Читать книгу 364 Tage - Sonja Reichel - Страница 9

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In der nächsten Woche traf sie sich erneut mit Arvid auswärts zum Essen, weil sie es noch zu früh fanden, sich gegenseitig zu bekochen. Beim Telefonieren gestern hatte er es angesprochen, dass er zwar gerne würde, aber ob schon jetzt, das wisse er nicht. Und sie verstand, denn beide hatten ein für die Stadt ungewöhnlich langsames Tempo. Die meisten hätten längst miteinander geschlafen, und sie diskutierten darüber, ob ein Kochen zuhause nicht zu viel sein könnte.

Genau darin lag der Reiz für Sofie. Anstatt sich die Wohnungen, die Körper – alles – sofort zu zeigen, legten sie vorsichtig eine Schicht nach der anderen frei. Näherungswerte. Als wäre der andere ein sorgsam geschnürtes Paket, dessen Inhalt nicht vorschnell herausgezerrt werden durfte, weil es zu viel sein könnte, eine Überforderung, eine Unterforderung. Bei übertriebener Hast bliebe am Ende vielleicht nicht mehr übrig als eine zerknüllte Verpackung, eine leere Hülle.

Dass Arvid ihr trotz seines irritierenden Wesens mehr gefiel, als sie sich eingestehen wollte, merkte sie daran, dass sie lange brauchte, um sich für ein Outfit zu entscheiden. Normalerweise wusste sie schon beim Aufwachen, was sie anziehen wollte, doch heute zog sie sich mehrfach um, als hätte sie ihre Sicherheit verloren. Ihr Kleiderschrank sah aus wie nach einer Plünderung, doch nach einigem Hin und Her hatte sie das Passende gefunden und wartete jetzt in einem kurzen, hellen Kleid auf ihn.

Auf dem kleinen Platz mit den vielen Cafés und Bars herrschte fast südländisches Treiben, Stimmen füllten wie Nachtvögel die Luft und zogen darin ihre Kreise. Arvid musste sich an Menschengrüppchen vorbeischlängeln, um zu ihr zu gelangen, und lächelte von dem Moment an, als er sie entdeckt hatte. Wieder durchzuckte es sie ob dieses Gesichts, das sie so schön fand. Es war kein klassisches Gesicht, auf das jeder ansprang, sondern in Form und Proportion ihrem nicht unähnlich. Laut Forschung der Grund dafür, dass sie sich hingezogen fühlte zu ihm, weil sie sich in ihm erkannte.

Wir alle wollen gespiegelt sein.

Dazu diese Lippen, die sich zur Begrüßung auf ihre legten, und seine Stimme, wie immer etwas brüchig, als wäre er überrascht, dass sie auf ihn wartete, auf ihn und niemanden sonst.

Bald liefen sie zusammen durch den vertrauten Stadtteil, vorbei an Restaurants, die die Gäste auf den breiten Gehwegen bewirteten. Oft stellten die Besitzer schon im Februar die ersten Tische nach draußen, weil in dieser Stadt auch der erste bleiche Sonnenstrahl eingefangen wurde, sobald das Thermometer ein paar Grad über Null zeigte.


Wir bandagieren die Seele gegen die Kälte

die uns zu lange festhielt in der Geschlossenen

ohne die Weite des Himmels

Hirn und Herz sediert im Dämmerzustand,

nahe der Nulllinie

schichten wir Stoffe übereinander

um uns am Leben zu halten.


Für morbide Gedanken war an diesem lauen Juniabend kein Platz. Es war, als wäre die gesamte Stadt unterwegs, als müsste sie sich satt trinken an der verloren geglaubten Wärme, ihr blasses Gesicht nicht weiter verbergen, sondern als Projektionsfläche anbieten. Für lange Tage, für die erste Bräune, für das Ausbleiben von Traurigkeit.

Auch Arvid schien sich mitreißen zu lassen von dieser Stimmung und hielt Sofie den Arm hin, als wollte er sie zum Tanz führen. Es war etwas derart Altmodisches in der Bewegung, dass sie lachte und ihn stattdessen bei der Hand nahm.

»Warum die Hand?«, wollte er wissen, und Sofie verstand nicht.

Er setzte nach, Hand in Hand hätte etwas von einem Paar, der Arm sei unverbindlicher. Bei Begriffen wie unverbindlich drehte sich etwas in ihr um und verschloss sich.

Sie entzog ihm abrupt ihre Hand und schoss in seine Richtung: »Wenn du es unverbindlich willst, fassen wir uns am besten gar nicht mehr an.«

In ihr stiegen Erinnerungen hoch, die verunreinigt waren und alle mit diesem Wort zu tun hatten; mit Männern, die nicht zu ihr standen und in der Öffentlichkeit gerne so taten, als hätte es die Nächte davor und danach nie gegeben. Sofie schlug einen kühlen, sachlichen Ton an, weil sie unter keinen Umständen wollte, dass Arvid mitbekam, dass sie mit den Tränen kämpfte. Bis zu ihrer Ankunft im Restaurant richtete sie ausschließlich Fragen an ihn, die sie auch jedem anderen gestellt hätte. Unpersönliches Einerlei, um dem Schweigen zu entkommen.

Es schien ihm nicht aufzufallen, denn er verstrickte sich wieder in das Thema Bewerbung. Dass er nicht ewig in diesem kleinen Grafikbüro sein Dasein fristen wolle, so schlecht bezahlt, dass er gerade so über die Runden käme, schlimmer aber noch die langweiligen Kunden und die anspruchslose Werbung, die dabei produziert wurde. Der Creative Director, seiner Meinung nach zu ängstlich. Arvid hätte ihm schon mehrfach Vorschläge unterbreitet, die allesamt im Keim erstickt worden seien. Leider antworteten die großen Agenturen nicht auf seine Bewerbungen, überhaupt verfiel er jetzt in ein Lamento, das sich zwischen Ohnmacht und Selbstüberschätzung hin- und her bewegte. Sah er einerseits die Welt überschwemmt von schlechtem Design, das er gerne verhindert hätte, zählte er andererseits Kampagnen auf, auf die er nie gekommen wäre, und nannte Designer, die mit ihrem Gespür für Gestaltung Bücher und Magazine erschufen, die er am liebsten alle besessen, besser noch – selbst gestaltet hätte; die richtige Spannung aus Fläche und Weißraum, das Geheimnis ist die Reduktion, mit ein paar Strichen Wunderwerke, wie Zauberer des Papiers – voller Ehrfurcht sprach er davon und gleichzeitig voller Zweifel, ob er jemals so etwas Gutes zustande brächte.

Sofie verstand die Frustration darüber, seine Ideen nie verwirklicht zu sehen, und nicht die Spielwiese geboten zu bekommen, derer es bedurfte, um sie zu entwickeln. Trotzdem reagierte sie nur mit knappen Bemerkungen, weil das Wort unverbindlich in ihr nachhallte. Erst als der erste Drink vor ihnen stand und wegen der Aufregung direkt ins Blut ging, löste sich die Wirklichkeit etwas auf.

Dazu Arvid, der bemerkt hatte, dass etwas nicht stimmte, der jetzt wissen wollte – was?, und Sofie, dass sie auf unverbindlich allergisch reagiere, und Arvid, der jetzt ständig ihre Hand wollte und Küsse über den Tisch, weil er etwas gutzumachen habe. Als sie ein Gericht mit Garnelen bestellte, gestand er ihr, dass ihm von Meeresfrüchten übel würde, bereits bei einer Spur davon.

»Dann bereite dich auf einen kussfreien Abend vor«, kam von ihr, »ich werde meine Bestellung nicht rückgängig machen.«

Da verlangte er Küsse auf Vorrat und überlegte, dass ihrem Geschmack wahrscheinlich nichts etwas anhaben könne. Von Regeln sprach er, die bei ihr ohnehin nicht gälten. Was er anderen Frauen nie hätte durchgehen lassen – sie schlüpfe einfach durch die Löcher seiner Seele.

Warum die Atmosphäre später wieder kippte zwischen ihnen und unerträglich wurde, unüberwindbar, wie Platten aus Beton, konnte Sofie nicht sagen. Vielleicht brach das unverbindlich wieder auf. Sie fühlte sich wie auf einem Eisfeld neben ihm, während er nach einem verwunschenen Fleck hinter der Kirche suchte und sich dabei erneut über seine quietschenden Schuhe aufregte, die nicht mehr umzutauschen waren, da er sie bereits neu hatte besohlen lassen.

Keiner ihrer Männer vorher hatte je so ein Aufheben um seine Kleidung gemacht. Sie fühlte wieder diese Fremdheit ihm gegenüber und wollte nur weg. In Gedanken verabschiedete sie sich von ihm: Ich sehe ihn heute zum letzten Mal, wir werden es nicht hinbekommen. Zu unterschiedlich sind unsere Welten.

Ein verwunschener Ort jedenfalls war das Unpassendste, das sie sich vorstellen konnte für sie beide. Sie unterbrach seine Suche und kündigte an, nach Hause zu wollen, weil sie müde sei. (Müde von zu viel Fremdheit.)

Doch sie hatte nicht mit Arvid gerechnet. Sie lief immer noch einsilbig neben ihm her, ihr Gesicht abgewandt, als er sie plötzlich am Arm festhielt und zum Stehenbleiben zwang: »Was ist los? Habe ich was falsch gemacht?«

Da brach es aus ihr heraus: »Wenn ich dir peinlich bin, Arvid, dann lassen wir es hier und jetzt. Ich weiß nicht, vor wem oder was auch immer du mich verstecken musst, aber ich weiß, dass ich mich nicht verstecken lasse.«

Er unterbrach sie, überrascht, wie sie auf so etwas käme: »Wenn jemand das Zeug zur Peinlichkeit hat, dann ich, aber doch nicht du«, und er umarmte sie mitten auf der Straße, küsste sie lange und mit Nachdruck. Ob ihr das öffentlich genug sei. Seine Zunge forschend, fragend. Einem Impuls folgend biss sie nach ihm, doch er war schneller. Nur noch sein Mund jetzt dicht vor ihrem. Ihr Atem stieß gegen ihre Haarsträhne, die ihr ins Gesicht fiel. Ihr Groll jetzt klein, fast gewichen.

»Willst du immer noch nach Hause?«, wollte er wissen und hielt dabei ihr Gesicht.

Ein Kopfschütteln von ihr, in seine Hände hinein.

Ich lege mein Nein in deine Hände.

Und er zog sie mit sich, in einen Spätkauf, um eine Flasche Wein zu holen, dort, im Verkaufsraum, der sein Neonlicht als Markierung auf die Straße warf. Das städtische Leuchtfeuer für die Durstigen der Nacht. Die nicht in einer Bar trinken wollten, sondern an einem eigenen Ort, den Korken tief in den Flaschenhals gedrückt, Wein an den Fingerkuppen, eine Fährte für mehr.

Ihr Ort in dieser Nacht war ein grasbewachsener Schutthügel, an dessen Flanken sie hinaufstiegen, oben ein paar Bänke und Richtung Süden ein Blick in die Ferne, nahezu unverstellt. So unverstellt, wie es in einer Millionenstadt möglich war, und doch mit einem Lichternetz aus Straßenlaternen und erleuchteten Fenstern gegen die Verlorenheit ihrer Bewohner. Städter sind Streuner. Wer verwurzelt ist, bleibt auf dem Land.

»So eine Dachterrasse wäre schon was«, und während sie die Wohnung im obersten Geschoss des Neubaus zu ihrer Linken betrachteten, der nicht mit Glas und Sichtbeton geizte, malten sie sich aus, dass Arvid als Designer Magazine gestalten würde, die ihm die Leute aus der Hand reißen würden, um den Hunger der Augen zu stillen, denn das Auge isst mit, auch, wenn es nur liest, der Lesefluss ein Leichtes bei der richtigen Typografie, ein Gleiten über die Seiten, ohne Stocken. Und auch der Art Directors Club würde davon Notiz nehmen und das ein oder andere Magazin von ihm prämieren, mit Bronze, mit Silber, mit Gold, dem Olympia der Kreativen, während Sofie Bücher schreiben würde, die so viel einbrächten, dass sie nie wieder übersetzen müsste. Denn was war Übersetzen schon mehr als das Wiederkäuen von etwas, das jemand anderes geschrieben und gedacht hatte? Zwar schwang dabei immer der eigene Stil mit, eigene Wörter, die den Sinn besser trafen als eine direkte Übersetzung. Trotzdem blieb es der Text eines anderen. So wie Arvid seine Bildwelten unverwirklicht sah, blieben auch die Wörter, die Sofie in sich trug, unausgesprochen, war sie zum ewigen Nacherzählen verdammt.

»Die Unvollendeten, das sind wir.«

Sie schworen sich, alles zu tun, um ihre Träume zu verwirklichen. Denn wenn man es bis zur Lebensmitte nicht tat, wann dann? Waren Träume mit 50, 60 und 70 noch so stark wie mit Mitte 30? Waren sie nicht jetzt schon abgenutzt gegenüber dem, was man sich mit 20 vorgestellt hatte, damals, als man dachte, etwas Besonderes zu sein, jemand, auf den die Welt gewartet hatte? Damals, mit 20, als ihnen die Welt scheinbar zu Füßen lag mit dem Abitur in der Tasche, dem Zeugnis in eine grenzenlose Freiheit, die so groß war, dass sie sie bald in die Schranken verwies? Du kannst nicht alles sein, sei alles oder nichts wird nicht funktionieren, sei etwas und das richtig, mache keinen Fehler bei der Entscheidung. Für die Träume wäre noch genug Zeit, dann – dann? – erstmal studieren, erstmal jobben, erstmal. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass sie ab einem bestimmten Alter zu schwach sein könnten für ihre Träume. So kurz vor dem Midlife begannen sie zu ahnen, dass sie nicht wieder zögern durften, denn dann wären sie irgendwann zu alt. Und selbst, wenn sie dann noch die Kraft aufbrächten – könnte die Umwelt umgehen mit dem Neuanfang eines Menschen, der so viel gesehen und erlebt hatte, dass ein Beginn welcher Art auch immer undenkbar schien? Denn das wäre die Umkehr des natürlichen Laufs der Dinge: War nicht alles ab einem bestimmten Alter auf das Ende ausgerichtet? Wäre es im Angesicht des nahen Endes nicht vermessen, neu zu beginnen? Aber da 40 angeblich das neue 20 war, wäre ihre Generation in ein paar Jahrzehnten vielleicht auch dazu bereit und mit nichts anderem beschäftigt. (Und sie selbst von dem Wunsch getragen, die Träume mögen irgendwann aufhören, weil man sie gelebt hätte, weil die Retrospektive auf das eigene Leben Grund gab für eine tiefe Zufriedenheit, die einen in Würde altern ließ, mit sanften Falten im Gesicht und der Gewissheit: Wenn ich könnte, würde ich wieder genauso handeln.)

Doch schon jetzt gab es so viel, das Arvid und Sofie gerne anders gemacht hätten – er hätte studiert, sie wäre vor ihrem Studium länger herumgereist als ein paar Monate. Dazu all die Gelegenheiten, die kleinen und großen, die man erst rückblickend als solche erkannte, wenn ein Umkehren zu spät war.

Mit der Stadt im Blick fragten sie sich, wie die anderen zurechtkamen mit dieser in die Länge gezogenen Jugend, die doch keine mehr war.

Wie konnte 40 das neue 20 sein? Das war eine Farce, denn uns neuen Zwanzigern waren die offenen Türen und die Neugier abhandengekommen, wir waren nicht nur die Summe unserer Jahre, sondern auch unserer (Fehl-)Entscheidungen. Wir hatten begriffen, dass die Welt nicht auf uns gewartet hatte, wir nichts Besonderes waren, wir keine Biografien hatten, denen etwas Glamouröses anhaftete. Stattdessen nagte das Bedauern an uns, das mit jedem vergeudeten Tag lauter wurde. Denn wir waren keine Erstsemester mehr im Auditorium Maximum, berauscht von der Energie, die von den anderen Studenten ausging, und hatten keine Praktikantenseele mehr, auch wenn Kreative gerne noch zu lange mit Praktikantengehältern abgespeist wurden. Wir besaßen die neueste Technik, gute Matratzen und gingen zum Waschen nicht mehr in den Waschsalon, sondern ins Zimmer nebenan. Wir wollten unseren Urlaub nicht mehr auf Isomatten oder in Schlafsälen verbringen und freuten uns nicht über günstiges Essen, sondern gutes Essen.

Das war mehr als ein feiner Unterschied und jeder, der mit 40 ein Zwanzigjähriger sein wollte, log oder war randvoll mit Drogen.

Sofie hatte sie getroffen, diese Vierzigjährigen, die ihr bei Dates die Vorteile von Kokain darlegten – dass das Geile an dem Zeug sei, dass man trinken könne, ohne müde zu werden. Jedes Mal fragte sie sich dann, wie alt sie noch werden musste, um sich so einen Stumpfsinn nicht mehr anhören zu müssen – die Droge als Wertmerkmal, die Droge als Indikator für Coolness und Wildheit.

»Alles Lügner«, rief Arvid in die Nacht, und Sofie hatte sich warm geredet und fuhr fort: »Stimmt, denn wir gehen nicht mehr für ein Erasmus-Semester ins Ausland (das habe er schon mit 20 nicht gemacht, unterbrach Arvid) – selbst wenn es ruft, das Ausland (ihn hätte es nie gerufen, so Arvid) – das so ausländisch nicht mehr ist, da die Länder und die Welt sich gegenseitig kopieren und beliefern (wozu also verreisen, wieder Arvid) – und einen neuen Weltbürger geschaffen haben, der nördlich, südlich und entlang des Äquators in dieselben Läden geht, in Starbucks und Zara. Selbst dann, wenn er versucht, sich dem Trend zu widersetzen und individuell zu sein, ist er nur einer von vielen.

Wacht auf, ihr Menschen, ihr seid nur eine Gattung, die Gattung des Homo sapiens, die Erde platzt aus allen Nähten wegen euch, wie könnt ihr nur so anmaßend sein, euch für einzigartig zu halten? Besonders in den Hauptstädten der reichen Länder manifestiert sich dieser Irrsinn täglich aufs Neue. In Heerscharen ist er einer von vielen, der weit gereiste Homo sapiens, der local design unterstützt und in Läden kauft, in denen zehn Oberteile den kargen Raum füllen, Kleidung voller Geltungsdrang, die nur die Hoffnung des Käufers vorwegnimmt, dadurch ein Unikat zu sein.

Ein weiteres unter Millionen, und das wäre dann die Quadratur des Kreises, die dem Leben eine weitere Kante verleiht. Man stößt sich einmal mehr und bemerkt den blauen Fleck nicht. Beim ersten denkt man noch, dass er eine Ausnahme, ein Ausrutscher sei und beweint ihn. Doch später stellt man fest, dass er der erste von vielen war, und über die Jahre, in denen es nicht besser wird, beginnt man es hinzunehmen. Alter ist nicht faltige Haut. Alter ist vor allem verlorenes Vertrauen.«

»Hör auf, du machst mich traurig.«

»Aber es ist doch so.«

»Nicht immer. Manchmal trifft man nämlich jemanden, der anders ist als die anderen.«

»Jemanden wie dich, meinst du.«

»Mich meinte ich nicht, dich, dich meinte ich.« Er umschlang sie mit allem, was er an Armen zu bieten hatte, und so blieben sie lange sitzen, bis die Müdigkeit sie von der Bank schob und zum Aufbruch drängte.

Auch jetzt verabschiedeten sie sich bei den Tischtennisplatten in Sofies Nachbarschaft, als folgten sie einem Ritual. Sie kam sich obdachlos vor, da sie ihre Wohnungen ausgeklammert hatten und sich herumtrieben in Hauseingängen und Parks.

»Wann kommst du mit zu mir?«, schnitt sie das Thema an, und Arvid wollte wissen, ob es dann etwas bedeute. Sofie schützte sich durch eine Gegenfrage, ob es schön oder schlimm wäre, ein Bedeuten.

Er musste nicht nachdenken: »Schön. Es wäre schön.«

Trotzdem hatte er Scheu, sie zu besuchen, weil er dann zu sehr in ihrem Leben sei und sie in seinem.

»Wenn ich so viel von dir gesehen habe, gibt es kein Zurück. Wohnungen von Menschen, die ich mag, machen etwas mit mir. Ich fühle mich dann zugehörig«, schob er als Erklärung hinterher. Er hielt inne, als hätte er Angst, es auszusprechen: Dass es zwar zu früh sei, das, was sie verband, zu definieren, er jedoch keine Beziehung eingehen könne. Nicht jetzt, in seiner beruflichen Situation, die ihn am Existenzminimum dahinvegetieren ließ.

Sie wollte wissen: »Liegt es nur daran?«

»Ja«, und sie glaubte ihm, als sie seinen Blick sah. Sie sah, dass er wollte. Sie. Eine Geschichte. Eine Fortsetzung. Und deswegen konnte sie verzichten. Auf Begriffe, die Druck aufbauten, auf Begriffe, die etwas vorwegnahmen.

»Dann lass uns das, was auch immer es ist, nicht in eine Form pressen. Soll es selbst die richtige Form finden. Du bist doch Designer. Folgt ihr nicht dem Leitsatz form follows function? Lass uns auf unseren Bauch hören und unsere Münder, denn unsere Münder mögen sich.«

»Nicht nur unsere Münder«, kam von ihm und dass er immer aufgeregt sei vor den Treffen mit ihr. Und er flüsterte, dass er ihr gerne seinen Mund mitgeben würde. Sie schlugen sich abwechselnd vor, sich mit nach Hause zu nehmen, jetzt, sofort, ohne Umschweife. Lass uns nicht lange fackeln!

Sie verweilten im Klang dieses Satzes, den sie seit Jahren nicht gebraucht hatten, der den Seiten eines Kinderbuchs entsprungen schien, doch es war kurz vor Sonnenaufgang. Die Erschöpfung holte sie ein, sie dachten zu viel über die Bedeutung dieses Schrittes nach und beschlossen: Ein anderes Mal, versprochen, aufgeschoben ist nicht aufgehoben, und dann etwas früher. Wenn ich das erste Mal bei dir bin, möchte ich nicht alles bleiern vor Schläfrigkeit erleben. Möchte nicht, dass meine Lider meine Augen verkleben.

Sie lachten, weil sie jede Handlung zerlegten, bis nur noch Feinstaub übrig war. Sie versuchten sich zu erinnern, ob das früher auch so gewesen war. Hatte man weniger nachgedacht oder war man einfach nie müde?

Beides, entschieden sie und wollten: Noch einen letzten Kuss, nur noch einen, und versprachen sich: Mein Mund legt sich heute Nacht zu dir, ich vertraue ihn dir an. Ich weiß dein Vertrauen zu schätzen, er wird es gut haben bei dir, mein Mund. Und deiner erst bei mir. Dann bis bald, bis sehr bald.

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