnen werden, eben genau wie meine Mum, Frau Gilanda Baker. Nun ja, jetzt haben sie mich. Ich interessiere mich nicht für Mode und von einer Modelfigur bin ich weit entfernt. Möglicherweise ist meine Mutter an diesem Desinteresse selbst schuld, denn genauso ausgefallen wie ihr Name ist, sehen ihre Kreationen aus, die aus nicht wirklich zusammenpassenden Mustern und Farben bestehen. Wer kombiniert bitte knalliges Pink und Feuerwehrrot und vollendet dies mit fliederlila farbenen Vierecken… Und wer zieht das an? Der Erfolg gibt ihr Recht. Meinen Geschmack trifft es trotzdem nicht. Somit entspreche ich den Vorstellungen meiner Eltern nur im Geringsten, dennoch sind sie stolz mich zu haben. Woher ich das weiß? Weil sie jede Gelegenheit nutzen mir das mitzuteilen. Sie sind ständig unterwegs, aber sie werden nie müde, mir unsere Familiengeschichte immer und immer wieder vorzutragen. Unerwartet erhielten sie die einmalige Chance mir das Leben zu schenken und in all ihrer Freude bekam ich die Sammlung der Namen, die meine Geschwister hätten bekommen sollen: Dorothea Victoria Marie Luise Baker. Aber jeder, ja auch die beiden, nennt mich Thea und somit hätten sie sich den Rest sparen können. Nachdem sie akzeptierten, dass sie sich mit einem Kind abfinden müssen, arrangierten sich mit ihrem neuen Leben: Das Thema Familie legten sie zur Seite. Meine Mutter gab ihren Job in einer kleinen Näherei auf und begann für namenhafte Unternehmen zu arbeiten. Voila, nun ist sie weltbekannte Designerin und hat eine Tochter. Läuft bei ihr. Fast! Sie managte ihr Leben mit Job, Reisen und Kind. Mein Vater ging wie heute seiner Arbeit nach. Aber an diesem Punkt machte sozusagen ich ihren Plänen einen Strich durch die Rechnung. Laut ihrer Erzählungen holten mich ständig schwere Infekte und Lungenentzündungen ein. Monatlich plagten mich Mandelentzündungen oder eine triefende Nase. Kurz nach meinem zweiten Geburtstag erfuhren meine Eltern den Grund dafür, eine ziemlich niederschmetternde Diagnose: Hinter all meinen Erkrankungen steckt ein Gendefekt. Einem, mit dem man zwar leben kann, aber weniger gut und mit ziemlich vielen Hindernissen. Sagen wir so, mein Immunsystem ist sehr anfällig. Aus eigener Kraft kann es Viren und Bakterien kaum abwehren. Die Folge: Wir zogen auf das Land in ein leer stehendes Herrenhaus. Weit weg von anderen Menschen und somit auch ganz weit entfernt von all den Viren und Bakterien des alltäglichen Zusammenlebens. Ich besuchte nie einen Kindergarten, geschweige denn eine Schule oder gar einen Sportverein. Wenn überhaupt kamen Lehrer und Trainer zu mir. Man müsste meinen, meine Mutter hing ihre Karriere für meine Genesung an den Nagel. Im Gegenteil. Sie fusionierte nach Amerika und China, machte das große Geld. Mein Vater ebenso, ich gehe zumindest davon aus. Und ich? Sie leisteten sich Kinder- und Hausmädchen, die sich rund um die Uhr um mich kümmerten. Sobald sie einen Fehler machten und unsere Desinfektionsregeln nicht einhielten, wurden sie gefeuert. Unzählige junge und alte Frauen übernahmen für eine Zeit diesen Job. Seit zwei Jahren arbeitet Lucinda bei uns. Sie sorgt sich um Haus, Hof und manchmal um mich. Aber ehrlich gesagt, brauche ich seit Jahren keine Bespaßung mehr. Ich habe meine Hobbys. Das Gelände bietet mir genügend Möglichkeiten mich auszutoben. Ich liebe es Insekten und Pflanzen zu fotografieren und diese Fotos wiederum verhelfen mir zu eigenem Taschengeld, da ich sie im Internet verkaufe. Ab und zu male ich oder lese Bücher, aber meine liebste Beschäftigung ist auf meiner Holzschaukel auf und ab zu schwingen und die frische Luft, die sich um meine Nase schmiegt, zu genießen. Achja, dann gibt es da noch meine beste Freundin Fritzi. Sie war unsere Nachbarin, bevor wir auf das Land zogen. Meine Mutter verstand sich anfangs sehr gut mit Frau Haller, da Fritzi damals unter einer Leukämie litt. Bis heute haben wir Kontakt, meist über das Telefon oder Videochat, und ab und zu besucht sie mich sogar, verständlicherweise unter größten Vorsichtsmaßnahmen. Überraschende Besuche? Unmöglich! Meine Frau Mama kontrolliert jeden Schritt und Tritt von mir. Sie möchte eben nur das Beste für mich. Womöglich würde ich ohne die schützenden Hände meiner Eltern tatsächlich bereits im Jenseits leben, irgendwo über den Wolken schweben und als Engel von oben heruntersehen. Aber mein Leben auf Erden ist auf diese Weise eben sehr einsam und meist langweiliger als von anderen Menschen…

„Freust du dich gar nicht?“, holt mich mein Vater aus meinen Gedanken. Ihm scheint das Geschenk offensichtlich sehr zu gefallen, denn seine Augen glänzen wie von einem kleinen Kind. Ich presse ein „Danke“ hervor und versuche dabei ein gespieltes Lächeln aufzusetzen. Ich liebe lesen, aber was will ich mit einem Tierlexikon? Mit anfänglicher Skepsis blättere ich durch die Seiten. Obwohl mir nicht danach ist, muss ich grinsen. Meine Mundwinkel bewegen sich ganz von selbst nach oben, obgleich mein Gehirn dies unterdrücken möchte. Ich kichere wie ein kleines Mädchen, das seine Eltern das erste Mal küssen sieht. In dem Buch sind seltsame Bilder von Tieren, wie sie miteinander kuscheln und naja, Dinge tun, die man nicht sehen möchte. Wieso fotografiert man das? Also ich mache auch gerne Tierfotos, aber solche? Niemals!

„Was grinst du so? Gefällt es dir?“, erkundigt sich mein Vater, der noch immer stolz über sein Geschenk ist.

Ohne etwas zu sagen, halte ich ihm eine Seite vor die Nase. Er läuft knallrot an, er schämt sich doch wohl nicht vor seiner Tochter solche Bilder ansehen zu müssen.

„Wie kommst du auf die Idee, mir solch ein Buch zu schenken?“

„Naja, ich dachte, du magst Tiere. Auf deinem Tisch lag ein Heft mit dem Titel „Schwanen…“, er unterbricht seinen Satz und versinkt förmlich im Boden. „Ich bin ja dämlich!“

„Du hast meine Balletthefte gesehen, kann das sein?“

Nun konnte er sein Lachen nicht unterdrücken. Es war ihm sichtlich unangenehm. Ich hingegen fand seinen Gesichtsausdruck äußerst amüsant, weshalb auch mich die Lustigkeit überkommt. Meine Mutter rollt nur mit

den Augen. Das war zu erwarten, denn zum Lachen geht die Gute in den Keller und somit ist das Gegacker am Tisch für sie wohl unerträglich. Es geht ihr weniger darum, dass ich endlich ihrem Geschenk Aufmerksamkeit schenke, als dass wir uns endlich wieder wie Erwachsene benehmen. Ich kann nichts dafür, ich habe mir das kuriose Buch nicht ausgesucht.

„Vielleicht hält es ja Inspirationen für dich bereit“, äußert mein Vater, der nach dieser Peinlichkeit durchaus einen Vorwand braucht, weswegen das Buch eine gute Idee seinerseits war. Immerhin schenkte er es mir nicht ganz blindlings, auch wenn sein Hintergrundgedanke ein unglücklicher Griff war.

„Das bezweifle ich!“, feixe ich und schiebe es zur Seite. Für heute reicht es mit dieser Art von Tierfotografie.

„Und was sagst du jetzt zu dem Kleid?“, erquickt sich meine Mutter über einen orangefarbenen Stoffschnipsel auf dem mehrere gelbe und rote Kreise ineinander gemalt wurden, was scheinbar ein besonderes Muster sein sollte. Nur mit zusammengedrückten Augen, also, wenn sie praktisch ganz geschlossen sind, kann ich das Design als gut empfinden.

„Völlig hässlich!“, denke ich mir und muss mir fest auf die Lippen beißen um die Wahrheit in meinem Kopf zu lassen. Stattdessen flüstere ich mit gespielter Euphorie: „Einzigartig!“ Damit lüge ich keinesfalls, es ist allenfalls einzigartig…

„Wusste ich’s doch. Meine Bekannte aus Spanien hat dies kreiert. Einfach wundervoll oder?“

„Absolut!“, äußere ich mit einem Hauch von Ironie. Auf den dazu passenden Mundschutz, der ebenso ABSOLUT wundervoll ist, konnte sie natürlich auch nicht verzichten. Es gibt Männer, die Krawatten sammeln, Frauen mit einer beachtlichen Sammlung an Stofftüchern und ich, ja ich bin „glückliche“ Besitzerin von zahlreichen Mundschutzen in allen Farben und Mustern. Mein neuster bekommt den Preis für den hässlichsten. Wenn ich darüber nachdenke, ist der indigofarbene mit neongrünen Streifen der Abräumer bei den stillosen Mundschutzen.

Nach dieser Ernüchterung wird es Zeit für ein ordentliches Stück Kuchen. Viel zu selten gibt es für mich Süßigkeiten oder Gebäck aller Art. „Schlecht für deine Gesundheit!“ oder „Denk an dein Immunsystem“ bekomme ich stets zu hören, wenn sich nur ein halber Gedanke an Zucker in meinem Gehirn anbahnt. Mütter haben einen Art Sensor sofort zu erkennen, wenn man nach Schokolade japst. In diesem Fall habe ich Glück, dass ihr Beruf ihre Abwesenheit von Zuhause fordert. Lucinda ist auf meiner Seite, wenn ich Süßigkeiten möchte, bekomme ich welche. Man glaubt gar nicht, welche Tricks man sich bei der Entsorgung von Süßigkeitenpapier einfallen lassen muss, um nicht beim heimlichen Maschen ertappt zu werden. Eingehüllt in Haferflockentüten oder im Ofenfeuer zu Asche verbrannt, das sind die sichersten Methoden.

Endlich ist der Zeitpunkt gekommen, an dem ich mich auf meinen alljährlichen Käsekuchen stürzen kann.

„Ausnahmsweise!“ Sie hat dabei diesen typischen Blick, diesen mitleidigen und zugleich verständnisvollen, der mir mitteilen soll, es unbedingt zu genießen, denn ich müsste mindestens ein Jahr darauf verzichten. Eventuell kann ich an Weihnachten wieder süße Leckereien naschen. Mein Immunsystem verdankt es mir, aber ich träume heimlich von den süßesten Sahnetorten, Schokolade im Überfluss oder kleinen bunten Bonbons, die das Paradebeispiel für Zuckerkonsum sind. Manchmal träume ich nachts sogar davon ein Süßigkeitengeschäft zu überfallen und all die Köstlichkeiten auf einmal aufzuessen.

„An was du wohl gerade gedacht hast!“, überlegt mein Vater laut. Hoffentlich ist mir bei den Gedanken an die Leckereien kein Sabber aus dem Mund gelaufen.

Nachdem meine Freundin Fritzi wegen eines Infekts das Betreten des Grundstücks verwehrt bekam, sitzen wir zwei Wochen nach meinem Geburtstag bei geschnittenem Obst und frisch gepressten Orangensaft in unserer Gartenlaube, von der aus man die beste Aussicht auf den kleinen Froschteich hat. Ich liebe es Besuch zu haben. Abwechslung!

Obwohl es mindestens 28 Grad hat, sorgte meine Mutter im Voraus dafür, dass Lucinda uns Decken und Kissen bereitlegte. Sie muss in regelmäßigen Abständen prüfen, ob mir heiß oder kalt ist und ob sich ein Schwächeanfall aufgrund der fremden Keime anbahnen könnte. Mich umgibt die schwachsinnige Theorie meiner Mutter, dass ich von Infekten hauseigener Personen geschützt sei. Das ist aus medizinischer Sicht absoluter Blödsinn, doch Einbildung ist bekanntlicherweise auch eine Bildung. Zudem widerspricht man meiner Mutter nicht. Sie hat all ihr Wissen aus Sachbüchern, die ihrer Meinung absoluter Richtigkeit sind und wenn man ihr widerspricht, lässt sie das nur bei Vorlegen geeigneter anderer Sachbücher zu. Ihr Erfolg hat offensichtlich Nachwirkungen bei ihr hinterlassen…

„Ich liebe euren Garten!“, schwärmt Fritzi, die sich wie im Wunderland fühlen muss. Die Stadtwohnung, in der

sie lebt, bietet lediglich einen kleinen Balkon, auf dem man sich kaum umdrehen kann. Für die zweiköpfige Familie reichte das. Ihr Vater machte sich vor ihrer Geburt aus dem Staub. Ich bewundere Frau Haller. Sie kümmerte sich trotz aller Umstände rührend um ihre Tochter und das tut sie auch heute noch.

„Glaube mir, ich würde gerne einmal etwas Anderes sehen!“, antworte ich ihr mit gesenkter Stimme, obgleich

ich unseren riesigen Garten liebe. Auf unserem Grundstück finde ich tatsächlich alles was mein Herz begehrt. Da gibt es den kleinen Teich, in dem Frösche aufgeregt quaken und voller Lebensfreude von Seerose zu Seerose hüpfen. Mittlerweile ist ein Urwald aus Schilf darum gewachsen, weshalb man nur an wenigen Stellen mehr Zugang zum Wasser hat. Auf der anderen Seite des Gartens ruht der alte Lindenbaum, der seit Jahren meine Schaukel trägt und von unzähligen Blumenbeete umzingelt ist. Auch einige Büsche haben sich dazugesellt, weshalb es dort wie ein kleiner Pflanzentreffpunkt ist. Möglicherweise unterhalten sie sich in der Nacht miteinander. Ganz am Ende des Grundstückes befindet sich ein kleines Waldstück, durch den ein kleiner Bach fließt. Oft sitze ich dort und zähle die winzigen Fische, dessen Weg sie entlang des strömenden Gewässers führt. Inmitten der vielen Bäume bin ich stets in bester Gesellschaft. Spechte klopfen Löcher in die Rinde, Hasen ruhen in ihren Gruben und emsige Ameisen gehen ihrer Arbeit nach. Dann gibt es da noch diesen Felsen, von dem aus die Baumkronen mit dem Himmel verschmelzen und der Horizont gleichzeitig fern und doch so nah ist.

„Am meisten beneide ich dich dafür, dass du alles bekommst, was du dir wünscht!“

„Was sollte dir denn fehlen? Du hast doch alles?“, entgegne ich ihr mit einem Anklang von Empörung. Ich vernehme irgendeine Sehnsucht in ihrer Aussage, kann mir aber nicht vorstellen, was ihr fehlen könnte. Sie besuchte jahrelang eine normale Schule, hat einen großen Freundeskreis (ich kann froh sein, dass sie mich nie vergaß … bisher!) und arbeitet als Schreinerin in einem kleinen Betrieb. Bereits als kleine Kinder schnitzten wir gemeinsam kleine Holzstöcke oder bauten aus größeren Ästen ein Häuschen im Garten. Fritzi rollt mit den Augen, wir kamen anscheinend an den Punkt, an dem ein Themenwechsel unumgänglich ist. Ich beiße in eine Wassermelone um die Stille mit Kauen zu überbrücken. Zudem befeuchtet es meine vom Reden ausgetrocknete Mundhöhle.

„Wie läuft es eigentlich mit Ole? So hieß er doch, oder?“

„Hör mir mit dem auf. Fünf andere hat der gleichzeitig. Stell dir das vor!“, schimpft sie auf einmal so laut los, dass sogar die Vögel das Weite suchen. Dabei drückt sie ihre Augen zusammen, so dass ihre Augenbrauen

wie ein „V“ zusammenstehen. Sie sieht süß aus, wenn sie sauer ist, aber sie könnte dennoch ein wenig die Ruhe bewahren. „Ausgenutzt hat der mich, der sammelt wohl Blondhaarige. Spätestens als ich ihm von meinem Job erzählte, fand er mich weniger interessant. Nicht sexy genug!“

Manchmal frage ich mich, ob ich froh darüber sein sollte von solchen Idioten bewahrt zu sein? Trotz meiner fehlenden Erfahrung muss ich eine passende Antwort auf ihr Ärgernis finden.

„Meiner Meinung nach macht dein Job dich richtig sexy! Wichtig ist doch, dass du dir selbst gefällst, alles

andere kommt von selbst!“

„Da musst du selbst Grinsen!“, schmunzelt Fritzi. „In welchem billigen Ratgeber hast du das gelesen?“

Ertappt! Tatsächlich zitierte ich die Werbung eines Massagestudios.

„Möglicherweise stand das in einer Zeitschrift über Psychologie…“, gebe ich zu.

„Ich dachte, du liest Romane und die Zeitschriften von Opern und Balletten.“

„Schon, aber ich kann doch trotzdem etwas Anderes lesen…“

Dass sich die Stimmung allmählich anspannt, können sogar die Vögel in den Baumwipfeln über uns spüren. Warum sollten sie sonst mir nichts, dir nichts davonfliegen.

„Deine Mutter versucht weiterhin dein Styling zu ändern?“, mustert sie mein T-Shirt. Sogleich ist die gute Stimmung zerstört, wobei ich ihre Anmerkung verstehen kann. Lindgrüne Streifen durchkreuzen gelbe Punkte auf hellblauen Hintergrund und mittlerweile haben sich Tropfen der Wassermelone darauf versammelt und runden das ganze weiter ab. Ehrlich gesagt hasse ich es, halte jedoch mein Versprechen es anzuziehen. Vor Scham laufe ich rot an, da ich bis zu diesem Zeitpunkt hoffte, es bliebe unbemerkt. Ob Fritzi bewusst ist, dass ich das nicht lustig finde?

„Im Normalfall lasse ich ihr keine Chance. Meine Jogginghose und meine einfarbigen Shirts ersetzt nichts auf dieser Welt. Ich wurde genötigt dieses Horroroutfit anziehen!“

Sie nickt verständnisvoll, sie konnte sich scheinbar denken wieso ich an diesem Tag an Geschmacksverirrung litt.

„Sorry, konnte nicht wissen, dass du dünnhäutig auf meinen Scherz reagierst!“

In der letzten Sekunde hat sie ihre Sympathiepunkte gerettet. Und sie muss gar nichts sagen mit ihrem ihrer Meinung nach trendigen Shirt, auf dem bunte Palmen hervorstechen. Noch schlimmer finde ich die herunterbaumelnden Fransen an ihren Ärmeln. Die Grenze zwischen unordentlich und hip verschwimmt ineinander. Geschmackssache!

„Aber sollte eines Tages ein Mann auf wundersame Weise deine Wege kreuzen, wird er sich sehr über deinen außergewöhnlichen Kleidungsstil wundern! Jogginghosen können, wenn man sie richtig kombiniert, gut aussehen. Mit sportlichen, enganliegendem T-Shirt und flotten Turnschuhen. Auf diese Weise könnte man meinen, du wärst eine Sportlerin!“

Mit Händen und Füßen gestikuliert sie und macht damit den Damen aus den Dauerwerbesendungen Konkurrenz. Egal was sie sagt, ich werde meinen Kleidungsstil nie ändern. Ich liebe meine bequeme Kleidung!

„Alles gut bei euch?“, erkundigt sich Lucinda, die sich seit ihrem letzten Kontrollbesuch wirklich Zeit ließ.

„Wir bräuchten zwei Gläser mit Wasser, bitte. Der Saft ist ein wenig zu süß!“, schaffe ich ihr an. Im Grunde verzichtete ich darauf ihr Anweisungen zu geben, ich bin nötigenfalls selbst befähigt mir Dinge zu beschaffen. Doch heute möchte ich keine Sekunde verschwenden und unser Hausmädchen langweilte sich sowieso die meiste Zeit. Oft genug beobachte ich sie beim Lesen oder Telefonieren mit ihrem Freund, den ich bislang noch nie zu Gesicht bekam. Eventuell besteht ja die Möglichkeit, dass sie mehrere Männer hat und sie uns deshalb nicht vorstellen möchte.

„Ihr habt es gut!“, schluchzt meine Freundin, die solch einen Service nur aus Filmen kennt. „Du musst nichts arbeiten, sogar zu Hause bist du davon befreit!“

Ihr zu widersprechen, wäre falsch, denn sie hatte Recht. Aber ich wünschte mir trotz allem ein anderes Leben.

„Aber Thea, weißt du was ich mich die ganze Zeit frage? Wieso trägst du heute keinen Mundschutz trägst?“

„Ich finde es lächerlich ständig damit herumzulaufen!“

„Und wenn du dich bei mir ansteckst?“

„Ich vertraue darauf, dass unsere zwei Meter Abstand an der frischen Luft reichen!“, erkläre ich ihr. Traurig genug, dass ich mir mit meinen 19 Jahren Gedanken darübermachen muss, welcher Schutz ausreichend

sein könnte. Ich sehne mich sehr nach neuen Erfahrungen, nach der Außenwelt, nach Kontakten mit anderen Menschen. Ich fühle mich wie ein Gefangener in meiner Welt.

„Dann hoffe ich, hast du Recht!“, kichert Fritzi.

Zufrieden beiße ich ein weiteres Stück Melone. „Ich denke, manchmal muss man einfach an das Gute glauben!“

Mein kleines bisschen Einsamkeit

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