Читать книгу 364 Tage - Sonja Reichel - Страница 8

Оглавление

— 2 —

Am Montag meldete Arvid sich erneut bei ihr, doch seine Stimme war seltsam metallen und fremd. Bereits seine Begrüßung blieb wie amputiert in der Leitung hängen, sein Hallo schwächelte, brach an den Enden ab und war eine Aufforderung an sie, das Wort zu ergreifen. Wo denn morgen. Und wann genau. Und was mitbringen.

Sie wollte zwar niemanden, der sie bevormundete, aber jemanden, der nicht wusste, wo und wann und was, regte sie auf.

Mach einfach, dachte sie mehrmals während des Telefonats.

Kamen diese halb verendeten Sätze wirklich aus diesem schönen Mund, mit dem ihrer am Wochenende einen Pakt geschlossen hatte? Der kurze Anruf barg enormes Zerstörungspotenzial und tauchte ihre Vorfreude in Pechschwarz. Als wäre sie auf Grund gelaufen und leckgeschlagen.

Tatsächlich war ihre Übellaunigkeit Arvid gegenüber auch am folgenden Tag nicht verflogen. Sie saß in ihrem Büro an einer italienischen Übersetzung, die ebenso hakte wie ihre Gedanken an ihn. Sie hatte das Gefühl, selbst die einfachsten Sachen nachschlagen zu müssen. Als hätte jemand die Sprache aus ihr herausgeschnitten. Obwohl draußen ein gleißendes, fast vergessenes Sonnenlicht herrschte, blieb ihr Inneres trüb. Wie ein Morast, in dem alles zu versinken drohte, was (noch) nicht stark genug, nicht verwurzelt war. Dazu ihre Sinne, die heute so großporig waren, dass alles in sie hineinfiel. Jedes Geräusch, jeder Geruch, jede Störung.

Sofie ahnte, dass sie in diesem Zustand alles zerschlagen würde, was vielleicht einen Versuch wert war. Sie musste vermeiden, unter allen Umständen, ihn heute zu treffen, weil sie dann für nichts garantieren konnte. Wie ein tollwütiger Köter würde sie sich auf seinen nächsten angefressenen Satz stürzen und ihn in der Luft zerfetzen. Ihn und ihre Hoffnung gleich dazu.

So rettete sie sich in eine Notlüge, dass ein kurzfristiger Auftrag hereingekommen sei, sie bis nachts würde übersetzen müssen, er verstehe doch … (dass sie gerade versuchte, ihnen eine Zukunft zu ermöglichen). Als Wiedergutmachung bot sie ihm statt des Dienstags den Samstag an. Ein Tauschgeschäft zwischen Werktag und Wochenende. Arvid war einverstanden: »Ich mag Wochenendtage.«

Am Samstag flößte ihr das bevorstehende Treffen mit ihm noch immer Unbehagen ein. Sofie befürchtete, dass er ihr nicht mehr gefallen könnte. Denn es waren weniger die Gespräche gewesen, die etwas in ihr ausgelöst hatten, als vielmehr seine Küsse. Er war in die Talsohle ihrer Sehnsucht gelaufen und hatte deswegen leichtes Spiel. Weil sie nicht wählerisch war, sondern hungrig.

Tagsüber verfiel sie deswegen in Aktionismus, besorgte ein Geschenk für Mathias, bei dem sie am frühen Abend zum Geburtstag eingeladen war, brachte Altglas zum Container, strich das Regal in der Küche weiß und verließ die Wohnung mit Farbrückständen an den Händen. Nicht daran denken.

Als Sofie auf halber Strecke zur Feier war, reduzierte sich das Blau im Himmel auf eine Abbruchkante, wie um zu verkünden: Die Sonne vor ein paar Tagen war nur eine Stippvisite, keine Zeit für mehr, vielleicht auch keine Lust. Kümmert euch selbst um euer Licht, ihr Menschen, seht zu, dass ihr strahlt von innen.

Der einsetzende Regen fand seinen Weg durch ihr Cape als schmierige Feuchtigkeit, das Spritzwasser des Verkehrs durchnässte ihre Hose. Doch in all dieser Flüssigkeit verschwand ihre Anspannung wie schnell lösliches Pulver. Sofie trat in die Pedale, schrie gegen das Wetter an und sah, dass sich ein älterer Mann an der Bushaltestelle kopfschüttelnd nach ihr umdrehte.

Mathias feierte zusammen mit einem Bekannten, der seine Wohnung zur Verfügung gestellt hatte. Seltsam entrückt von den anderen Häusern stand das Gebäude am Ende einer Straße. Ein wuchernder Monumentalbau. Das Treppenhaus schien kein Ende zu nehmen, von den Fluren gingen unzählige Wohnungstüren ab wie Sichtblenden. Jemand öffnete ihr die Tür. Sofie war erstaunt, dass Leute in ihrem Alter triste 60er-Jahre-Bauten mit matschfarbenen Teppichen und niedrigen Decken bewohnten, als huldigten sie einem architektonisch zweifelhaften Jahrzehnt. Bonjour tristesse. Der Balkon drohte wegen eines verstopften Abflusses überzulaufen und erhöhte heute nicht den Wohnwert.

Mathias lehnte mit seinen verwuschelten Haaren samt Drei-Tage-Bart an der Spüle in der Küche und umarmte sie zur Begrüßung: »Sag nicht, dass du mit dem Fahrrad gekommen bist.«

Sie winkte ab. Und dass sie erstmal ins Bad müsse.

Aus dem Flur drangen Gesprächsfetzen zu ihr, während sie sich zwischen Wickeltisch und Windelbergen die zerlaufene Mascara aus dem Gesicht wischte.

Mathias’ Lehrerfreunde diskutierten einen Fall aus ihrer Schule, der auch in der Presse die Runde gemacht hatte. Cyber-Mobbing. Das Opfer eine Dreizehnjährige, die ihrem Schwarm zu leichtfertig Nacktaufnahmen von sich geschickt hatte. Dort, im vermeintlich sicheren privaten Chatroom, den sie nur mit ihm hatte betreten wollen. Er aber verbreitete ihre Bilder wie die einer erlegten Trophäe. Die Bilder, die zu viel zeigten und doch nur ein erstes Tasten sind – ein Ertasten des eigenen jungen Körpers, der nicht weiß, wohin mit sich. Ein Ertasten der eigenen ersten Gefühle, die das Denken ausschalten. Und nicht ein Zettel wird herumgereicht mit den ungelenken Worten Willst du mit mir gehen, den die Lehrerin abfängt und zerreißt, bevor er für die ganze Klasse sichtbar wird. Die Bilder werden geteilt und das Intime ausgestellt, als wäre es ein Witz. Dabei für die Schülerin die Enthauptung. Der Mädchenkopf, der vormals hoch getragen wurde, versteckte sich neuerdings unter Kapuzen, als wäre er gar nicht da.

Mathias hatte Sofie erzählt von den anschließenden Lehrerkonferenzen, den Gesprächen mit den Schülern. Doch es war, als schöbe man einem fallenden Sportler zu spät die Matte hin – die Verletzung war unvermeidbar. Erschreckend das fehlende Mitgefühl für die Schülerin, die für die Klassenkameraden nur noch die Perverse war. Derzeit war sie krankgeschrieben. Niemand wusste, wann sie zurückkäme. Niemand wusste, ob sie es überstehen würde.

Teenagersein in Zeiten der digitalen Verrohung. Mit einem Netz, das nicht verzieh. Sofie war froh, dass es in ihrer Schulzeit noch keine Handys gegeben hatte. Wie vergleichsweise harmlos man sich damals bekämpft hatte. Es verwunderte nicht, dass Lehrer und Schüler den wachsenden Druck wie eine Gratwanderung bezwangen. Und wehe dem, der nicht schwindelfrei war.

Doch Mathias schien gegen sämtliche Unwägbarkeiten seines Berufes immun. Er stützte sich ab auf seinen soliden, inneren Kern. Auch auf Sofie hatte seine Gegenwart etwas Beruhigendes. Sein ganzes Wesen war geradlinig und kompakt wie sein Körper. Dass er ähnliche Probleme hatte wie sie, sich auf jemanden einzulassen, überraschte sie. Es fiel ihr nicht schwer, sich eine Frau für ihn vorzustellen. Jünger als er, pragmatisch, nicht zu nachdenklich. Das Nachdenkliche gestattete er in Freundschaften, in Beziehungen brauchte er eine gewisse Leichtigkeit. Sie bezweifelte, dass sie sich als Erwachsene angefreundet hätten. Ohne die gemeinsam verbrachte Kindheit würden ihnen die Themen ausgehen. Aber mit dem Vergangenheitspolster konnten sie Gesprächspausen notfalls überbrücken mit einem Weißt du noch?

Als sie schließlich das Wohnzimmer betrat, fühlte sie sich an ein Kammerspiel erinnert. Die Szenerie hatte eher etwas von einer in der Zersetzung begriffenen Krabbelgruppe als von einem Geburtstag. Ein Kind, das wie eine Schildkröte aussah, robbte ihr entgegen, einen Speichelfaden am Kinn. Um den Tisch herum saßen diese Mütter-Mütter, die nicht mehr waren als das. Mütter. Ausschließlich. Dieser Kuhtyp Frau: behäbig, rundlich, bodenständig. Meine vier Wände, mein Kind, sein Erzeuger. Sie, die gebärenden Weiber. Gebär-Mütter. Nicht mehr und nicht weniger. Sie bedankte sich im Stillen bei ihren Freundinnen, die bereits Mütter waren und darüber hinaus.

Jemand bot ihr einen Hotdog an, und sie entdeckte zwei Bekannte, mit denen sie wortlos beschloss, etwas zu trinken. Wodka und irgendwas. Ihre Stimmung erreichte etwas Hysterisches. Der Senf brannte in ihrem Mund. Draußen schöpfte der Gastgeber Wasser vom Balkon.

War sie nicht auch eine Tastende in Sachen Liebe? Seit sie Lars als ihren Kompass verloren hatte, war ihr manchmal, als könnte man es verlernen, das Lieben. Als könnte man auch die Durchlässigkeit verlieren, derer es bedurfte, wenn es galt, Feuer zu fangen für jemanden. Und wer sie verlor, legte nur einen Schwelbrand nach dem anderen, anfällig für jede sich ändernde Windrichtung.

Mathias hatte sich bei ihr untergehakt und wollte wissen: »Was bist du so abwesend? Hast du nicht gleich ein Date?«

»Ja.«

Er lachte ob ihrer Einsilbigkeit, die, wie er fand, so gar nicht zu ihr passte.

»Was ist los?«, und boxte ihr in die Seite.

Sofie erklärte, dass sie nicht wisse, Arvid etwas skurril sei.

»Skurril muss nichts Schlechtes sein. Wo hast du ihn denn her?«

»Von der Straße, gewissermaßen haben wir uns auf der Straße aufgelesen, als wir beide auf jemanden gewartet haben.«

»Ein guter Anfang.«

»Ohne ihn hätte ich wahrscheinlich schon alles in Stücke geschlagen.«

»Du bist im Vermeiden ja schon so gut wie ich«, kommentierte er.

»Leider. Ich dachte, ihr Männer wärt ständig damit beschäftigt, den Kopf aus irgendwelchen Schlingen zu ziehen. Müssen wir derart emanzipiert sein und euch alles nachmachen? Ich klage an: In dem Punkt ist die Frauenbewegung nach hinten losgegangen. Wenn jetzt beide Seiten zaudern, wird das nichts mehr.«

»Sei einfach nicht so streng mit ihm.«

»Rate ich das sonst nicht immer dir?«

Jedenfalls war es ein gutes Stichwort. Sofie beschloss, alles auf sich zukommen zu lassen, Arvid auf sich zukommen zu lassen.

Wieder war sie draußen mit ihm verabredet, unter einem Torbogen. Sie hatte mit allem gerechnet bei ihrer Begegnung, nur nicht damit, ihn spontan umarmen zu wollen. Doch wie er da stand, mit seiner Mütze und seinem grau melierten Mantel, seine dunkelbraunen Augen auf sie gerichtet, war sämtliche Abwehr, ob natürlich oder künstlich gezüchtet, in sich zusammengefallen. Sie küssten sich auf die Mundwinkel. Ein Kuss auf den Mund wäre nach der Woche, in der sie Distanz geschaffen hatte, zu selbstverständlich gewesen.

»Hallo.«

Seine Zerstreutheit von Montag war wie weggeblasen, wie feiner Sand vom Wind weggetragen, und er wusste genau wohin. Es gab da diesen gläsernen Kunstpavillon im Park, den er ihr zeigen wollte. Einen schlichten Kubus mit einer langen Bar unter hohen Decken, die abzuheben schienen. Dazu Lounge-Ecken und elektronische Musik, die trotz fehlenden Gesangs nicht anstrengend war, sondern sich in den Raum ergoss wie in ein großes Auffangbecken. Wir schwimmen im Klang. Von außen drückten Büsche gegen die Glasfront, und Sofie meinte, das Schaben der dünnen Äste an den Scheiben zu hören, als sie mit Arvid an der Theke stand, um zu bestellen. Die Flaschen waren vor einer orange-goldenen Lichtwand arrangiert. Vielleicht lag es an dieser optischen Suggestion, dass sie Campari bestellten. Arvid hatte sie schon die ganze Zeit im Arm und offenbar beschlossen, sie nicht mehr loszulassen.

In der Ecke am Fenster, in die sie sich zurückzogen, war da sofort wieder dieses wortlose Sprechen mit Mund, Lippen und Zungen, mit Händen im Haar. Dort, auf diesen sofaähnlichen Sitzgelegenheiten war zwischen ihnen ein Flüstern der Körper, mehr brauchten sie in diesem Moment nicht. Die Getränke stellten sie ab und vergaßen sie. Stattdessen sahen sie sich dabei zu, wie ihre Münder vom Küssen immer röter wurden, röter auch die Wangen, und sie fanden sich sehr schön so.

Könnte man die Zeit doch anhalten. Dann bitte jetzt. Stopp.

Der Abend bescherte ihnen noch viele Stoppmomente, als sie durch den leichten Nieselregen nach Hause schlenderten, nach Hause, in die gleiche Richtung, denn sie wohnten nicht weit voneinander. Ihre Körper verfielen in Gleichschritt, Sofie lehnte beim Gehen ihren Kopf an seine Schulter – seine Arme, ihre Hände, ein Geflecht. Die Stadt leuchtete mit ihren nassen, menschenleeren Straßen in einem ganz besonderen Licht. Es war, als wäre jeder Neonschriftzug nur für sie entzündet, nur für sie in die Pfützen gefallen. Überall lagen gelbe, blaue und rosafarbene Wasserflächen herum.

»Wenn ich könnte, würde ich dir eine Pfütze pflücken«, sagte er.

»Hör auf, das Kind in mir um den Finger zu wickeln.«

»Wenn es mir gelingt, das Kind für mich einzunehmen, dann ja vielleicht auch das Mädchen und die Frau.«

Und er lag richtig damit – sich zu verlieben bedeutete immer auch, das Kind in sich zu wecken, das Staunen, die Neugier. Wann sonst hatten Menschen ein so starkes Bedürfnis danach, dem Gegenüber die eigene Vergangenheit zu erzählen?

Ich bin die Summe all dieser Jahre. Ohne sie gäbe es mich nicht. Und ich will, dass du den Rechenweg verstehst. Jedes Minus und jedes Plus. Findest du nicht auch, dass damals schon erkennbar war, wie ich später sein würde? Und ist diese Geschichte und jene Angewohnheit nicht ein erster Beweis dafür? Wie ein urzeitliches Fossil, über das man beim Erzählen stolpert. Deine Fragen dabei wie ein Pinsel, der den Staub beseitigt.

Alles auf Anfang. Weil du neu bist. Weil ich neu bin für dich.

Und während sich in einer stillen Seitenstraße der Fernsehturm wie ein beruhigender Wächter über der Stadt erhob, vertrauten sie sich einige ihrer Eigenheiten an, die sie beim anderen wie ein Pfand hinterlegten. In ihrem Fall waren es Weigerungen. Sofies Weigerung als Kind, Eiweiß zu essen, weil für sie etwas mit der Konsistenz nicht stimmte; Arvids Weigerung, den Buchstaben G zu schreiben, weil er ihn hässlich fand, unausgegoren. Das Lächeln auf beiden Seiten, das Parteiergreifen für die jeweilige Vergangenheit: Du hattest ein frühes Verlangen nach dem Gelben vom Ei. Und du, du warst schon früh ein Ästhet.

Da sie ihren Blick nach hinten gerichtet hatten, in die Jahre sahen, die entfernt lagen wie ein Land, das hinter Meeren und Bergketten verborgen war, hakte Sofie ein in diese Vorzeit, hakte nach, was er mit der Kaninchengeschichte habe bezwecken wollen. Den toten Kaninchen.

»Ich wollte ein Symptom erklären.«

»Was für ein Symptom?«

»Dass in meiner Nähe Lebewesen kaputtgehen, nicht nur Tiere.« Jetzt klang es nicht, als wollte er um Aufmerksamkeit heischen. Bedauern lag in seiner Stimme.

»Wer ist unter deinen Händen kaputtgegangen?«

»Meine Mutter.« Er hielt den Blick geradeaus auf die Straße gerichtet, als er erzählte. Von dem Mann, den sie nach der Trennung von seinem Vater zu lieben wagte, dem Mann, den er in die Flucht geschlagen hatte. Mit der Weigerung, etwas aus seinem Leben zu machen. Mit seinen Szenen und Wutanfällen, mit zerschmissenem Geschirr, das ihr Angst einjagte. Solche Angst, dass sie sich auf die falsche Seite schlug. Auf seine. Nicht auf die des neuen Mannes, der nicht ankam gegen dieses Vorrecht an Besitz, das der jugendliche Arvid wie ein sturer Herrscher für sich reklamierte. Erst später, als Arvid ausgezogen war, war sie wieder eine Beziehung eingegangen, aber es fehlten die echten Gefühle, der Mann übernahm eine Alibifunktion, dass jetzt alles gut sei. In ihrem Leben, zwischen ihr und ihrem Sohn.

»Nichts ist gut, obwohl sie es immer wieder beteuert«, Arvids Finger krampften. Die Schuldgefühle saßen überall, auch in den Fingerspitzen.

»Aber du warst doch fast noch ein Kind. Gib nicht dir die Schuld.«

»Du warst nicht dabei«, seine Augen immer noch unzugänglich, eine Wand. Er schüttelte sich. »Ich will nicht darüber reden. Ich kann es auch nicht, okay?«

»Okay.«

Sie liefen eine Weile schweigend, drückten ab und zu ihre Hände, um sich des anderen zu vergewissern.

Die Kindheit als Gefäß. Als Gefäß, in das die Schuld fließt. Von der man glaubt, sie ein Leben lang abarbeiten zu müssen. Der Start in die Erwachsenenwelt mit einem Klotz am Bein, der echtes Wachstum verhindert. Hatte nicht jeder seine Fußfessel? Die warnte, wenn man sich zu weit in die Freiheit wagte, die Freiheit, ohne schlechtes Gewissen zu leben?

»Ich habe uns den Abend versaut«, stellte er fest, als sie die letzte Straßenecke erreichten, an der sie sich verabschiedeten.

»Hast du nicht.«

Er hatte ihm lediglich Substanz, Schwere, etwas Trauer verliehen.

»Leicht kann jeder«, fügte sie hinzu.

Da nahm er ihr Gesicht behutsam in seine Hände und näherte sich ihrem Mund so zeitverzögert, dass sich ihr Inneres vor Lust zusammenzog. Wie konnte es irgendjemand auf der Welt ohne solche Küsse aushalten? Wie hatte sie es so lange? Aber sie war zu vertieft, um den Gedanken weiterzuspinnen.


Inle See, Myanmar, drei Monate nach der Trennung

Seit du nicht mehr in meinem Leben bist, hat sich mein Mund zurückhaltend gegeben. Der ein oder andere Mann hatte es auf ihn abgesehen, doch immer drehte ich mich weg. Bis gestern. Gestern, das mitten in der Nacht begann. Mathias und ich standen noch vor den Hähnen auf, die im ganzen Land das Morgengrauen ankündigen. Auch die streunenden Hunde schliefen noch, als wir die dunklen Straßen entlanggingen. Unser Frühstück trugen wir in Tüten mit uns: Bananen, hart gekochte Eier, Marmeladentoast. In der anderen Hand wie immer Trinkwasser.

Am Inle See wird es nachts kühl, zum ersten Mal seit unserer Ankunft in Asien hatten wir Jacken an. Am Vorabend hatten wir von einem Dorfbewohner – Thet – eines der letzten kleinen Holzboote für unseren heutigen Ausflug über den See gemietet. Ein wichtiges Fest stand bevor, jeder wollte aufs Wasser.

Als wir den Anleger fast erreicht hatten, ohne im Gewusel einzelne Gesichter ausmachen zu können, hörten wir ein: »Sir, Sir!«, das sie hier für Männer und Frauen gleichermaßen verwenden. Thet hob den Arm und zeigte auf sein Boot, das gelb lackiert Seite an Seite mit den anderen Booten lag. Der Anblick erinnerte entfernt an Venedig. Schläfrig nahmen wir Platz, während der Myanmare die Leinen löste und den Motor startete. Seine Füße waren so wendig wie ein zweites Paar Hände. Der Fahrtwind und das Knattern der Maschine hinderten uns daran einzunicken. Als die Sonne die dunkle Wasseroberfläche in ein Glitzern verwandelte, wussten wir, warum wir so früh aufgestanden waren. Warum dieser Kontinent Namen kannte wie Reich der tausend Elefanten oder Wolkenpass. Die Natur lag verzaubert da, auf den entfernten Hügelkuppen am Ufer funkelte eine silberbesetzte Pagode, als hätte sie eine Krone auf.

Gegen Mittag erreichten wir den Tempel, vor dem das Wettrudern der umliegenden Ortschaften stattfinden sollte. Voll besetzte Boote mit Zuschauern schwammen wie ein dicht gewebter Teppich auf dem Wasser. Ein wildes Trommeln und metallisches Klirren umgab uns aus allen Richtungen; Klänge wie von einem unbekannten Lebewesen, das angesichts der einsetzenden Hitze durchzudrehen drohte.

Thet führte uns in ein Stelzenhaus, das eigens für Touristen errichtet zu sein schien. Auch wir sollten hier essen und dem Treiben vor dem Tempel zusehen. An einem Tisch mit einer grünen Wachstuchdecke fanden wir freie Schemel. Wir waren am Scherzen über die kleinen Plastikmöbel, die typisch für Asien sind, als ein Amerikaner fragte, ob er sich zu uns setzen dürfe. Ohne eine Antwort abzuwarten, stellte er sich vor, Richard, und erzählte, dass er auf Weltreise sei. Ob wir ein couple auf honeymoon seien. Weder noch. Ab dem Moment traf mich sein Blick. Jede seiner Gesten forderte: »So, Sofie, tell me more about you.« Ich flüchtete in Sätze, ohne etwas preiszugeben, und ertappte mich dabei, dass ich ihn sympathisch fand. Vielleicht, weil er wirkte wie jemand, der macht. Ganz anders als du.

Unser Gespräch wurde unterbrochen, als es weiterging, quer über den See, den der Tourismus bereits mit schleichendem Gift infiltriert hatte. Trotzdem lächelten die Einheimischen, als bewaffneten sie sich mit Gleichmut gegen die beginnende Zerstörung ihres Lebensraumes. Zigarrendreher hier, Tuchmacher dort – wir fühlten uns wie Marionetten, die ihr Geld an den Verkaufsständen lassen sollten. Das perfide Spiel zwischen Arm und Reich und wir mittendrin. Die einzelnen Spielzüge vorhersehbar. Was hatten wir erwartet? Fast hassten wir uns in diesem Moment für unsere Reiselust. Deswegen überredeten wir Thet, uns in ein Dorf am Westufer des Sees zu bringen, über das wir gelesen hatten. Bei dessen Beschreibung uns eine seltsame Sehnsucht beschlichen hatte. Dort, und nur dort, wollten wir noch hin.

Auch jener Ort konfrontierte uns zunächst mit den unvermeidlichen Verkaufsständen, doch als wir sie hinter uns gelassen hatten, lösten sich auch die wenigen Holzhütten in der Natur auf. Stattdessen erhoben sich mehrere Stuparuinen vor uns auf freiem Feld, und wenig später standen wir bei sengender Hitze in mannshohem Gras. Wir folgten einem schmalen Trampelpfad, scharfkantige Gräser und kleine Äste zerkratzten uns die Knöchel. Nach einer Weile mündete der Weg in steile Stufen, die einen Berg hinaufführten. Die Sonne stach zu mit ihrem Stachel aus zu viel Licht, und der Schweiß bemächtigte sich unserer wie ein unabänderlicher Zustand. Oben auf dem Gipfel erwartete uns die Stille wie ein alter Freund. Wir tranken Wasser in großen Schlucken und ließen die Blicke schweifen über die Ebene unter uns, die Reisfelder und die Ausläufer des Sees, die Stuparuinen auf den gegenüberliegenden Hügeln. In einem Farbgeflecht aus Weiß, Gelb und Golden verflossen sie mit der Sonne.

Dafür reise ich, dachte ich und hoffte, dass auch du eines Tages so etwas sehen würdest, du dem Himmel so nahe wärst wie ich in diesem Moment, weit weg von allem, was belastet und bremst und beunruhigt. Weit weg von den wütenden Anteilen in einem selbst, den trauernden, den ratlosen. Nah an einem Himmel, der einen mit Kraft füllt, nicht nur kurz, sondern der aufbewahrt, für später. Für Zeiten, in denen das Grau die Freude und den Willen lahmlegt, und der Horizont nicht mehr ist als eine unscharfe Erinnerung.

Als hätte er meine Gedanken gelesen, hörte ich Mathias in die Stille hinein sagen: »Jetzt komme ich durch den Winter.«

Wir lauschten dem Zirpen der Grillen und erschraken, als wir beim Abstieg ein Husten hörten und ein Mönch uns seine alte Hand mit einem Reisfladen entgegenstreckte. Die Hand war schmutzig, immer wieder wischte er sich damit den Schleim, den er aushustete, aus seinem verrunzelten Gesicht. Wir lehnten das Essen dankend ab, doch er bestand darauf mit einer Vehemenz, dass wir nach einigem Zögern den Fladen aßen mit allen Keimen, die er darauf verteilt hatte.

Du hättest nicht einen Bissen herunterbekommen, da bin ich mir sicher. Wahrscheinlich hättest du mir vorgeworfen, dass ich schuld sei, dich in so eine Lage gebracht zu haben, weil ich dich zu dieser Reise überredet hätte, dieser Reise, die du nie wolltest. Und jetzt, im Angesicht der bakterienübersäten Hand dieses Fremden, sei dir auch klarer als sonst, warum das nichts ist für dich, Reisen. Du würdest dich in Rage reden und als weiteren Punkt der Anklage diesen unerträglichen Schweiß aufführen, dieses Geklebe, das kein Mensch aushält. Beim Abstieg würdest du mir vorrechnen, was du für das Geld der Reise alles hättest kaufen können. Ich hätte dich erst zur Ruhe gebracht, wenn wir uns dem Ort genähert hätten – ob du mit deinem Gezeter dein Gesicht verlieren wolltest, damit hätte ich dich gehabt, denn die Sorge um deine Außenwirkung hörte auch an Ländergrenzen nicht auf.

Stattdessen saß ich abends, ohne Auswirkungen vom Reisfladen, mit Mathias in einer Garküche und löffelte eine scharfe Suppe, als Richard, der Amerikaner, in unser Blickfeld lief. Mit einem Lächeln trat er an unseren Tisch, und wir luden ihn ein, sich zu uns zu setzen.

»So, Sofie, here you are again.«

Mathias warf mir einen Seitenblick zu, hatte Richards Interesse an mir bemerkt. Dieser versuchte, mich mit den übrig gebliebenen Fetzen seines Schuldeutschs zu beeindrucken und erinnerte sich an die altmodischen Vornamen in den Übungsbüchern. Helga. Klaus. Karl. Dann kam er auf die unterschiedliche Bedeutung des Wortes Kofferraum im Amerikanischen und Britischen zu sprechen – trunk, boot –, was nicht selten Verwirrung stiftete, hieß boot im Amerikanischen doch lediglich Stiefel. Entsprechend schnell konnte ein Koffer sprachlich im Stiefel landen. Richard lachte bei der Erinnerung an eine Episode an einem Londoner Taxistand und wunderte sich nicht über derart seltsame Ausdrücke bei einem Volk, das auf der linken Seite Auto fuhr.

Als Mathias sich später auf die Suche nach einer Toilette machte, beugte sich Richard zu mir herüber, sah mich herausfordernd an und küsste mich auf den Mund. Es waren nur Sekunden, doch es ging mir durch und durch. Dieses überraschende Aus-der-Deckung-Treten, das gleichzeitig eine Ankündigung war. Für ein Später, für ein Dann-wenn-wir-ungestört-sind. Bei Mathias’ Rückkehr taten wir so, als wäre nichts gewesen. Ohnehin war er müde und deutete an, in die Unterkunft zu wollen. Ich sagte, er solle schon vorgehen, ich würde noch bleiben.

Richard lächelte mich an: »You are still here, Sofie.«

Der tropische Abend hatte uns längst in sein Dunkel gehüllt, die spärlich beleuchteten Straßen wurden von den vorbeifahrenden Mopeds angestrahlt. Staub lag in ihren Lichtkegeln. Ab und zu winkte uns jemand; ein kleines Mädchen drehte sich ungläubig zu uns um, schielte aus dem Schutz des langen Rocks seiner Mutter zu uns herüber.

»Es hat gerade seine ersten Weißen gesehen«, sagte Richard, während er nach einer Zigarette suchte. Dabei streifte er unmittelbar über meiner Hand durch die Luft, dass ich nicht sagen konnte, ob er mich berührte oder den leeren Raum darüber. In den Rauch hinein, den er langsam ausstieß, stellte er die Frage, ob wir den Ort erkunden sollten.

Da es uns zum Wasser zog, nahmen wir die Straße Richtung Anleger. Er wollte den Arm um mich legen, doch ich löste mich von ihm und schob als Grund die Myanmaren vor, die Berührungen in der Öffentlichkeit nicht gern sahen. In Wahrheit ertrug ich diese vertraute Geste nicht von einem Fremden.

Im Schutz einer Böschung setzten wir uns schließlich ins feucht werdende Gras. Die Boote lagen wie schlafende Wassertiere zu unseren Füßen, träge schwappte der Fluss an ihre Holzplanken, als Richard mich auf seinen Schoß zog. Zunächst wehrte ich ab, doch bald gab ich nach. Wandte mich ab von meiner Strenge und meiner Illusion von dir. Es war an der Zeit für eine Episode. Die Küsse von Richard hatten eine gewisse Dringlichkeit. Jeder Kuss mit Nachdruck, als wollte er sagen: Es muss so sein. Trotzdem verflog das anfängliche Kribbeln bald. Richard flüsterte mir Nettigkeiten ins Ohr, die nicht hängen blieben, da er sie jeder Frau gesagt hätte, die seinen Weg statt meiner gekreuzt und annähernd in sein Beuteschema gepasst hätte. Er behauptete, dass ich erst die zweite auf dieser schon halbjährigen Reise sei, die ihn berühre, ob ich nicht die Nacht mit ihm verbringen wolle: »You’re so special.«

Ich lachte: »Ja, klar.«

Er beteuerte: »I mean it.«

Du hättest ob der Gemeinplätze, die noch folgten, den Verstand verloren und dich darüber aufgeregt, dass solchen Leuten nicht der Mund verboten wurde, wenn sie nur nachkauten, was sie schon hundertmal gehört hätten, ohne Ideen für etwas Neues. Von Brei im Mund hättest du gesprochen, und dass man den abgenutzten Stoff der Wörter doch zumindest anders arrangieren könne, das sei doch das Mindeste, was man verlangen könne. Mit einer Dunkelheit im Blick hättest du meine Zustimmung erpresst – wenn es um mein Nicken ging, konnte dein Blick zum Schraubstock werden.

Doch hier im Urlaub war die Messlatte niedriger, das Anspruchsdenken in der Heimat zurückgeblieben. So blieb ich noch eine Weile an Richard hängen, doch mit in sein Zimmer wollte ich nicht. Ich ahnte, dass mir der Körper, den ich durch das Shirt ertastete, nicht gefallen würde. Er war zu klobig, trotz seiner Größe, er machte, dass ich meine Hände zurückzog, weil ich es nicht so genau wissen wollte. (Als hätte ich mich gestoßen.)

»You’re giving me a hard time.«

Vielleicht tat ich ihm unrecht, aber Richard wirkte so unversehrt, dass ich mir nicht vorstellen konnte, er habe den Schmerz dieser Welt jemals auch nur vom Rand aus gesehen. Ich stellte ihn mir in seiner Heimat Kalifornien vor, am Surfen und Feiern, und nur ein bedeckter Himmel wäre ein kleiner Kratzer in seiner ewigen Langspielplatte des Glücks, einer Platte, bei der ich permanent Lust haben würde, sie an der Wand zu zertrümmern, nur um zu sehen, wie er darauf reagiert.

Als ich später die knarrende Zimmertür so leise wie möglich öffnete, bedacht darauf, Mathias nicht zu wecken, murmelte er schläfrig: »Da bist du ja. Ich dachte schon, du brennst mit dem Ami durch.«

»Das dachtest du? Ich lasse meinen Reisepartner doch nicht im Stich.«

Dich dagegen hatte ich im Stich gelassen, und manchmal wünschte ich, du hättest mir genügend Gründe dafür geboten, es nicht zu tun.


»Noch dreimal schlafen«, sagte Arvid zu ihr, als sie es kaum schafften, sich voneinander loszureißen, dort, bei den Tischtennisplatten, nicht weit von ihrer Wohnung entfernt.

So muss es als Teenager gewesen sein, hätte er diese Zeit ausgelebt, sinnierte er, allgemein zugängliche und doch verwunschene Stellen aufsuchend, im Schatten der Bäume, unter Torbögen, in der Ecke eines Klettergerüsts; Küsse hinterlegend an öffentlichen Orten und doch nur für eine Person gedacht, auf ewig abrufbar, der persönliche Liebesabdruck, hinterlegt in dieser großen, anonymen Stadt. Und selbst ein Stein, eine Bank, eine Schaukel wären nicht mehr nur ein Ding, sondern Anlass für ein Lächeln, für ein Innehalten.

»Wenn du nicht Küsse verteilt hast an Straßenecken, was hast du gemacht?«, wollte Sofie wissen.

Arvid konnte es nicht sagen, diese Zeit war in ihm wie Nebel. In diesem Nebel verfingen sich Mädchen wie fixe Ideen, allen voran eine Brieffreundin aus Italien, ein fremdes, dunkles Mädchen, das Erfüllung versprach. Doch als sie sich endlich sahen, war es zu spät. Mit einem Schulfreund war er im Nachtzug ans Tyrrhenische Meer gereist, angelockt von diesem Mädchen, das nur auf ihn gewartet zu haben schien, auf ihn und Küsse, die nach Pistazie und Salzwasser schmecken würden. Doch dann traf er sie als Doppel an, fest an der Hand eines Italieners, der den Heimvorteil ausspielte: Denn was war Arvid schon mehr als etwas, das vorübergeht, ein Tourist, dem nur ein paar Wochen an der Sonne beschert waren, bevor er in seine kalte Welt nördlich der Alpen zurück musste? Und eine Vespa hatte Arvid erst recht nicht. Nicht hier. Nicht hier unten, wo man dem Wasser näher war als dem Land.

Vielleicht waren diese früh verpassten Gelegenheiten Gründe für Arvids Zögern, das sich in den kleinsten Handlungen manifestierte. So, wie auch viele Stunden zuvor. Sofie hatte auf dem Rasen vor den Kolonnaden nach der Arbeit auf ihn gewartet, das Gesicht in die warmen Farben des Abendlichts getaucht wie in eine Lasur, einige Museumsbauten im Rücken. Obwohl sie sich die vorigen Treffen stundenlang geküsst hatten, war sein Kuss jetzt scheu, als könnte sie die Fortsetzung jederzeit unterbrechen. Sie musste ihn locken wie ein abwartendes Tier, ein paar Schritte vom Geschehen entfernt, jederzeit zur Flucht bereit. Umständlich legte er sich neben sie ins Gras, besorgt um seine Frisur und seine Hose. Allgemein schien er Angst zu haben vor Flecken, da sie eine Unregelmäßigkeit waren, etwas, dem nicht beizukommen war.

Sofie durchkreuzte seine Vorsicht und zog ihn an sich: »Leg dich auf mich, bitte, der Länge nach möchte ich zugedeckt sein von einem Arvid.«

Nachdem er sich vergewissert hatte, dass seine Sachen keinen Schaden nahmen, hörte sein innerer Wächter auf, ihn zu zensieren. Stattdessen redete Arvid drauflos, dass er fast gerannt sei, der Ort ihn angezogen habe, mit dem Wissen, dass sie hier auf ihn warte.

»Du wurdest sogar sehnsüchtig erwartet, vor allem von ihm hier«, und sie deutete auf ihren Mund. Von Unersättlichkeit war die Rede, von fehlenden Manieren und Ungehorsam.

»Dann sollten wir uns um ihn kümmern«, befand er und ließ los, wurde schwer auf ihr, und die Tatsache, dass er Gewicht hatte, und sei es physisch, beruhigte sie.

»Ich habe Wein mitgebracht«, verkündete er irgendwann, »Wein und Oliven.« Und als sie das Picknick vor sich ausbreiteten, färbte sich der Himmel bereits wieder schwarz, und erste Blitze zuckten in der Ferne. Eines der Museen zeichnete sich hell vom Himmel ab, als würde es von innen leuchten.

»Fast gespenstisch«, Sofie deutete in Richtung Gebäude, das wie eine weiße Wand vor der Gewitterfront stand. Arvid hielt sie von hinten umschlungen, den Kopf auf ihrer Schulter abgelegt. Die Vögel wurden von den Böen durch die Luft geschleudert, als wären sie in Seenot. Havarierte Tiere.

»Weißt du eigentlich, dass ich für unser heutiges Treffen zum ersten Mal kein Konzept vorbereitet habe?«, fragte er.

»Ein Konzept?«

»Falls ich nicht gewusst hätte, was ich sagen soll. Falls Pausen, unangenehme, entstanden wären, hätte ich Notfallfragen gehabt.«

»Aber ein Gespräch kann man doch nie planen, weil noch jemand Zweites daran beteiligt ist.«

»Du hast mich zum Glück im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Konzept gebracht«, stellte er fest. »Mit dir ist es einfach. Ein Wort ergibt das andere, und auch Schweigen funktioniert.«

Tatsächlich konnten sie gemeinsam schweigen, ohne dass es unangenehm war, aber meistens war ihr Schweigen laut, weil sie sich etwas mitteilen mussten, wie jetzt, als der Wind heftiger wurde und der Abstand zwischen Blitz und Donner geringer.

»Das kennen wir ja schon«, lachten sie, als sie die Sachen vor dem beginnenden Regen einsammelten und auf die Stufen unter den Kolonnaden umzogen. Erneut waren sie Gefangene des Wetters, im unmittelbaren Umkreis gab es keine Cafés oder Restaurants, in die sie hätten flüchten können. Gleichzeitig barg dieser Mangel an Möglichkeiten die Freiheit, einfach nur dazusitzen, eng beieinander, und das Ende des Gewitters abzuwarten.

»Ob wir auch noch miteinander können, wenn es weder regnet noch gewittert?«, fragte Arvid.

»Wer weiß. Vielleicht verstehen wir uns tatsächlich nur, wenn das Draußen so rau ist«, und nach einer Pause: »Würdest du mir denn ein paar Fragen aus deinem Notfallkatalog vorlesen?«, ein Tippen ihrer Finger auf seinem Handrücken wie ein Anklopfen.

Wie erwartet, hatte Arvid Einwände. Dass kein Notfall vorliege, er für einen solchen gerüstet bleiben müsse. Er hätte noch weitere Gründe angeführt, wenn Sofie ihn nicht umklammert hätte, um an seine Notizen zu gelangen.

»Übergriffig, aber sehr hübsch dabei«, zog er sie auf und packte ihre Arme, arretierte sie in der Luft. »Liest du auch heimlich Tagebücher?«

»Du schreibst Tagebuch?«, fragte sie.

»Nein, aber wenn, würdest du?«

»Tagebücher sind tabu, außerdem hatte ich nicht vor, deine Fragen heimlich zu lesen, sondern hier, zusammen mit dir.«

»Das macht es nicht besser.«

»Weil die Fragen so abstrus sind?«

»Du traust mir ja viel zu.«

»Nein, Ungewöhnliches.«

Sie rangelten um die Zettel, bis Sofie anfing, ihn zu küssen: »Ein Kuss pro Frage.«

»Zu wenig.«

»Zehn pro Frage.«

Seine Antwort lag in ihrem Mund: »Zu wenig.«

Von hundert Küssen war die Rede, während sie nacheinander griffen, den Kopf des anderen, noch näher, bis da ein Netz war aus Haaren und Händen und Atem, und diese Nähe entlockte ihm eine Frage, ob sie farbig träume oder schwarz-weiß, und sie musste nicht überlegen, farbig, während er es nicht wusste. Aber brauchte er Farben in der Nacht, wenn er sich ohnehin nicht an seine Träume erinnerte?

»Wer braucht die Vergangenheit, wenn die Gegenwart ausnahmsweise die Zeit ist, in der man sein möchte?«, das fragte er in die Küsse hinein. Dass Sofie wie eine Mediatorin sei zwischen ihm und dem Jetzt, das sonst im Schatten des Morgen und des Gestern stünde.

Trotzdem ertappte sich Sofie zuhause dabei, dass sie in Erinnerung an den Abend den Kopf schüttelte. Arvid verhielt sich, als wäre er der Welt ausgeliefert. Fast wie ein Kind, das man an die Hand nehmen wollte, um es zu leiten. Nur weil sie selbst scheu war, brachte sie Verständnis für ihn auf. Ihr gefiel, dass Arvid sich nicht wie selbstverständlich durch sein Leben bewegte, über jedweden Zweifel erhaben, ohne Raum für überraschende Entdeckungen. Dennoch war da die Befürchtung, er könnte zu schwach sein für sie. Sie hoffte, dass auch er in der Lage wäre, sie bei der Hand zu nehmen und zu sagen: »Komm, ich zeige dir etwas. Und solltest du Angst haben, ist das nicht schlimm, weil ich keine Angst habe. Ich zeige dir einen Teil der Welt, den du noch nicht kennst.«

Und während sie auf dem Rand der Badewanne saß und sich die Zähne putzte, fragte sie sich, wie jemand, der seit zehn Jahren nicht mehr gereist war, ihr etwas von der Welt zeigen sollte. Das Etwas konnte auch in der eigenen Stadt, im Alltag sein. Dennoch glaubte sie, dass erst das Reisen so auf den Alltag abfärbte, dass auch er größer und vielschichtiger wurde. Denn wer ewig nur vom gleichen Teller aß, wusste nicht um all die Geschmacksrichtungen, die so verschieden waren, dass sie das ein oder andere hier geraderückten, die so scharf waren, dass man das Gemäßigte zuhause besser ertrug, die so notdürftig zusammengerührt waren, dass einem Dinge egal wurden. Es zählte dann nicht mehr, ob ein Fleck auf der Hose war. Es zählte dann nur, dass man überhaupt eine besaß.

»Du wirst pathetisch«, wies sie sich zurecht und rollte sich im Bett zusammen. Noch vier Stunden blieben ihr bis zum nächsten Morgen. Und mit dem Bild seines schönen, markanten Gesichts schlief sie ein.


Yangon, Myanmar, drei Monate nach der Trennung

Mathias und ich laufen seit heute Morgen durch die verstaubten, belebten Straßen Yangons, und jetzt, da wir bei einem Inder zur Ruhe kommen, muss ich an dich und deine Angst vor Flecken denken.

Wie würden der Schmutz und du aufeinander reagieren?

Eine allergische Reaktion auslösen oder eine, mit der niemand gerechnet hätte?

Ich nicht. Du nicht.

Ein erstes Aufbäumen vielleicht gegen die Flecken, die sich ohne dein Zutun auf deiner Kleidung ausbreiteten. Wie eine Krankheit, gegen die es keine Schutzimpfung gab. Am Anfang wären wir nur in Zeitlupe vorwärtsgekommen, du hättest erschrocken an den Rändern der Straße innegehalten und die Flecken gezählt, hättest versucht, sie abzuklopfen, doch dann hätte dich die Hitze überwältigt. Schatten wäre wichtiger geworden als Makellosigkeit, und irgendwo sitzen und etwas Kühles trinken wäre das Einzige gewesen, was zählte. Dazu diese abertausend Eindrücke, die auf unserer Netzhaut zu flirren begonnen hätten. Gegen dieses Chaos wären wir zur Shwedagon-Pagode hinaufgestiegen, wo das Gewusel nicht aufhörte, sondern feierlich wurde. Wir hätten zufällig das Vollmondfest erwischt, das ganz Myanmar zu dieser wichtigen buddhistischen Kultstätte lockte. Hand in Hand wären wir durch den Duft der Räucherstäbchen geschritten, und du hättest den Myanmaren dein schönes Lächeln geschenkt, während sie Mingalabar gerufen und uns rosafarbene Blumensträuße als Opfergaben zum Kauf angeboten hätten. Ergriffen wären wir gewesen von dieser Stupa aus Gold, diesen Farben wie aus einem Märchen, den orangefarbenen Gewändern der Mönche und dem tiefen Klang der Gongs. Vor dieser Kulisse hätten unsere Fußsohlen unzählige Male die Wege der Gläubigen gekreuzt, und wir wären zwar Fremde gewesen, aber dennoch mittendrin, weil wir uns willkommen fühlten.

Jetzt beim Inder wärst du erschrocken ob der toten Hühner, die samt Kopf und Füßen aufgespießt in den Auslagen hängen, und hättest erst gewagt zu essen, nachdem ich probiert hätte, um dann festzustellen: »Das schmeckt gut, das schmeckt besser als bei uns im Kiez.«

Danach würden wir in einem der Stoffläden nahe der Sule-Pagode Longyis kaufen, die traditionellen Wickelröcke der Myanmaren, die bis zu den Knöcheln reichen. Denn sie kommen hier nicht zurecht mit zu viel Bein, sind nicht daran gewöhnt, entblößte Knie zu sehen, wir merken es an ihrer Reaktion, an ihrer Ungläubigkeit, und wir würden uns anpassen und verhüllen. Die Enthüllung, die Nacktheit kämen noch früh genug in dieses Land, das so lange von der Außenwelt abgeschottet war.

Trotzdem wärst du davon überzeugt, dass ich sie auch im Longyi verrückt machen würde mit meinem weißblonden Haar, das sie berühren wollen, genauso wie unsere Haut, als müsste sich anders anfühlen, was so viel heller war.

Nachts wären wir so müde gewesen, dass wir nebeneinander hätten liegen können, ohne dass der unausgesprochene Befehl zwischen uns gehangen hätte, dein Befehl: »Begehr mich jetzt! Begehr mich immer!«

Dabei hatte ich dir immer zu erklären versucht, dass ein solcher Befehl schnell ins Gegenteil umschlägt. Ich Raum brauchte für meine Erschöpfung. Denn anders als du mit deinen kurzen Arbeitszeiten hatte ich an den Nachmittagen keine Zeit, auf dem Sofa zu liegen und zu schlafen. Mein abendlicher Kontakt mit der Stille, mit mir, war ein Erstkontakt nach einem langen, vollen Tag. (Auch in dieser Hinsicht warst du wie ein Kind, das sehnsüchtig auf meine Rückkehr wartete. Um endlich zu erzählen. Um endlich gehört zu werden.)

Jetzt aber würde ich dir gerne sagen, dass dein schlanker Körper gut nach Asien passen würde und ich ihn umso mehr vermisse, als ich den gänzlich anders gearteten Körper von Mathias um mich habe, den ich nicht im geringsten begehre. Der mich erschreckt, wenn ich ihn im Halbschlaf nicht zuordnen kann. Dessen lauter Atem mich manchmal wachhält.

Dich habe ich zuletzt nicht mehr atmen gehört. Als hättest du jede Nacht die Luft angehalten, um mich nicht zu vertreiben.

Begehrst du mich noch, in Gedanken?


364 Tage

Подняться наверх