Читать книгу Mein kleines bisschen Einsamkeit - Sonja Krenn - Страница 4

2. Kapitel

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„Frau Baker, keine schwerwiegende Infektion seit fünf Jahren. Sie haben das gut im Griff!“, lobt der Arzt meine Mutter, die überraschenderweise in der Nacht aus Paris zurückkehrte. Ein Wunder, dass sie plötzlich Zeit für mich hatte. Oder für den Arzt? Manchmal ereilt mich das Gefühl, sie hätte Gefallen an ihm gefunden. Die Vorstellung, die beiden wären in einer Beziehung, lässt mich erschaudern. Ekelhafter Gedanke. Ich muss sofort an was Schönes denken! Sofort!

„Dankeschön, ich tue alles in meiner Macht stehende!“

Mir kam fast mein Frühstück hoch bei dieser Aussage. Sie tut alles in ihrer Macht stehende. Von wegen, sie verschwindet und lässt mich allein zu Hause und hofft, ich würde vernünftig sein. „Nach wie vor ernährt sich Dorothea gesund. Gemüse, Obst, Nüsse. An der körperlichen Betätigung arbeiten wir!“ Mit jedem ihrer Worte wird mein Brechreiz größer. WIR. Es gibt kein Wir, und an meinem Bewegungspensum gibt es kein Rädchen zu drehen. Ich bin den ganzen Tag an der frischen Luft. Hin und wieder mache ich Yoga mit einer dieser dämlichen DVDs und wenn ich ganz viel Freude habe, jogge ich quer über das Grundstück. Aber ich bevorzuge gemütlichere Tätigkeiten, das muss ich zugeben. Wobei eine Studie, die ich gelesen habe, den Gesundheitsprofit von einfachen Spaziergängen bestätigte. „Ja Dorothea, Sport ist unerlässlich!“, mahnt Doktor Futzeck. Dabei spitzt er seinen Mund, der inmitten seines weißen Rauschebartes verborgen ist, hervor. Ich kann diesen Mann mit seinem Aussehen kaum ernst nehmen. Auf dem Kopf kein einziges Haar, dafür am Kinn und auf der Brust und weil er das weiß, betont er das mit einem ausgeschnittenen Hemd. Noch schlimmer ist seine viel zu kurze Hose, die ihm scheinbar beim Waschen einging, und seine Gesundheitslatschen, womit er seine ungepflegten Zehennägel nicht im Verborgenen hält. Mit einem Filzhut würde er als verlassener Almöhi durchgehen. Noch dazu schiebt er vor sich einen Bauch, dessen Füllung garantiert aus fettem Fleisch und kalorienreichen Torten besteht. Das nimmt ihm vollkommen das Recht mir Tipps zum Thema Sport und Bewegung zu geben. Zuerst sollte er seine Ratschläge selbst annehmen. „Sie müssen weiterhin darauf achten, von Keimen und Bakterien fern zu bleiben. Mit dem Mundschutz machen sie das ganz gut und vermeiden sie engen Kontakt mit anderen. Vor allem mit Männern!“, lacht er sarkastisch. Ich merke wie sich meine Hände zu einer Faust zusammenballen. Die Wut in mir steigt und ich ersehne das Ende des Termins. Meine Mutter grinst, sie zieht jedes Mal Energie aus dem Besuch. Ihr Blick. Sie schmachtet ihn direkt an. Er gefällt ihr ganz sicher! „Dorothea, möchtest du mir ein wenig Blut abgeben?“, rettet mich seine Arzthelferin vor weiteren Verirrungen in meinen Gehirnwindungen, die langsam meinen Kotzreiz unaufhörlich weiter anregen. Nachdem ich meine farblich passende Mundmaske übergezogen habe, folge ich Katrin in das Vampirzimmer, wie ich es in meiner Kindheit nannte und komme dabei am Wartezimmer der Notaufnahme vorbei, in der zahlreiche Menschen auf Hilfe warten. Manchen ist die Sorge förmlich ins Gesicht geschrieben, andere weinen, manche halten ihre erkrankten Angehörigen fest in ihren Armen. Am meisten berührt mich der Anblick einer Mutter, die ihr schreiendes Baby nah an sich hält, unterdessen sie selbst mit den Tränen kämpft. Wartezimmer kenne ich nicht von innen, denn der Arzt macht alles was sich meine Mutter wünscht: Kein Kontakt zu anderen Menschen.

Der Tropfen Blut, der langsam aus meinen Ader fließt, erinnert mich an meine Andersartigkeit. Andere wussten in meinem Alter nur von Vorsorgeuntersuchungen wie sich Blutabnehmen anfühlt oder sie entkamen gänzlich dem Anblick dieser trostlosen Kanülen, die Schmerz bedeuteten. Fritzi kannte das hingegen gut, aber im Gegensatz zu ihr, werde ich nie ganz genesen und nie ein normales Leben führen können. Meine Augen tun es meinen Adern gleich. Die erste kleine Träne rollt über meine Wangen, viele weitere folgen dieser. Ich hasse es vor anderen zu weinen. Ich möchte doch taff wirken. Katrin sieht mich mit großen Augen an. „Habe ich dir wehgetan?“

Ich schlucke den Kloß in meinem Hals herunter. „Nein, du hast nichts falsch gemacht…!“

„Ich sehe dir aber an, dass etwas nicht stimmt!“

„Nein, nein. Blutnehmen ist doch Alltag für mich!“, scherze ich und erzwinge mir ein Lächeln um ihr die Sorgen zu nehmen.

„Du lebst immer noch in dieser Prachtvilla?“, fragt sie während sie die nächste Plastikröhre beschriftet.

„Ja…Aber ich möchte einfach normal sein…“

Katrin dreht sich zum Schreibtisch, auf dem sie sämtliche Daten notiert. Sie tut wohl so als hätte sie mich nicht gehört. Ohne mich anzusehen, verabschiedete sie sich von mir: „Für heute bist du entlassen, wir haben alles was wir brauchen. Bis bald. Und halte die Ohren steif!“

Meine Mutter wartet bereits mit Desinfektionsspray auf mich. „Schnell ab nach Hause, grausam diese Umgebung!“

Krankenhäuser sind tatsächlich grausam und bedrückend. Vor allem bedrückend! Aber Doktor Futzack begleitet mich eben seit Früh an und meine Familie traut nur ihm, obgleich es tausend andere Ärzte in dieser Stadt gäbe, die sich bestimmt ebenso mit diesem Gendefekt auskennen würden.

„Du hast ja geweint, muss ich mich beschweren? Nächstes Mal macht eine andere diesen Job. Da brauchst du dir keine Sorgen machen!“, rattert meine Mutter wie aus der Pistole geschossen los, als gäbe es einen Knopf der dieses „Besorgnis-Ding“ startet, das ihr die meisten Tage im Jahr völlig egal war, wenn sie wegen dämlichen Designs die ganze Welt umreiste. All diese Eindrücke der vergangenen Tage ballen sich allmählich in meinem Kopf immer mehr zu einem Gewitter zusammen und nun das falsche Gefasel meiner Mutter. Länger kann ich meinen Groll nicht unterdrücken. Ungefragt platzt ein ganzer Schwall aus mir heraus: „Was soll das? Kannst du dir eigentlich selbst in die Augen sehen? NIE bist du da. Wirklich NIE und beim Arzt sprichst du von WIR und davon, dass DU für meinen aktuell guten Gesundheitszustand verantwortlich bist. Alles was du machst ist die meiste Zeit zu verschwinden und dich darauf zu verlassen, dass ich vernünftig bin, dass ich das tue, was du für richtig hältst. Du hast Glück, ich höre und folge deinem Plan. Aber manchmal frage ich mich WIESO? DU kümmerst dich einen Dreck um mich! Du hättest einfach Karrierefrau bleiben sollen…!“Stille! Mein über die Jahre zusammengebrauter Ärger traf mitten in das Herz meiner Mutter. Das Glänzen ihrer Augen schwand zunehmend. Sogar die Menschen um uns herum schwiegen. Man hörte keinen Computer surren, nichts. Als wäre die Welt stehen geblieben. Ich glaube, mit meinen Aussagen ging ich zu weit. Mit leerem Blick fordert mich meine Mutter auf zu gehen. Nachdem sie mich darauf hinwies, dass sie sich gestern frei nehmen wollte und heute schließlich Zeit hatte und das des Öfteren versuchen würde, sprach sie kein Wort mehr mit mir. Der letzte Satz tat mir leid, hinter dem Rest stehe ich und ihrem Ego schadet ein wenig Gegenwind wohl nicht. Das hält die gute Frau Mama aus.

Unser Streit veränderte die ohnehin angeknackste Mutter-Kind-Beziehung sehr. Ich vermeide sämtlichen Kontakt mit allen, nur mit Fritzi telefoniere ich gelegentlich, sofern sie gerade Zeit für mich hat. Als freier Mensch hat man offensichtlich viele Termine und andere Freunde, die einem wichtig sind. Mittlerweile weiß ich, dass sie montags beim Yoga ist, Dienstag ihren Pizzatag hat und donnerstags arbeitet sie länger. Samstag geht sie wie jedes normale 19-Jährige Mädchen zum Feiern in Diskotheken und Bars und sonntags liebt sie es sich die neuesten Filme anzusehen. An all diesen Tagen ist keine Zeit um mit einem langweiligen Nerd wie mir zu telefonieren. Ich verstehe das! Denke ich zumindest… Doch im Grunde läuft bei mir die letzten Tage gar nichts rund. Das Eichhörnchen ist seit meinem Geburtstag verschwunden. Andere sind tausendmal scheuer, wodurch meine Linse sie nur verschwommen erfassen kann und von den Vögeln habe ich mittlerweile genug Schnappschüsse. So macht mir fotografieren keinen Spaß! Meiner Lieblingsbeschäftigung, dem Schaukeln, kann ich seit dem letzten Sturm ebenso nicht mehr nachgehen. Das Seil riss, das Brett krachte zu Boden und zerbrach in zwei Teile. Mein Herz blutete, ich konnte dieses Drama von meinem Fenster aus beobachten. Fritzi sorgte zwar für eine neue Sitzfläche, aber das anbringen am Baum gelang mir bisher nicht. Ich müsste hinauf klettern. Entweder am Stamm oder mit Hilfe einer Leiter. Doch dafür fehlt mir der Mut. Ich habe nie gelernt, riskante Dinge zu tun. Über meinem Kopf singen Vögel schöne Lieder und ein Specht pocht heiter am Baumstamm. Wie eine gefiederte Band, die die Natur mit ihren Songs beglückt. Die Backgroundsänger sind ein paar Grillen, die mit ihrem Zirpen einen Kontrast zum hohen Gepiepse bieten. Normalerweise erfreut mich solch ein Konzert, nur heute habe ich keine Zeit dazu. In meinem Kopf spinne ich an einer Idee, wie ich das Seil über den Ast bekomme ohne eine Gefahr ausgesetzt zu sein. Unser Gärtner hat bestimmt eine Leiter, aber dafür müsste ich an das ganz andere Ende unseres Grundstücks laufen und noch dazu ist mir Herr Wilson äußerst unsympathisch. Mit seinem grimmigen Gesichtsausdruck verscheucht er sogar lästige Mücken. Zumindest kann ich mir gut vorstellen, dass sich dieses Ungeziefer in seiner Nähe unwohl fühlen. Und wer weiß, welche Anweisungen er von meiner Mutter bekommen hat. Folglich keine gute Idee ihn nach Hilfe zu fragen…

Ein zartes Miau durchbricht mein angestrengtes Pläneschmieden. Der Kater des Nachbarn! Ich nenne das Tier liebevoll Mr. Mau, da ich den richtigen Namen nicht kenne. Er scheint von seiner Mäusejagd zurück zu kehren und macht sich vermutlich auf den Heimweg.

„Hey Mr. Mau!“, begrüße ich ihn und streichle ihn über sein weiches Fell, das stark an einen verfärbten Tiger erinnern lässt. Seine schwarzen Härchen an den Beinen erwecken den Eindruck, er würde Stiefel tragen. „Ob du wohl erfolgreich bei deiner Mäusejagd warst?“

Ein weiteres Miau muss mir als Antwort genügen und diese Art von Gespräch war wohl die erste und letzte Unterhaltung an diesem Tag.

Das neue Brett lehnt nach wie vor an dem dicken Stamm des uralten Lindenbaumes, der unzählig viele Jahre auf dem Buckel hat. Die kolossale Baumkrone ist ein Königreich für allerlei Getier, manchmal stelle ich mir sogar vor wie das Leben in diesem Hofstaat wohl ist. Ob es dort Krieg gibt? Oder leben die Tiere friedlich miteinander? Bedachtsam heben ich die Schaukel auf, ich möchte nichts kaputt machen. Fritzi befestigte bereits neue Seile und nahm mir damit einiges an Fieselarbeit ab. In meiner Theorie muss ich es über den Ast werfen und hoffen, dass sich die Seilenden ineinander verknoten. Zumindest sollte ich es ausprobieren.

„3,2,1 und los! Du schaffst das!“, motiviere ich mich selbst. „Verdammt! Noch einmal!“

Ungefähr zehn Mal probiere ich es immer und immer wieder, aber ich habe keinen Erfolg.

„Vielleicht mit mehr Schwung“, überlege ich laut und umkreise den Baum von allen Seiten. Irgendwo muss doch eine geeignete Stelle sein. Die anderen Bäume um die alte Linde herum sind völlig ungeeignet, zu klein und überhaupt besitzen sie keine dicken, abstehenden Äste. Und davon abgesehen mag ich diesen Platz, da ich das Gefühl habe, jede einzelne Pflanze würde mich vor dem Herunterfallen beschützen wollen.

„Also noch einmal, Thea! 3,2,1!“, rede ich mir weiter gut zu. Aber die nächsten fünf Versuche scheitern ebenfalls.

„Heute ist ein scheiß Tag! Nichts funktioniert, rein gar nichts.“

Ich war kurz davor das Brett zu nehmen und es mit voller Wucht auf den Boden zu schmeißen, als eine Stimme aus dem Hintergrund mich davon abhält: „So wird das auch nichts. Du brauchst eine Leiter!“

Jetzt ist es soweit. Nächste Station Irrenhaus. Ich höre fremde Stimmen. Schlimmer. Ich höre Stimmen, die mir Tipps geben.

„Thea, schöner Name übrigens oder hast du zuvor mit wem anderes gesprochen?“ Die Männerstimme weiß ziemlich viel über mich. Eindeutig, ich bin verrückt!

Um sicher zu gehen, dass wirklich keiner hinter mir ist, drehe ich mich vorsichtig um. Erschrocken stolpere ich dabei über einen kleinen Kieselstein, wodurch ich von dem einem Augenblick auf den anderen auf der kühlen Erde lande. Vor Überzeugung komplett irre geworden zu sein, versuche ich von der Gestalt rückwärts wegzukrabbeln.

„Noch nie einen Gärtner gesehen?“ Der junge Mann vor mir kommt aus dem Lachen kaum heraus. „Ich tue dir nichts. Ich bin weder ein Einbrecher, noch ein Vergewaltiger oder sonst irgendwas.“

Er ist wunderschön. Sein breites Grinsen bringt seine strahlend weißen Zähne zum Vorschein und er hat braune Haare. Ich liebe braune Haare! Sie spitzen unter seiner Arbeitskappe hervor. Vermutlich ist er tatsächlich ein Gärtner. Immerhin trägt er einen Arbeitskittel und ein dazu passendes kariertes Hemd. Den Schock hatte ich zwar längst überwunden, aber der Anblick raubt mir die Fähigkeit die umgebene Luft in meine Lungen zu lassen.

„Thea, so heißt du doch?“, fragt er mich erneut. „Geht es dir gut?“

„Ähm…ja…ähm ich denke ja!“, stottere ich und drücke mich nach oben um wie eine selbstbewusste junge Frau vor ihm zu stehen. Oh nein! Ich trage Jogginghosen und ein uraltes T-Shirt. Dazu habe ich mir meine Haare seit Tagen nicht gewaschen. Ich sehe aus wie ein vollkommener Idiot und das inmitten des unendlichen Gartens einer prunkvollen Direktorenvilla. Um von meinem Aussehen abzulenken, fange ich an sinnlos zu quasseln: „Thea, ja. Aber eigentlich kannst du dir einen meiner vielen Namen aussuchen. Weißt du, ich hätte eigentlich drei Schwestern haben sollen, aber irgendwie bin ich jetzt ein Einzelkind und habe dafür alle vier Namen bekommen.“

Ich sehe ganz genau, dass er seine Augenbrauen nach oben zieht. „Du bist ja süß. Voll nervös. Vor mir, einem einfachen Gärtnerpraktikanten.“

Haha, der hatte zu reden. „Einfacher Gärtnerpraktikant.“ Ein Model, oder ein Schauspieler oder irgendetwas Überirdisches musste er sein. Ich kannte keinen hübscheren Menschen als ihn. Gut, ich kenne kaum Menschen. Aber in der gesamten Fernsehlandschaft sah ich je einen vergleichbaren jungen Mann.

Ich folge einem Rat, den ich ihm Internet gelesen hatte: Tief einatmen und langsam die Luft durch die gespitzten Lippen herauslassen. Es funktioniert! Mein Pulsschlag verlangsamt sich. Vorsichtig stehe ich auf um nicht erneut über eine Wurzel oder einen Stein zu purzeln. Geschafft. Haltung bewahren Thea. Ein zweites Mal atme ich tief durch und setze erneut an: „Mein Name ist Dorothea Victoria Marie Luise Baker. Alle nennen mich Thea.“

„Schön dich kennen zu lernen, Thea. Mein Name ist Lukas. Offensichtlich wohnst du hier. Mein Chef spricht stets von einer Frau Baker. Deine Mutter?“

Ich rolle mit meinen Augen, das habe ich wohl von meiner Mutter gelernt. „Ja so ist es.“

„Soll ich dir mit deinem Schaukelproblem helfen, ich hätte da eine äußerst gute Lösung!“

„Die wäre?“, frage ich interessiert und wische mir die Grashalme von meiner Hose.

„Wir nehmen eine Leiter!“ Mit seinem filmreichen Lächeln präsentiert er den Gegenstand wie ein Verkäufer auf einer Messe. Na toll, auf die Idee bin ich selbst gekommen. Aber das löst mein Höhenangstproblem nicht.

„Ich steige da nicht hinauf!“, dementiere ich sofort.

„Dann mache ich das, gib mir mal das Brett bitte!“

Ehe ich reagieren konnte, schnappt er sich was er braucht und klettert damit in die Höhe. Ich muss mich arg zusammenreißen ihm nicht unaufhörlich auf sein trainiertes Hinterteil zu blicken.

„Lukas, wo bist du? Ich brauche dich!“, schimpft Herr Wilson. Davon abgesehen, dass er niemals in einem liebevollen Ton gesprochen hatte, seitdem er auf unserem Grundstück arbeitet.

„Ja gleich, ich habe Arbeit gefunden!“, rief sein Praktikant, welcher konzentriert das Seilende befestigt.

Wütend stapft sein Chef in unsere Richtung und bestraft mich mit einem bösen Blick. „Ich schaffe ihm hier die Arbeit, kein anderer!“

„Schon gut!“, flüstere ich und gehe einen großen Schritt zurück. Ich achte genau auf jede Unebenheit auf dem Boden. Dieses Mal weiß ich ein weiteres Stolpern zu vermeiden.

„Was machst du da überhaupt, Lukas?“, murrt der alte Mann mit seinen Händen in den Hüften gestemmt. „Ich brauche dich beim Blumenbeet.“

„Er hilft mir. Das dauert keine fünf Minuten. Was ist schlimm daran?“, verteidige ich meinen Helden des Tages und bin stolz darüber, mich das getraut zu haben. Ich hätte es vermutlich zu keiner Zeit geschafft, stattdessen würde ich noch am Abend dastehen und irgendwann verzweifelt aufgeben und letzten Endes nie wieder schaukeln können.

„Still! Ich habe ihn gefragt!“

Wie konnte es Lukas mit diesem Stinkstiefel aushalten, keinen Tag würde ich ihn als Chef haben wollen. Mir reicht meine Mutter. Lukas hingegen steigt entspannt Sprosse für Sprosse herab und klopft mir auf die Schultern: „Viel Spaß beim Schaukeln!“

„Ähm, wow. Danke!“ In diesem Moment treffen sich unsere Blicke und ich versinke in der Tiefe seiner Augen. Dieses Grün und dieses Glänzen. Mein Herz zieht sich zusammen, vergisst zu schlagen. Es war kurz davor, stehen zu bleiben. Ich vergesse meine Schaukel, ich vergesse die Flecken auf meiner Hose, ich vergesse alles um mich herum.

„Ich mach weiter. Wir sehen uns!“

„Wir sehen uns!“, sage ich geistesgegenwärtig und bewege mich keinen Zentimeter von der Stelle. Was war das? Ein Drogenrausch? Oder eine Fata Morgana? Ich musste im Wald irgendeine giftige Pflanze eingeatmet haben. Ja! So musste es sein!

„Na wie schaukelt man auf der neuen ultimativen regenfesten Superschaukel?“, erkundigt sich meine Freundin Fritzi bei einem unserer selten gewordenen Videochat-Treffen. Wie immer sieht sie trotz ihrer Augenringe perfekt aus. Sie trägt ihre irrsinnig langen, glatten Haare zu einem einwandfreien Pferdeschwanz zusammengebunden. Ich hingegen habe zumindest nach meiner Begegnung seit Tagen meine Haare wieder gewaschen.

„Hast du heute etwas vor?“, reagiere ich auf ihr Äußeres worauf mir ihre Frage komplett entfällt.

„Nein, ich komme von der Arbeit…was ist jetzt mit der Schaukel?“

„Ich dachte du hast ein Date…und achso die Schaukel hängt!“, verkünde ich mit stolzem Lächeln.

„Man sollte immer gut aussehen! Dafür braucht man kein Date. Stell dir vor, ein Fremder läuft dir über den Weg. Gut, damit kennst du dich weniger aus. Sorry…“

Ich hasse ihren arroganten Tonfall.

„Da täuschst du dich!“, antworte ich ihr und versuche ihre hochnäsige Mimik zu imitieren.„Was meinst du, Thea?!“

„Ich beschreibe dir das Aussehen eines jungen Mannes und du sagst mir, was du denkst!“

„In Ordnung!“, nickt Fritzi und rückt ihren Kopf näher Richtung Kamera, als könnte sie auf diese Weise besser zu hören.

„Gut, dann passe auf. Braune, gepflegte Haare. Länger als üblich, aber zu kurz um lang zu sein. Verstehst du was ich meine?“

Sie bestätigt mit einem bejahenden Blinzeln. Ich fahre fort: „Smaragdgrüne Augen und ein Lächeln, wie aus einer Zahnarztwerbung.“

„Körperbau?“

„Schlank, trainiert und trotzdem breit gebaut.“

„Sag mir bitte den Filmtitel, ich wollte längst wieder sabbernd vor der Glotze sitzen!“

Ich schüttele mit dem Kopf: „Kein Film!“

„Was dann? Sänger? Comedian? Kein Politiker bitte!“

„Nichts von allen dem!“

Bewusst lasse ich sie zappeln und ignoriere ihr flehen.

„Bitte sag schon. Mensch, Thea!“

„Er heißt Lukas!“

„Schön, aber wo kann ich ihn bewundern!“

„In meinem Garten!“

Fritzi klopft mit der Faust energisch auf den Tisch. „Veräppel mich nicht, sag schon.“

„In meinem Garten!“

Anstatt zu antworten, bricht sie in Gelächter aus. Erst als sie sich wieder fängt, plaudert sie eingeschnappt: „Und ich treffe morgen den Präsidenten von Amerika!“

„Glaubst du mir etwa nicht?“, frage ich sie mit gedrückter Stimme.

„Deine Mutter würde das niemals zulassen!“

Mit diesem Satz zerfiel die bisher gute Stimmung zu einem Staubhaufen. Meine Mutter würde tatsächlich alles in ihrer Macht stehende tun um mich von männlichen Wesen fernzuhalten. Wieso lässt sie überhaupt junge Männer auf unser Grundstück? „Lukas ist der Praktikant des Gärtners und er ist eine Augenweide!“, schwärmte ich trotzdem weiter. Ein Lächeln huscht über ihre Wangen. „Was sehe ich denn da?“ „Was meinst du?“ Überrascht drehe ich mich um und prüfe mein Zimmer. Außer meiner Unordnung und einem Stapel frisch gewaschener Kleidung gibt es nichts Aufregendes zu sehen. „Du bist verliebt!“, zieht sie mich auf. „Nein, ich finde ihn hübsch. Mehr nicht!“, wehre ich ihre Vermutung ab. „Verliebt! Thea, du bist verliebt!“ „Nein!“ „Das ist so unendlich süß!“ „Auf gar keinen Fall! Er ist hübsch, mehr nicht. Aber never, never, never werde ich mich in den Praktikanten unseres unfreundlichen Gärtners verlieben!“ „Sag niemals nie!“, äußert sie mit einem mahnenden Zeigefinger. Wenn sie mir gegenübersitzen würde, hätte ich sie von ihrem Stuhl geschubst. Ich weiß gar nicht wie man sich verliebt, das werde ich nie erfahren und nie wissen. Das ist Fritzi bewusst. Dementsprechend soll sie mir von so einem Quatsch die Ruhe lassen…

Die letzten zwei Nächte träumte ich von Lukas und jeden Tag beobachtete ich ihn bei der Arbeit. Selbstverständlich aus sicherer Entfernung, damit er mich in kein peinliches Gespräch verwickeln konnte. Zudem brauche ich dringend stilvollere Shirts und Hosen. Mit meinen abgetragenen Jogginghosen und meinen öden zusammen gebundenen Haaren versprühe ich eher den Charme einer Obdachlosen. Aber wieso sollte er sich überhaupt für mich interessieren und überhaupt hat er bestimmt längst eine Freundin. Männer wie er sind immer vergeben.

„Lucinda!“, rufe ich unser Hausmädchen. „Könntest du etwas für mich tun?“

Postwendend lässt sie den Wäschekorb stehen und kommt zu mir ans Fenster. „Klar. Was immer du willst!“

Obgleich wir eine Haushaltskraft haben, die uns alles tun würde, könnte ich selbst waschen, bügeln und kochen. Lucinda fehlte einmal einige Wochen. Anstatt eine andere Kraft einzustellen, bat ich darum die Aufgaben selbst übernehmen zu dürfen. Ich hatte Sorgen, dass sie komplett ersetzt werden würde. Sie ist die erste, die nicht jenseits der fünfzig ist. Im Gegenteil sie ist kaum älter als ich, weshalb ich mich mit ihr gut unterhalten kann. Darüber hinaus sie ist nett und hilft mir in beinahe allen Lebenslagen. Ich hoffe, auch in dieser. Meine Eltern waren zwar wenig begeistert, aber offensichtlich überzeugte sie mein Dackelblick. Was sollte auch passieren? Dass ich an Überanstrengung sterben?

„Ich brauche neue Kleidung!“, äußere ich überzeugt. Zur Demonstration ziehe ich mein ausgeleiertes T-Shirt nach unten und offenbare meine Kaffeeflecken.

„Wir könnten es einfach waschen!“

„Nein, ich brauche Blusen, Röcke. Du weißt schon!“

Sie scannt mich mit ihrem Blick, überlegt einige Sekunden. „Da fällt mir einiges ein! Wieso brauchst du das?“

„Einfach so!“

„Geht es um einen Jungen?“

„Niemals!“, wehre ich mich kopfschüttelnd.

Sie blickt mich eine ganze Weile an. „Warum glaube ich dir das nicht?“

Ich zucke mit den Achseln. „Keine Ahnung!“

„Ich glaube, du bist verliebt!“

Wieso sagen das heute alle? Eine Dorothea Victoria Marie Luise Baker verfügt über dieses Repertoire an Gefühlen nicht!

Mein kleines bisschen Einsamkeit

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