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Kapitel 4
HEIMAT

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Opponitz liegt auf 422 Metern, eingebettet zwischen Bergen und Wäldern. Durchzogen wird das Tal von der Ybbs, vom Grün des Flusses, der sich still und smaragdgrün im Winter, tosend und braun wie eine unheilvolle Schlange bei Hochwasser im Frühjahr und dunkelgrün und zum Baden einladend im Sommer durch das Tal zieht. Der Fluss ist ein Teil von mir. Ich fließe ebenfalls. Ich denke nicht nach, wohin ich fließe und ich sehe die Steine nicht als Hindernisse. Sie sind eben da und ich suche mir meinen Weg. Manchmal tosend, rauschend, Wellen schlagend und dann wieder leise gluckernd und still. Weil ich wie der Fluss bin, schenke ich ihm manchmal Blüten oder Tabak oder Milch, ich setze mich an sein Ufer und schaue den Flussgeistern zu, wie sie tanzen und murmeln und Steine grummelnd vor sich her rollen. Ich respektiere den Fluss, weil er die Lebensader ist. Manchmal bitte ich den Fluss, etwas mitzunehmen was ich nicht mehr brauche. Oder ich bitte für jemanden der krank ist, dass er ihm die Krankheit mitnehmen soll. Dann schütte ich etwas Milch in die Ybbs oder wenn es etwas Eitriges ist, dann färbe ich die Milch mit Curry gelb und schütte die gelbe Flüssigkeit in den Fluss und sage: »Bitte nimm’s mit und bring’s wo hin, wo’s keinem schadet!« Ich sehe dann in meinen Gedanken wie die gelbe Flüssigkeit mit dem Eiter verbunden ist und vom Fluss mitgenommen wird und dann heilt das Eitrige. Solche Rituale sind auf vielerlei Arten möglich und nützlich. Und ich verwende für diese Rituale das, was mir gerade unterkommt. Manchmal ein Stück Holz das ich am Ufer finde, manchmal Blüten oder Blätter, Steine um die ich einen kleinen Zettel binde auf den ich den Namen der Krankheit schreibe und die ich dann in den Fluss werfe und so weiter. Der Fluss hilft mir bei meiner Arbeit. Er nimmt Dinge mit. Er bringt aber nach den Hochwassern im Frühjahr auch immer wieder Geschenke für mich. Zum Beispiel wundersame Steine oder gebogene Hölzer, die ich wiederum für die Heilarbeit verwenden kann.

Der Fluss hat so etwas wie eine Flussgöttin. Sie besteht aus silbrig glänzenden Fischleibern und springt dann aus den Tiefen der Ybbs, lässt sich mit einem großen Platschen zurück ins Wasser fallen, wo sich ihr Körper in viele silberne Fische verwandelt und in alle Richtungen verteilt. Ich gehe davon aus, dass jeder Tropfen Wasser der sich im Fluss befindet etwas Heiliges ist, das es wert ist, beschützt und erhalten zu werden. Wenn wir Wasser trinken, sollten wir uns dessen bewusst sein, dass das Wasser heilig ist und vom Himmel fällt, auf die Berge tropft, durch Moose und Farne und Wälder nach unten rinnt und schließlich bei uns aus der Leitung kommt. Es ist nicht selbstverständlich, sauberes, klares Wasser trinken zu können. Wenn ich aus einem Glas trinke, dann halte ich das Glas mit dem Wasser kurz in meinen Händen und sage: »Liebes Wasser, bitte erinnere dich daran, wo du herkommst!«

Dann erst trinke ich es und denke dabei an Bergquellen und Seen …

Die Berge rundherum geben mir Geborgenheit. Sie sitzen wie mächtige weise Buddhas im Land und man kann sich an sie lehnen. Sie haben eine Kraft, die sich besonders dann zeigt, wenn man sie bezwingen will. Berge bezwingt man nämlich nicht. Man gibt sich ihnen hin! Erst wenn man sie zu Verbündeten macht, ist man ihnen ebenbürtig. Die Berggeister bekommen regelmäßig Opfergaben von mir, weil sie mich unterstützen, mich beschützen und mir gut gesinnt sind, wenn ich sie als Freunde betrachte und respektvoll behandle. Ich betrete sie und ich pulsiere mit der Erdenmutter in einem Takt, der jeden Schritt auf meinem Weg zu einem Trommelschlag macht, der mich innerlich Lieder der Kraft singen lässt und auch mein Herz durchflutet. Heimat, das ist nicht dort, wo du Arbeit hast oder wo du eine Wohnung gefunden hast, wo abends die besten Wirtshäuser geöffnet haben oder das Benzin am billigsten ist. Heimat ist dort, wo die Bäume dich schon als Kind spielen sahen, wo die Berge dich morgens begrüßen wenn du aus dem Fenster schaust, wo deine Seele zu klingen beginnt, wo deine Ahnen begraben liegen und du den Puls der Erde spüren kannst. Heimat schmeckst du in jedem Atemzug, du spürst sie, weil dein Körper dort nicht an seinen körperlichen Grenzen endet, sondern sich ausdehnt und verschmilzt mit der Umgebung, die dich liebt und die du liebst. Manchmal rollen im Ybbstal große Felsen und Steine von einem Berg, an dessen Fuß eine Straße gebaut wurde. Mit Fangseilen und Überdachungen wird nun immer wieder versucht, den Steinen Herr zu werden, die auf die Straße fallen. Ein alter Mann der früher in Opponitz lebte, saß einmal in der Ybbstalbahn neben mir, schaute auf den gegenüberliegenden Berg und sagte nachdenklich: »Jo, wenn ma im Berg den Fuass wegnimmt, dann fallt a immer wieder um«. (»Ja, wenn man dem Berg den Fuß wegnimmt, dann fällt er immer wieder um.«) Diese Steine sind natürlich gefährlich für die Menschen, die dort mit ihren Autos entlangfahren. Darum gehe ich zu diesem Berg und singe für ihn, sooft ich an ihm vorbeikomme. Ich singe: »Halt’s zamm deine Stoana, halt’s zamm, halt’s zamm« (»Halt sie zusammen, deine Steine …«) und dann schmunzelt der Berg und hält seine Steine und Felsen fest zusammen und in meinen Gedanken sehe ich, wie sich eine weiße Decke über die lockeren Steine legt und wie diese Decke alle Steine am Berg hält. Der Berg schwingt mit meinem Gesang und ich freue mich jedes Mal, wenn wir uns begegnen und auch er freut sich, denn er hat sonst niemanden der für ihn singt.

Manche Berggeister zeigen mir Seen die im Berg versteckt sind, andere sind Geschwister, wieder andere wollen nicht besucht werden. Jeder Berg ist anders. Keine zwei Berge sind genau gleich. Jeder spürt sich anders an, einer ist freundlich, ein anderer grob und rau. Berge sind Persönlichkeiten. Und je nachdem, wie man ihnen begegnet, so sind sie auch zu einem. Darum habe ich immer kleine Opfergaben mit in meinem Rucksack, wenn ich auf einen Berg gehe.

Auch wenn ich durch einen Tunnel fahre, singe ich für den Berg. Ich bitte ihn um Verzeihung und bedanke mich, dass ich durch seinen Bauch fahren darf. Manchmal, wenn niemand sonst im Tunnel ist, dann hupe ich fröhlich vor mich hin um die Berggeister zu grüßen oder ich zünde einen gebundenen Stab aus getrocknetem Salbei an und halte ihn aus dem Fenster und räuchere so den ganzen Bergbauch während ich durch ihn hindurch fahre.

Früher war ich oft Bergkristalle oder Smaragde suchen in Rauris und im Habachtal. Mir sind Menschen begegnet, die mit Spitzhacken in den Berg schlugen und Kristalle herausbrachen. Menschen, die mit Hämmern und Hacken Steine zerschlugen, in der Hoffnung, einen kleinen Smaragd zu finden. Menschen, die die Umgebung nicht mehr wahrgenommen haben. Die nichts gaben, dafür aber umso mehr nahmen. Die den Berg stürmten, ohne Rücksicht zu nehmen. Auch nicht auf mich, die ich noch nicht so bergerfahren war. Ich lief hinter ihnen her und hatte kein Wasser dabei, niemand wartete auf mich oder fragte mich, ob es mir gut geht. Sie wollten Kristalle. Das war alles, was sie interessierte. Ich setzte mich dann neben ein Schneefeld und beobachtete Gämsen, die sich dort sonnten. Ich wollte keine Steine mehr. Weder wollte ich sie in einem Geschäft kaufen, noch wollte ich sie weiterhin suchen. Mir wurde immer klarer, dass die Kristalle den Berggeistern gehören. Dass sie die Hüter der Berge sind. Dass es nicht unser Recht ist, einen Kristall einfach herauszubrechen aus dem Berg. Dass ich mit jedem Kauf eines Kristalles diesen Raub an der Natur unterstütze. Ich begann, alle Steine und Kristalle, die ich gekauft oder geschenkt bekommen hatte, in die Natur zurückzubringen. Ich ging so weit, dass ich meine größten Schätze an Federn, Steinen, Tierkrallen oder anderen wundersamen Dingen der Natur zurückgab. Ich bat die Wesen der Natur um Verzeihung. Das tat ich, wenn ein überfahrenes Tier tot auf der Straße lag, wenn ich eine Katze im Straßengraben begrub, wenn ich einen zertretenen Käfer entdeckt hatte, wenn ich hunderte Zigarettenstummel auf meinem Weg zählte. Ich bat die Geister um Vergebung für die Achtlosigkeit und Dummheit der Menschen. Ich sammelte den Müll von den Badegästen ein, die zu uns an die Ybbs kamen und von der Plastikflasche bis zum Metallschrott ihren Abfall hinterließen. Ich schenkte den Flussgeistern dafür Blüten oder Milch und bat um Verzeihung.

Ein nordamerikanischer Indianer erzählte mir einmal, dass eine einzige weggeworfene Zigarette 10 Liter Grundwasser so vergiftet, dass man es nicht mehr trinken kann. Ich weiß bis heute nicht, ob das stimmt. Aber ich habe es jedem Menschen erzählt, den ich beobachtete, wenn er achtlos einen Zigarettenstummel in die Natur warf. Ich habe auf dem Weg zwischen meinem Haus und dem Kindergarten in meinem Heimatdorf einmal über 90 Zigarettenstummel gezählt. Zu Hause rechnete ich mir aus, wie viel Trinkwasser das war. Verseucht und giftig. Ich dachte an meine Kinder und ich wusste, dass ich es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren konnte, sie liegen zu lassen. Seither sammle ich auch Zigarettenstummel ein.

Die Wenderin

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