Читать книгу Die Vigilantin - Sonja Reineke - Страница 4
Wie ich Darlan kennenlernte
Оглавление1
In den folgenden Kapiteln wird vor allem Frau Darlan zu Wort kommen. Daher möchte ich sie und die Umstände, die zu diesem Buch führten, im ersten Kapitel beschreiben und dann ihr das Wort überlassen.
Ich hatte Miriam Darlan nie live erlebt, aber den Aufruhr vor dem Gericht schon. Es war eine meiner letzten Versuche, wieder eine echte Story zu schreiben. Also verschob ich mein nur mäßig interessantes Interview und fuhr zum Gericht.
Man hätte meinen können, die Beatles sollten wegen Mordes verurteilt werden. So viele Menschen auf einen Haufen hatte ich jedenfalls vor dem Bielefelder Gericht noch nie gesehen. Sie wurden von Polizisten mit Hunden in Schach gehalten, die Stimmung war ziemlich aggressiv. Sogar ein Wasserwerfer fuhr gerade vor, als ich eintraf. Was für ein Spektakel. Die Menge hatte sich in zwei Gruppen gespalten. Die eine schwenkte Schilder und skandierte: „Freiheit für Darlan!“ Die andere verlangte genau das Gegenteil.
Mehrere Kollegen vom Fernsehen umdrängten eine Frau, die steinernen Gesichts direkt vor dem Eingang stand. Es war Tatjana Wolfhardt. Sie trat als Nebenklägerin auf.
„Am liebsten wäre es mir, sie bekäme die Todesstrafe! Leider haben wir die nicht mehr!“, blaffte sie auf die Fragen der Reporter, deren Mikrofone gierig in ihr verweintes Gesicht stießen.
„Sie hat meinen Bruder umgebracht! Mein armer kleiner Bruder.“ Sie brach in Schluchzen aus, die Kameras zoomten näher heran. Ich hatte mich in der Zwischenzeit mühsam an sie herangekämpft und schoss ein paar Fotos. Der Schnapsgeruch, den Frau Wolfhardt ausdünstete, machte mich ganz benommen. „Dein Bruder war ein Schwein!“, gellte eine weibliche Stimme aus der Menge, die Darlans Freilassung forderte, „er schmort jetzt in der Hölle!“ Die andere Gruppe begann zu toben. Erste Handgemenge entstanden. Was für ein großartiger Stoff für die Abendnachrichten. Ich bedauerte nur, nicht Fotos von Darlan selbst zu haben. Ingo war drinnen und lichtete Darlan ab und schrieb wohl auch einen Leitartikel über den Prozess. Ich hatte sie noch nie zu sehen bekommen. Ich wusste nicht, dass sich das bald ändern sollte.
Wieder in der Redaktion bereitete ich mich auf Ärger vor, da ich meinen Interviewtermin verschoben hatte und jetzt mit Fotos ankam, die ich gar nicht hätte machen dürfen. Das gehörte jetzt zu Ingos Aufgaben. Die Fotos wurden zwar genommen, aber es war so, wie ich befürchtet hatte: Den Artikel dazu schrieb ein anderer. Ich sollte wieder brav in meinen Bereich zurück. Da gab ich es auf.
Als mein Chefredakteur mich Monate später zu sich rief, war ich auf vieles gefasst, aber nicht auf den Auftrag, den er für mich hatte.
Er stand mit hochgekrempelten Ärmeln am Fenster seines Büros und sah erschöpft aus. „Ruth“, sagte er ernst, „ich habe eine E-Mail bekommen, die für unsere Zeitung die Chance ist, eine Exklusivstory über Darlan zu bekommen.“
Ich musste schlucken. Darlan redete mit niemandem, las aber fleißig die ihr zugesandten Fanbriefe, so hieß es. Sie war allen ein großes Rätsel. Journalisten aus aller Welt schlugen sich darum, mit ihr ein Interview machen zu können. Auch die Redaktion unserer Zeitung hätte dafür gemordet, wenn auch nicht unbedingt das Ressort, in dem ich tätig war. Das passte hinten und vorne nicht. Wie kamen wir zu der Ehre? Ich fragte ihn.
„Sie hat nach Ihnen verlangt. Es steht in der Mail der Vollzugsanstalt. Warum weiß kein Mensch. Scheinbar hat sie mal einen Artikel von Ihnen gelesen, und der hat ihr gefallen. Jedenfalls hat sie explizit Ruth Welter angefordert.“
Ich blinzelte. „Namentlich?“, fragte ich und fühlte mich beinahe wie Clarice Starling in „Das Schweigen der Lämmer.“
„Namentlich. Fragen Sie sie selbst, warum. Ab Montag dürfen Sie sie jeden Tag für ein paar Stunden besuchen. Ich bin über diese großzügige Regelung selbst etwas überrascht, aber wahrscheinlich erhoffen sich die Anstaltsärzte ein paar Antworten.“
Natürlich war ich über dieses Angebot verblüfft und erfreut zugleich. Und so kaufte ich eine Menge Batterien für meinen Rekorder und besuchte Miriam Darlan in ihrer Anstalt.