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Darlan und Wolfhardt

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Ein bisschen fühlt man sich tatsächlich an die Szenen in „Das Schweigen der Lämmer“ erinnert, wenn man durch die Sicherheitsschleusen der Anstalt, oder vielmehr des psychiatrischen Krankenhauses Bergenbeck, geführt wird. Es ist ein altes Gebäude, in dem es nach Desinfektionsmitteln und altem Mauerwerk riecht – und nach Wahnsinn. Das behauptet jedenfalls Darlan selbst. Sie sitzt wenigstens im alten Trakt, wo die meisten Zellen leer stehen, sodass mich wenigstens niemand anzischt, dass er gewisse Körperteile riechen kann. Den anderen Teil des Gebäudes hat man renoviert und ausgebaut. Das U-förmige Gemäuer erinnert mich auch an meine alte Schule: cremefarbene Wände, dunkelgrüne Türen, hohe Decken. Echos von zuschlagenden Türen und klappernden Absätzen hallen durch die Gänge. Ein uniformierter Wärter mit schwarzem Schnauzbart eskortiert mich zu dem kleinen Besuchszimmer, das man für unsere Gespräche auserkoren hat. Das Mobiliar besteht aus einem völlig zerkratzen Tisch mit eingeritzten Obszönitäten und zwei Stühlen. Der von Darlan steht gegenüber der Tür, vor dem vergitterten Fenster. In der Tür ist ein Guckloch, vor dem sich der Wärter, ein gewisser Herr Mahling, positioniert. Er wird uns keine Sekunde aus den Augen lassen, was mich wenigstens etwas beruhigt. Darlan erwartet mich bereits. Sie sitzt mir gegenüber, mit strähnigem, dunkelblondem Haar, einem kurzärmeligen, verwaschenen T-Shirt und einer dunkelblauen Trainingshose. Sie schlägt das linke Bein über das Rechte, hat eine dampfende Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand, zieht aber so gut wie nie daran. Die Arme stützt sie auf den wackelnden Tisch und wechselt oft die Sitzposition. Zuerst dachte ich, es wäre eine Nebenwirkung der Medikamente oder ein Symptom ihrer Psychose, aber der Grund dafür ist äußerst trivial: Die Stühle sind hart und höllisch unbequem. Ich selbst rutsche auf meinem hin und her und weiß kaum, wie ich sitzen soll.

Ich sehe sie neugierig an. Fotos habe ich jede Menge von ihr gesehen, aber so nahe bin ich nie an sie herangekommen. Auf den Fotos sah man eine frische, gut gekleidete, attraktive Frau mit einer pfiffigen Frisur. Der Aufenthalt in der Anstalt hat ihr zugesetzt, denn ihre Haut hat einen fettigen Glanz und wirkt viel faltiger als zuvor. Die Augen sind tiefblau, die Nase ist klein und ein wenig zu breit. Alles in allem ist es ein freundliches, offenes Gesicht, das mir genauso gut beim Bäcker, beim Arzt, im Supermarkt oder im Kino begegnen könnte. Bei einem Serienmörder glaubt man immer, man müsse es ihm – oder in diesem Fall ihr – irgendwie ansehen können. Ich kann nicht zählen, wie oft ich zu hören bekommen habe: Aber das sieht man doch schon an den bösen Augen! Das stimmt nicht. Viele Serienmörder wirken freundlich, vertrauenerweckend. Auch Miriam Darlan könnte mich irreführen. Aber ich verliere nicht eine Sekunde aus den Augen, was sie getan hat und wie sie es getan hat. Ich baue das Mikrofon vor ihr auf und bereite den Rekorder vor.

„Manieren haben Sie … hat Ihre Mutter Ihnen nicht beigebracht, dass man erst mal ‚Guten Tag’, sagt, wenn man einen Raum betritt, und dass man sich vorstellt?“ Irritiert sehe ich zu ihr herüber. Sie meint das todernst. Eine steile Falte erscheint zwischen ihren Augenbrauen und ihre Mundwinkel zeigen einen grimmigen Zug nach unten.

„Es tut mir leid“, sage ich, „mein Name ist Ruth Welter, Guten Tag!“

„Ach, am Arsch“, schnaubt sie, „Sie können sich Ihr herablassendes Getue sparen. Wenn Sie meinen, Sie können über mich urteilen, mich analysieren und sich aufs hohe Ross setzen, vergessen Sie die Sache. Packen Sie ihren Scheiß zusammen und verpissen Sie sich.“ Sie sagt es ganz sachlich, und auch das meint sie todernst. Sie bricht das Interview ab, bevor es überhaupt angefangen hat, und ignoriert meine schriftlichen Entschuldigungen und Bitten um einen neuen Termin – für volle sechs Wochen.

Als ich das nächste Mal wieder vor ihr sitze – diesmal nach einem freundlichen „Guten Tag“ und einer artigen Vorstellung – fragt sich mich schlicht: „Wissen Sie jetzt, wer hier am längeren Hebel sitzt?“

Ich weiß es.

Der Rekorder läuft, und sie scheint es kaum abwarten zu können. Denn noch, bevor ich die erste Frage stellen kann, legt sie schon los: „Sie wollen doch bestimmt wissen, wie und warum ich meine Morde geplant habe, oder?“

Ich winke ab. „Lassen Sie uns lieber mit Ihrer Kindheit anfangen.“ Sie schnaubt verächtlich. „Wir sind nicht hier, um über meine Kindheit zu palavern, und Ihre Leser interessiert das einen Scheißdreck.“ Am liebsten möchte ich ihr sagen, dass sie das mir überlassen soll, aber sie sitzt ja am längeren Hebel. Also schweige ich. Aber auch das passt ihr nicht.

„Meine Kindheit … klar, die war scheiße. Muss sie ja auch, oder? Mein Stiefvater war ein Arsch. Reicht das nicht?“ Ich ziehe die Schultern hoch. „Arsch, inwiefern?“, frage ich. Sie rutscht auf dem Stuhl herum. „Es gibt Fotos von mir und ihm“, sagt sie schließlich. „Fotos, wo ich mit ihm in der Badewanne sitze. Es gibt eigentlich keinen Grund dafür, ein neunjähriges Kind zu zwingen, mit einem zu baden, oder? Außer dem einen Grund natürlich. Und dabei wollen wir’s belassen.“ Sie sieht finster auf den Tisch und zündet sich eine weitere Zigarette an, obwohl die andere Kippe noch im Aschenbecher vor sich hin schmort.

Ich belasse es also dabei. Nur eine Frage habe ich noch.

„War das … also das Baden … der Grund, ihn umzubringen?“

„Na, was denn sonst? Aber Sie haben Ihre Hausaufgaben nicht richtig gemacht. Er ist nicht tot.“

„Doch“, erwidere ich trocken, „das ist er. Sie haben ihn zwar ins Koma geprügelt, aber dann ist er gestorben. Vor drei Wochen wurde er beerdigt.“

Überrascht sehe ich, dass diese Nachricht sie nervös macht. Sie hat wohl doch Schuldgefühle, obwohl sie bisher bei keiner ihrer Taten Reue gezeigt hat. Ich frage sie danach. Sie lacht kurz auf, ein bellender, heiserer Laut.

„Nein, ich hatte nur gehofft, er müsse noch lange leiden. Da habe ich wohl zu hart zugeschlagen … oder einmal zu viel. Es ist schwer zu dosieren mit einem Baseballschläger, wissen Sie. Da schießt ihm das Blut aus der Nase und man schlägt weiter zu … Dann kommt es aus den Ohren und man denkt: Halt! Aufpassen! Sonst ist er hinüber! Und man lässt den Schläger sinken … und dann kommt der Sack wieder auf die Füße und taumelt davon, und man muss ihm doch noch eins über die Rübe geben … und dann kracht etwas, er fällt um wie vom Blitz getroffen und der Schädel ist nur noch ein 3 D Puzzle, bei dem schon ein paar Teile fehlen … und man hat das ganze Blut im Gesicht, das spritzt wie Sau … ja, mit dem Baseballschläger ganze Arbeit zu leisten, ist eine Kunst … geht’s Ihnen nicht gut?“

Ich wische mir kurz mit dem Ärmel über die Stirn. „Geht schon.“

Wenn sie glaubt, mich mit Kaltschnäuzigkeit und Detailverliebten Berichten schockieren zu können, hat sie Pech. Ich arbeite bei einer Zeitung, und ich sehe fern. Gewalt in allen Einzelheiten ist heutzutage nichts Besonderes mehr. Nur ihr Plauderton hat mich etwas aus der Bahn geworfen. Das wird mir nicht noch einmal passieren.

„Zäumen wir das Pferd nicht vom Schwanz auf“, schlage ich vor und sehne mich insgeheim nach etwas frischer Luft. Aber die Fenster in diesem Raum kann man nicht öffnen. Bergenbeck ist eine psychiatrische Klinik, die für Darlan ein eher ungeeigneter Ort ist: Hier verbüßen Mörder und Kinderschänder ihre Sicherheitsverwahrung. Darlan in eine weniger gut bewachte Einrichtung zu stecken, wäre aber niemandem in den Sinn gekommen. Erstens ist sie nicht dumm, zweitens haben sich zwei ihrer Fanclubs zum Ziel gemacht, sie zu befreien, und drittens ist sie ein Präzedenzfall. Die Entscheidung, wo man sie unterbringen soll, ist den Verantwortlichen nicht leicht gefallen. Sie wird streng bewacht, hat keinerlei Zugang zu Werkzeugen, Stricken oder Medikamenten und darf mit keinem der anderen Insassen mehr reden. Man wird den Eindruck nicht los, dass unsere Regierung mit ihrem Fall hoffnungslos überfordert ist. Wohl vor allem deswegen, weil die Bevölkerung sich so sehr auf ihre Seite schlägt, und weil Miriam Darlan etwas völlig Neues ist: eine Hausfrau, die beinahe Amok gelaufen wäre. Nach ihrer Festnahme fand man in ihrem Keller in einer Kiste mit Weihnachtsschmuck Pläne zur Sprengung des Brandenburger Tors, komplett mit aus dem Internet ausgedruckten Anweisungen zum Bombenbau. Das sollte ihr neuestes Projekt werden, nachdem sie ihre Todesliste abgearbeitet hatte. Einige Namen stehen noch aus. Wobei „Namen“ eigentlich zu viel gesagt ist. Die Polizei rätselt noch darüber, wer Guy in red Parka und Schlampe, die sich vorgedrängelt hat, sein mögen.

„Fein“, sagt sie jetzt und fummelt mit dem Feuerzeug herum. Sobald sie wieder in ihre Zelle muss, wird es ihr abgenommen. Man geht bei ihr keinerlei Risiko ein.

„Warum fangen wir nicht bei Ihrem ersten Mord an? Wann sind Sie ausge … wann hatten Sie die Nase so voll, dass sie Blut sehen wollten?“

Sie wirft den Kopf zurück und lacht. „Sie gefallen mir, Ruth. Ich glaube, Sie werden ein prächtiges Buch schreiben. Na gut, fangen wir also mit dem Arschloch an, das zuerst dran glauben musste.“

„Christian Wolfhardt“, sage ich und sehe sie aufmerksam an. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass Mörder oft ihre Opfer entmenschlichen und sich weigern, die Namen zu nennen, damit sie für sie nicht zu einem Individuum werden, sondern ein Objekt bleiben. Darlan lächelt spöttisch, und ich habe das mulmige Gefühl, dass sie mich durchschaut.

„Ja, der. Also, das war so … Ich war einkaufen. Nur ein paar Kleinigkeiten für das Mittagessen und etwas aus dem Sportfachgeschäft für mich. Felix hatte Frühschicht und kam so gegen halb drei nach Hause. Gulasch sollte es geben, daran kann ich mich noch erinnern. Fleisch, Paprika und eine große Gemüsezwiebel habe ich eingekauft. Dann ging ich hinter dem Supermarkt in Richtung Park. Es war so ein schöner Tag im Frühling, sonnig aber noch etwas kalt, und ob man durch den Park nach Hause geht oder an der Engerschen Straße entlang, macht eigentlich zeitlich keinen Unterschied. Dort, wo der Park anfängt, ist der Weg für ein paar Meter ziemlich abschüssig, und die Fahrradfahrer benutzen diese paar Meter meistens, um so richtig Fahrt aufzunehmen. Das ist nicht so ganz ungefährlich. Ich hatte diesen Hügel schon hinter mir gelassen, da fuhr auch tatsächlich so ein Penner an mir vorbei, an meiner linken Seite, ohne zu klingeln und so dicht, dass er mich fast umgefahren hätte. Ich denke, sie schätzen mich meiner Taten wegen so ein, dass ich den gleich vom Rad gerissen und zur Sau gemacht habe, aber damals war ich noch anders: Angepasst, schüchtern. Ich sagte nichts, meckerte nur leise vor mich hin. Aber wegen ihm sah ich nach links und das war der Beginn von allem. Links ist nämlich ein großer Spielplatz. Ein wirklich schöner. Sandkasten, Schaukeln, was zum drauf Herumklettern. Und Bänke, damit die Begleitperson sich gemütlich hinsetzen kann. Auf einer der Schaukeln saß ein kleines Mädchen, vielleicht sechs oder sieben Jahre alt. Sie schaukelte nicht, sondern schurrte mit ihren Füßen im Matsch unter der Schaukel herum. Sie sah dabei auf ihre Stiefel. Ihr Haar war dunkel und zu kleinen Rattenschwänzen gebunden, sie trug einen blauen Anorak und hatte einen Schulranzen am Pfosten der Schaukel stehen. Sie war allein. Ich wollte weitergehen, da sah ich, dass sie doch nicht so allein war: Auf einer der Bänke saß ein Mann.“

Sie streckt die Beine aus, wirft die Zigarette in den Aschenbecher, dreht sich auf dem Stuhl halb um und sieht aus dem Fenster. Sie sieht traurig aus, verstört. Zum ersten Mal sehe ich eine Art Emotion in ihr. Sie verschränkt die Arme vor der Brust und erzählt weiter. Aber sie starrt immer noch blicklos aus dem Fenster.

„Man könnte sich natürlich denken: Gut, da ist Papi, er hat klein Vanessa oder Sandra von der Schule abgeholt und ihr eine halbe Stunde auf dem Spielplatz bewilligt, aber etwas an seinem Blick störte mich. Da war etwas Dunkles in ihm, etwas, das ich vielleicht nur sehen konnte, weil ich einen ähnlich dunklen Kern habe. Oder es war das Verhalten des Kindes an sich, denn sie wirkte irgendwie … verstört und unbehaglich, so als ob sie sich weit wegwünschte. Also sah ich genauer hin. Und bemerkte, dass der Kerl seine Hände nicht einfach im Schoss gefaltet hatte. Er bewegte sie. Er onanierte. Mitten am Tag saß er im Park am Spielplatz, sah einem Kind auf der Schaukel zu und holte sich einen runter. Ich konnte es kaum glauben.“ Sie dreht sich so ruckartig wieder zum Tisch um, dass ich erschreckt zusammenfahre. Dann legt sie den Kopf in beide Hände und erzählt weiter.

„Er spürte wohl meinen Blick, denn er drehte den Kopf, sah mich, und ließ die Hände so im Schoss liegen, als ob nichts wäre. So, als ob er nur dasitzt, mit im Schoss gefalteten Händen und sich die Vögel am Himmel ansieht, oder die Enten auf der Wiese. So völlig abgebrüht. Und ich fragte mich, wie viele Leute, die an ihm vorbeigekommen waren, sich davon wohl schon haben foppen lassen und einfach weitergingen, ohne etwas Ungewöhnliches zu bemerken.

Ich war in diesem Augenblick ähnlich abgebrüht. Eigentlich hätte ich wie vor den Kopf geschlagen stehen bleiben müssen. Aber ich drehte nur langsam den Kopf weg, lächelte dem Mädchen mit zitternden Mundwinkeln kurz zu und ging weiter. Gleich neben dem Spielplatz ist ein großes Gebüsch, das den restlichen Park vom Spielplatz abtrennt. Dahinter blieb ich stehen und versuchte, mich wieder unter Kontrolle zu bringen.

Ich kann mir denken, dass sie meinen, die Darlan, die Mörderin, schlug sofort zu. Aber die gab es damals noch nicht. Ich wollte das tun, was ein aufrechter Bürger in dieser Situation wohl macht: Das Handy zücken und die Polizei rufen. Aber das Schicksal entschied es anders. Sehen Sie, ich hatte immer, immer mein Handy dabei. Egal ob ich weit wegfuhr oder nur zum Mülleimer ging: Ich nahm mein Handy immer mit. Das war so ein Tick von mir. Aber an diesem Tag, zum ersten Mal, hatte ich es zu Hause gelassen. Der Akku war leer, und so schloss ich es an das Ladegerät an, als ich zum Einkaufen ging, und dachte noch dabei: Lass es doch ruhig hier, der Marktkauf ist nur `ne Viertelstunde weg, du wirst es eh nicht brauchen.

Da stand ich also nun hinter dem Gebüsch und konnte niemanden holen. Und da war da noch eine kleine, sachliche Stimme in meinem Kopf, die mir zuflüsterte, dass sie schon oft genug im Fernsehen davon gehört hatte, dass diese Arschlöcher, die sich an Kindern aufgeilen, nicht mal bestraft werden. Wenn ich die Polizei geholt hätte, der Kerl hätte einfach die Hände schnell aus der Hose genommen und behauptet, er hätte doch nichts gemacht. Und am nächsten Tag hätte er wieder dort gesessen und auf die Kleine gewartet … oder auf eine andere, die von der Schule nach Hause geht. Das sagte mir also diese Stimme, und sie hatte recht. Ich war auch wütend: Warum war die Kleine allein unterwegs? Warum holte sie niemand ab? Oder war diese Sau am Ende tatsächlich der Vater? Oder eher Erzeuger; kein Vater würde so etwas tun.“ Sie knetet sich die Stirn. „Ich war sehr durcheinander. Ich wusste nur eins: Ich musste etwas tun. Niemand sonst war im Park, vielleicht weiter hinten, in Richtung Obersee, aber nicht hier. Und weggehen und eine Telefonzelle suchen wollte ich auch nicht. Er hätte sich die Kleine ja schnappen und verschwinden können. Außerdem gibt es ja fast nirgendwo mehr Telefonzellen. Und wenn man mal eine findet, ist sie kaputt.

Wie ich noch da stand und überlegte, was ich tun sollte, stand das Mädchen schnell auf, griff sich ihren Ranzen und ging den Weg weiter entlang, in meine Richtung. Wahrscheinlich fühlte sie sich sicher, weil ich an ihr vorbeigegangen war, und wollte in meiner Nähe bleiben. Bestimmt wohnte sie Richtung Pfarracker. Ich warf ihr einen Blick zu, als sie an mir vorbeiging, und sie starrte mich einen Augenblick lang erschrocken an, als sie an dem Gebüsch vorbeikam und mich dahinter stehen sah. Dann ging sie schneller und sah noch einmal furchtsam zurück. Aber nicht auf mich, sondern in Richtung Spielplatz. Sie rannte. Und ich drehte den Kopf und sah den Mann, der von der Bank aufstand, hastig seinen Hosenstall richtete, und auf den Weg zuging, der an mir vorbeiführte. Er kam auf mich zu, ohne zu wissen, dass ich da stand. Und da holte ich das aus meinem Einkaufsbeutel, was ich unten in dem Sportfachgeschäft gekauft hatte.“

3

„Denken Sie, dass auch das Schicksal war?“, frage ich kritisch. Sie will mir hoffentlich nicht weismachen, dass ihre mörderische Karriere ein Fingerzeig Gottes war.

Sie lacht wieder kurz, beinahe mitleidig, auf. „Nein, es war nicht Schicksal … aber ein netter Zufall. Ich wollte abnehmen. Wieder so ein Phänomen unserer verrückten Gesellschaft. Da haben wir um die zwanzig verschiedene Joghurtsorten im Regal, riesige Truhen mit Fisch, Fleisch und Sahnetorten, auf der anderen Seite der Welt verhungern die Menschen im Sekundentakt, und wir, die wir vor Überfluss nicht wissen wohin, werden immer fetter und bekommen von den Medien gleichzeitig eingebläut, dass nur ein extrem schlanker Mensch schön und erfolgreich ist. Also geht man an all dem Überfluss vorbei und gönnt sich nur noch light Produkte und klagt jedem traurig: Nein, bitte keinen Kuchen für mich, ich bin auf Diät. Und woanders verhungern die Kinder. Aber ich schweife ab. Ich wollte also abnehmen, und weil ich aber gleichzeitig unmöglich auf mein leckeres Essen verzichten mochte, dachte ich, ich versuche es mal mit Muskelaufbau. Deswegen hatte ich die Hanteln gekauft.

Ich kann nicht sagen, dass ich in dem Augenblick, als er auf das Gebüsch zueilte, um das Mädchen nicht aus den Augen zu verlieren, einen Plan fasste. Oder, dass mir irgendeine Stimme etwas zuflüsterte. Ich reagierte einfach. Ich zog eine von den Hanteln aus dem Leinenbeutel. Sie war klein und mit blauem Plastik überzogen. Er kam weiter auf mich zu. Ich bin Linkshänder, also nahm ich die Hantel in die linke Hand und hielt den Einkaufsbeutel in der Rechten. Es ging alles so schnell … Er kam auf mich zu, die Augen weit aufgerissen, er ging immer schneller, weil er das Mädchen zu verlieren drohte … ich erinnere mich genau an ihn. Er trug eine blaue Jacke und Jeans, auf dem Kopf eine Baseballkappe … ich glaube, er war nicht älter als Mitte dreißig. Eigentlich sah er sympathisch aus, wie jemand, den man nach der Uhrzeit fragt oder wie man am besten zum Hauptbahnhof kommt. Ich warf einen Blick auf seine Jeans. Da war eine Beule nahe seiner linken Hosentasche. Und ein kleiner feuchter Fleck. Wenn ich vorher noch gezögert hätte, jetzt nicht mehr. Er kam an mir vorbei, sah mich da stehen, erschrak – und ich schlug zu. Ich war damals alles andere als ein Profi. Ich hätte ihn besser an der Schläfe getroffen, aber die Hantel erwischte ihn etwas dahinter, mehr schon am Hinterkopf. Er keuchte kurz etwas, das wie ein überraschtes „Öhh?“, klang, und wich instinktiv nach rechts aus, weg von mir, und hob gleichzeitig den Arm vors Gesicht. Da schlug ich noch mal zu. Und da ging er zu Boden. Und ich dachte den einzigen klaren Gedanken, den ich während der ganzen Sache hatte: Ich will nicht, dass er wieder aufsteht.

Ich sah mich um, aber der Park war noch immer leer. Und da war das Gebüsch. Nicht nur neben mir, auch hinter mir. Denn dahinter fängt gleich der Schildescher Friedhof an. Und das war natürlich ungeheuer passend.

Erstaunt stellte ich fest, dass ich immer noch die Einkaufstasche umklammert hielt, und ließ sie fallen. Dann nahm ich seine Füße und zog. Er war ein ziemlich schlanker Mann, aber so leblos war er schwer wie ein Sack voll Blei. Vielleicht war er auch schon tot von dem zweiten Schlag, dachte ich. Jedenfalls zerrte ich ihn in das Gebüsch hinter mir und zog ihm das T-Shirt aus, denn das war weiß und leuchtete förmlich durch die Zweige. Und das Risiko war groß, dass ihn jemand fand. Der Park war zwar momentan relativ leer, aber der Friedhof war gut besucht. Wenn der Frühling kommt, kommen auch all die Witwen und bepflanzen die Gräber neu, stellen frische Kerzen auf und gießen und jäten und machen und tun. Ein weiteres Problem tat sich auf: Da war ein rostiger Maschendrahtzaun mitten im Gebüsch. Und die Bäume und Sträucher blühten alles andere als üppig. Wenn ich ihn hier liegen ließ, wurde er in null Komma nichts gefunden. Also ging ich auf den Friedhof und sah mich in den Kompostbehältern zu. Zum Glück hatten schon einige Omis diese Grababdeckungen für den Winter, Tannenzweige und dergleichen, da hineingeworfen. Ich nahm mir also zwei Armvoll und schlich zurück zum Gebüsch. Da hätte man mich leicht entdecken können … ich musste durch den Eingang zum Friedhof, da ist ein gusseisernes Tor, und durch das musste ich auch wieder zurück … die Arme voll mit vertrockneten Tannenzweigen. Ich war überzeigt, dass das irgendwem aufgefallen war. Aber bis heute hat sich kein Augenzeuge gemeldet. Das ist der Vorteil, wenn die Gesellschaft einen zum Wegsehen erzieht.

Ich bedeckte die Leiche mit den Tannenzweigen, vor allem die Teile, die einem ins Auge fallen konnten: Das Gesicht, die Hände … sie waren so schon hell, und ein Leichnam wird mit der Zeit noch blasser. Zudem wusste ich nicht, ob er sich irgendwie komisch verfärben würde, falls er tot war. Woher hätte ich das auch wissen sollen? Jedenfalls ging ich kein Risiko ein. Als er komplett bedeckt war, schlich ich aus dem Gebüsch heraus. Aber weiter hinten, wo ich ihn auch niedergeschlagen hatte. Da ist ja noch der große Strauch, der mich vor ihm verborgen hatte. Der schützte mich auch jetzt vor Blicken, die von weiter oben kommen konnten. Da führte ja noch ein weiterer Weg lang, und ein paar Häuser und Gärten sind da auch. Ich kam also hinter dem großen Strauch hervor, als hätte ich nichts weiter getan, als auf dem Spielplatz auf der Bank zu sitzen. Und ich hatte meinen Einkaufsbeutel wieder. Mit dem Gulasch. Und den Hanteln.

Ich ging nach Hause. Wie im Traum. Alles um mich herum war so … so surreal. Und ich hielt den Kopf krampfhaft geradeaus, als ich an dem Gebüsch vorbeikam. Aber an der Stelle, wo er lag, konnte ich nicht anders und wandte den Kopf. Mein Herz blieb einen Augenblick stehen, als ich einen Zipfel seines Ärmels sah. Ein kleiner Fleck Blau in all dem dunklen Grün und Braun der Zweige. Mein Herz blieb zwar stehen, ich aber nicht. Meine Füße trugen mich automatisch weiter. Eine alte Dame kam mir entgegen. Sie war auf dem Friedhof gewesen, hatte sich aber so sehr mit dem Gießen der Blumen beschäftigt, dass sie mich gar nicht gesehen hatte. Mein Herz schlug jetzt wie wild. Was, wenn sie etwas sah? Wenn sie den Ärmel im Gebüsch entdeckte? Es war nur ein kleiner Fetzen. Man musste schon genau wissen, wonach man suchte, um ihn zu sehen. Und so viel Müll lag überall herum, auch im Gebüsch: leere Bierflaschen, kaputt oder intakt, Getränkekartons, Eispapier. Wieso sollte jemand ihn bemerken?

Ich ging an der alten Dame vorbei, die nur kurz lächelte und ihren Weg fortsetzte. Ich konnte nicht anders, ich musste mich umdrehen und sie beobachten. Sie ging schnurstracks an der Stelle vorbei. Sie sah nicht mal hin.

Mir war schwindelig und ich ging weiter. Eierte weiter. Ich bin mir sicher, wer mich an dem Tag sah, hätte mich für betrunken halten müssen. Ich hatte jemanden ermordet. Ich war eine Mörderin. Man würde ihn finden und dann mich. Ich sehe oft genug Krimis wie CSI und dergleichen. Es scheint so, dass es heutzutage schon reicht, in der Nähe des Opfers einen fahren zu lassen, um gefunden zu werden. Bestimmt hatte ich Haare an ihm hinterlassen. Faserspuren, als ich ihn schleifte, Schweiß. Wimpern. Es war nur eine Frage der Zeit. Auch wenn ich damals noch nicht aktenkundig war: Ich war mir sicher, dass mich jemand gesehen hatte, auch wenn ich ihn nicht gesehen hatte. Vielleicht war die Polizei schon auf dem Weg.

Erschöpft kam ich zu Hause an und servierte Felix später sein völlig angebranntes und versalzenes Gulasch. Er war erstaunt. Noch nie hatte ich sein Essen versaut. Aber ich konnte an nichts anderes denken als an diesen schlaffen, schweren Körper und welche Geräusche seine Turnschuhe machten, als sie über die Blätter und durch den Matsch im Gebüsch schleiften. Alles andere lief nebenher ab. Ich konnte mich auf nichts konzentrieren. Ich stand völlig neben mir. Sie denken an mich als ein kaltblütiges Monster, das nachts gut schlief nach den Morden. Aber das kam erst später. Und selbst da erwartete ich, jeden Moment festgenommen zu werden.“

„Ist das nicht ein furchtbares Gefühl?“

„Nein. Oh nein! Zuerst ja. Bei den ersten drei … Burschen schon. Aber später war es anders … wie ein Bungeesprung, der nie aufhört. Ein ständiger Fluss von Adrenalin. Immer dann, wenn ich daran dachte, jedenfalls. Denn selbst solche Dinge geraten irgendwann in den Hintergrund. Dann lebt man sein Leben normal weiter. Aber mehrfach am Tag kommen wieder die Gedanken, und dann schießt das Adrenalin in einem hoch … kocht sich durch die Venen … und man spürt, dass man lebt.“ Sie sieht verträumt aus dem Fenster, als ob sie in Erinnerungen an ihre Hochzeitsreise schwelgen würde und nicht in denen an Blut und Schreie.

„Deswegen haben Sie es getan? Um sich lebendig zu fühlen?“ Sie dreht den Kopf zu mir und sieht mich amüsiert an.

„Sind Sie psychologisch geschult, Ruth?“

„Nein. Leider nicht. Um ehrlich zu sein, ist meine Menschenkenntnis nicht der Rede wert.“

„Sagen Sie nicht ‚leider.’ Wenn Sie Psychologin wären, säßen Sie jetzt nicht hier. Ich habe diese Arschgeigen mit ihren sezierenden Blicken satt. Niemand hört mir wirklich zu. Alle suchen nur nach Symptomen für irgendwelche psychischen Erkrankungen und wollen mich in eine ihrer Schubladen zwängen. Sie haben mich entmenschlicht. Also tun Sie mir einen Gefallen und versuchen Sie nicht, mich zu analysieren!“ Eine steile Falte erscheint auf ihrer Stirn. Ihre Augen bekommen etwas Stechendes. Ich schlucke. Das Klicken in meinem Hals ist deutlich in der folgenden Stille zu hören. Ich erinnere mich an die sechs Wochen Wartezeit. Sie kann einfach nach der Wache rufen, rausgehen und für immer verschwinden. Und sie kann die einzige Chance mitnehmen, einen Blick in ihr Innenleben zu werfen. Sie sitzt am längeren Hebel. Sie hat es mir ja schon einmal klargemacht.

„Ich wollte Sie nicht analysieren. Ich versuche nur, Sie zu verstehen.“

„Versuchen Sie das nicht. Hören Sie mir einfach zu. Ich suche nicht unbedingt nach Verständnis, auch wenn es so aussehen mag. Ich will nur sichergehen, dass … dass meine Seite der Geschichte an die Öffentlichkeit kommt. Verstehen werden es die Wenigsten. Viele tun so, aber im Grunde sind das nur Idioten, die ein Idol suchen. Ich bin kein Idol. Wollte ich niemals sein.“

Ich muss an ihre selbstherrlichen Sprüche denken. Sie will Bewunderung, sie liebt ihre Fanbriefe. Will sie mich jetzt vollends verulken? Da sitzt die andere Miriam vor mir. Die Kühle, die Selbstbewusste, ist gerade nicht anwesend. Es scheint so, als ob sie sich, sobald sie von den Anfängen ihrer mörderischen Karriere erzählt, wieder in die ruhige, angepasste und beinahe schüchterne Hausfrau verwandelt, die sie einmal war.

Ich bin froh, dass die andere Darlan zurzeit abwesend ist. Deren Ego ist so groß wie das Empire State Building.

„Gut, dann machen wir weiter. Sie standen also total neben sich. Wie ging es weiter?“ Sie seufzt und legt die Hände in den Schoss.

„Ich wusste, dass ich bei Einbruch der Dunkelheit noch einmal zum Friedhof musste. Ich konnte die Leiche nicht einfach liegen lassen. Er musste irgendwie verschwinden. Und auch dabei half mir der Zufall. Beim Spaziergang über den Friedhof hatte ich das Grab gesehen, das frisch ausgehoben worden war. Am nächsten Tag sollte wohl eine Beerdigung stattfinden. Ich wusste, ich hatte nur eine Chance, die Leiche zu entsorgen. Und besser ging es ja nicht, oder? Die meisten kaufen sich ein Grab für mindestens zwanzig Jahre. Bis dahin … was hätte bis dahin nicht alles passieren können. Ich wartete also, bis Felix ein Nickerchen machte und ging in den Keller. Ich war mehr als nur ein bisschen entsetzt, als ich feststellen musste, dass es in unserem Keller keine Schaufel gab. Nichts. Und dabei war ich mir sicher gewesen, dass wir so etwas haben. Immerhin haben wir allen möglichen Scheiß da unten.

Ratlos und vor allem ruhelos räumte ich die Küche auf und hörte dabei Radio. Ich rechnete damit, dass jeden Moment das laufende Programm unterbrochen wurde, um von dem Mord zu berichten. Dass irgendein spielendes Kind eine Leiche im Gebüsch entdeckt hatte. Ich brachte den Müll herunter, und das war meine Rettung, denn dabei kam ich an den Garagen vorbei und sah, dass einer der Nachbarn seine offen gelassen hatte. Und da an der Wand, ordentlich an einem Nagel, was hing da? Eine Hacke und eine Schaufel.

Es war noch hell, also konnte ich schlecht hingehen und einfach das Werkzeug schnappen. Auch den Nachbarn fragen wollte ich nicht. Das hätte er sich womöglich gemerkt. Wozu hätte ich die Sachen auch brauchen sollen? Wir hatten ja keinen Garten, nur einen Balkon. Mir fiel keine passende Ausrede ein. Also schwitzte ich noch mehr Blut und Wasser bei dem Gedanken, dass der Nachbar vielleicht seine Garage zur Nacht abschloss. Ich war mir nicht sicher, ob er ein Auto hatte oder nicht, aber wenn er eins besaß und abends nach Hause kam, würde er die Garage mit Sicherheit abschließen. Also saß ich völlig verkrampft neben Felix vor dem Fernseher und wartete, dass es endlich dunkel wurde.

Ungefähr um acht, als alle Nachbarn zu Hause waren, ging ich noch einmal runter und näherte mich zitternd den Garagen. Ich war erleichtert, dass die mit dem Werkzeug noch offen stand. Ich ging schnell hin und zerrte die Schaufel von der Wand. Dann hastete ich davon und betete, dass mich niemand mit der Schaufel durch die Gegend laufen sah.

Ich verstaute das Ding erst mal im Keller und ging zurück zu Felix. Die Nachrichten liefen noch. Von einem Leichenfund in Bielefeld war noch nichts berichtet worden. Aber so richtig beruhigte mich das nicht. Später lag ich neben Felix in der Dunkelheit und wartete. Ich hatte mir ausgerechnet, dass ich so um ungefähr zwei Uhr die besten Chancen hatte, unentdeckt auf dem Friedhof herumzuspazieren. Und ich brauchte Zeit um das Grab tiefer zu schaufeln. Ich hatte mir eine alte Jeans und ein T-Shirt bereitgelegt. Und natürlich eine Taschenlampe. Um halb zwei hielt ich es nicht mehr aus, stand auf, zog mich an, schlich in den Keller und ging mit der Schaufel über der Schulter den Weg zum Friedhof. Im Park geht das mit dem Licht noch … oben, wo der Sportplatz ist und der Weg zum Pfarracker führt, stehen Straßenlaternen. Wenn sich die Augen an das schwache Licht gewöhnt haben, kann man etwas sehen. Aber ich war nicht gern im Park … Nachts treiben sich da merkwürdige Gestalten herum. Zum Glück war es dafür noch zu kalt. Ich war allein.

Nur die Enten und Schwäne gaben ab und zu ein paar quäkende Laute von sich, und ich erschrak jedes Mal zu Tode. Ich ging zum Tor vom Friedhof und drückte die Klinke herunter. Das Tor war verschlossen.“

„Was haben Sie da gemacht?“

„Ich geriet völlig in Panik. Mein erster Impuls war, die Leiche im Teich zu versenken. Das verwischt auch alle genetischen Spuren, glaube ich. Aber der blöde Teich wird in jedem Sommer einmal leer gepumpt, um verrostende Fahrräder und Einkaufswagen, die irgendwelche Scherzkekse dort hineinwerfen, wieder zum Vorschein zu bringen.

Der Friedhof war meine beste Chance.

Ich atmete tief durch und setzte mein Gehirn in Bewegung. Der Friedhof hatte noch andere Eingänge. Einer davon ist nichts weiter als eine Unterbrechung im Zaun, oben der Engerschen Straße. Aber dort herrscht selbst nachts noch reger Verkehr. Da ist nämlich eine Tankstelle.“

„Aber an der Niederfeldstraße ist noch ein Eingang“, werfe ich ein und wundere mich. Ihre Geschichte hat mich so gepackt, dass ich ihr jetzt beinahe helfen will.

„Ja. Aber auch der hat ein Tor. Ich dachte mir, wenn einer das Tor im Park abschließt, wird er auch das zur Straße hin abschließen. Wie bescheuert ist das? Oben an der Engerschen ist eine Unterbrechung im Zaun, sodass man jederzeit auf den Friedhof kann, und weiter unten wird abgeschlossen.

Na ja. Ich bin also den ganzen Weg zur Engerschen gegangen. Mit einer Schaufel. Alle paar Meter eine verschissene Straßenlaterne. Und zwar eine von diesen Großen, Gelben. Ich war wie eine wandelnde Zielscheibe. Mehrere Autos fuhren an mir vorbei. Mit einer Schaufel an einem Friedhof entlang latschen … da kann man nur einen Schluss ziehen, oder? Ich konnte nur eins tun: Immer wenn ein Auto kam, versteckte ich die Hand mit der Schaufel hinter einem Baum. Die stehen dort an der Straße und unterteilen den Bürgersteig und den Fahrradweg. Sehr viele sind es nicht. Ich musste, jedes Mal, wenn ich die Scheinwerfer eines Autos sah, einen Sprint einlegen, um den nächsten Baum zu erreichen. Keine Ahnung, ob mich jemand gesehen hat. Jedenfalls erreichte ich nach einiger Zeit endlich den Eingang oben an der Mühle und betrat den Friedhof. Es war unglaublich gruselig. Nur von der Straße schien noch etwas Licht herein, aber es war nicht viel und reichte nicht weit. Ich musste schon bald die Taschenlampe einschalten. Ein paar Mal verlief ich mich auch. Endlich sah ich das offene Grab und ließ erleichtert die Schaufel danebenfallen. Dann ging ich zum Gebüsch und suchte nach ihm. Ich wusste noch genau, wo er war: An der Stelle, wo er lag, stand auf der anderen Seite des Maschendrahtzaunes ein Grabstein mit der Aufschrift Familie Ahrendt. Den fand ich rasch. Ich hatte mir den Grabstein nicht bewusst gemerkt. Das lief alles auf einer so unbewussten Ebene ab, dass ich überzeugt war, ich hätte es geträumt. Und so ähnlich ging es mir auch jetzt noch. Wie planlos das alles ablief, kann man auch daran ersehen: Ich hatte natürlich in meiner Panik vor dem verschlossenen Tor nicht daran gedacht, dass er ja noch auf der anderen Seite des Maschendrahtzauns lag. Erschlagen hatte ich ihn ja im Park und dann ins Gebüsch gezerrt. Vor den Zaun darin. Aber jetzt war es mir egal. Ich war entschlossen, ihn zu finden und dann mit der Schaufel den Zaun auszuhebeln oder dergleichen. Ich konnte diesen Weg an der Engerschen Straße nicht noch einmal zurücklegen. Ich hatte die Nerven dazu nicht mehr. Ich überstieg das Tor, was gar nicht so einfach war, ging an die Stelle, wo auf der anderen Seite der Grabstein der Ahrendt Familie stand, und ließ den Kegel der Lampe über den Boden wandern. Ich fand verstreute Tannenzweige aus dem Container. Ich fand Spuren von Turnschuhen der Größe 45. Ich fand zerdrücktes Gestrüpp. Aber ihn fand ich nicht. Er war weg.“

4

Eigentlich halte ich mir meine Wochenenden frei, um auch meinen Kopf frei zu bekommen und mich vom Stress in der Redaktion zu erholen. Vor allem von den Begegnungen der unangenehmen Art, die ich manchmal mit Ingo habe. Seit ich bei unserer Zeitung anfing – ziemlich grün hinter den Ohren – habe ich lernen müssen, dass man sich die Leiter nicht nur hinauf-, sondern auch hinunterschlafen kann. Aber an diesem Wochenende lässt mich der Fall Darlan nicht los. Ich beschließe also, mir den Park einmal anzusehen, in dem sie ihr erstes Opfer gefunden hat. Die Bewohner von Schildesche nennen ihn schlicht „Den Park am Ententeich“ wenn sie überhaupt davon reden. Er ist ohnehin nichts verglichen mit dem Obersee, den man von dort auch erreichen kann. Ich parke meinen Wagen in der Niederfeldstraße und betrete den Park somit von der Seite aus, von der auch Darlan ihn immer angesteuert hat. Gleich am Anfang des Parks stehen auf der rechten Seite ein Hochhaus, auf der Linken mehrere kleine Reihenhäuser. Von den Häuschen aus kann man in den Park nicht hineinsehen; ein dichtes Gebüsch, das die Rasenfläche des Hochhauses vom restlichen Park trennt, nimmt einem komplett die Sicht. Aber von den oberen drei Etagen des Hochhauses kann man bequem den ganzen Park übersehen. Sogar Balkone gibt es.

Nachdenklich bleibe ich vor dem hässlichen Gebäude stehen und sehe daran hoch. Nicht nur vom Balkon aus, sondern auch von mindestens zwei weiteren Zimmern kann man den Park überblicken. Und es war Mittag. Hell. Und keiner hat etwas gesehen, als Darlan Wolfhardt mit der Hantel niederschlug und ins Gebüsch schleifte. Auch das kleine Mädchen, für das Darlan angeblich den Mord beging, ist nicht auffindbar. Sollte unsere Gesellschaft tatsächlich so desinteressiert sein, wenn vor ihren Augen ein Mord geschieht? Oder hatte Darlan einfach nur Glück? Es war sonnig an dem Tag, aber kalt. Wahrscheinlich war niemand auf dem Balkon. Und bestimmt waren die Mieter in den oberen Etagen berufstätig. Es kann also gut sein, dass von hier aus tatsächlich niemand etwas gesehen hat.

Ich lasse das Hochhaus also rechts liegen und gehe weiter. Hinter einer Reihe von Bäumen und Sträuchern liegt auf der rechten Seite der Ententeich, ein Loch voll mit grünlichem Wasser, auf dem ein paar Enten und Schwäne träge umherschwimmen. Links schlängelt sich ein kleiner Bach bis hinunter zur Talbrückenstraße. Dahinter beginnt der Obersee.

Eine Kreuzung liegt vor mir. Rechts führt der Weg vorbei an dem Teich, dann am Friedhof, dann kommt jener Spielplatz und noch ein Stück weiter ist der Parkplatz des Supermarktes. Dort will ich hin. Ich ignoriere also den Weg zum Obersee und den, der geradeaus zum Pfarracker führt, und folge Darlans Spuren. Es ist der 9. Februar 2008, ein außergewöhnlich warmer und sonniger Tag. Viele Spaziergänger kommen mir entgegen. Die meisten wollen mit Sicherheit zum Obersee und keiner von ihnen scheint zu wissen oder sich daran zu erinnern, dass hier ein grauenhafter Mord stattgefunden hat. Oder, dass die Mörderin ihr Opfer auf dem Friedhof verscharrte, auf dem jetzt viele wieder die Tannenzweige von den Gräbern ihrer Lieben nehmen und neue ewige Lichter entzünden.

Es ist erschreckend, wie schnell Menschen vergessen. So richtig still ist es um Miriam Darlan noch nicht geworden, und nach der Serie, die ich für unsere Zeitung schreiben möchte, wird all das noch einmal hochkochen. Aber dann wird man sich nach ein paar Monaten nicht mehr an sie erinnern. Und das scheint mir keine gute Idee zu sein. Ich mag das nicht hinnehmen und halte ein Pärchen an, das gerade seinen Hund Gassi führt. Ich frage sie, ob sie wissen, was sich hier ereignet hat. Sie erinnern sich noch.

„Aber das ist doch schon so lange her“, sagt die Frau wegwerfend.

„Gerade einmal zwei Jahre“, gebe ich etwas unbehaglich zu bedenken.

„Ach ja … ich erinnere mich … Das war hier? Auf diesem Friedhof?“ Der Mann schaut nachdenklich aus der Wäsche und wirft ein Stöckchen für seinen Hund. Allerdings nur ein paar Meter weit, damit der Hund trotz Leine an ihn herankommt. Was für ein vorbildlicher Bürger. Darlan hat einmal zu mir gesagt, dass diese braven Mitmenschen mir viel mehr Angst machen sollten als sie. Ich steckte gerade frische Batterien in den Rekorder. Sie beugte sich vor, und ich sprang erschrocken auf. Hinter der Tür in meinem Rücken entstand auch schon Bewegung. Immer wenn ich mit Darlan in dem Zimmer sitze, steht ein Wachmann direkt neben der verschlossenen Tür und linst durch ein Guckloch. Beim geringsten Anzeichen eines Angriffs auf mich stürmen sofort drei bis vier uniformierte Männer mit Elektroschockern in den Raum. Man traut ihr eben alles zu. Als ich mich wieder auf den Stuhl gesetzt und der Wachposten die Tür wieder verschlossen hatte, sagte Darlan das zu mir. Dass ich sie nicht zu fürchten brauchte.

„Da draußen sind die, vor denen Sie sich in acht nehmen müssen. Hinter ihrem Lächeln, ihrem Beiseitetreten und ihrer Zuvorkommenheit brodelt es. Sie merken es vielleicht selbst nicht, aber es ist so. Wir alle werden in ein Schema gepresst, aus dem wir nicht ausbrechen dürfen. Wir halten unsere Augen in der Straßenbahn gesenkt. Wir starren aus dem Fenster; wir lesen Zeitung. Wir sehen auf unsere Hände. Aber wir fallen nicht auf. Irgendwann explodieren wir alle. Die meisten innerlich – die kriegen Angststörungen und Depressionen – einige Wenige nach außen. Und niemand kann voraussagen, wann das sein wird – oder wer. Das ist es, was unserer Gesellschaft so viel Angst macht. Oder glauben Sie, Erfurt und Emsdetten waren Einzelfälle? Ich nicht. Ich weiß genau, was in den Jungs vorging.“

Darauf will ich ein andermal eingehen. Jetzt, während der Mann nachdenklich lächelnd zum Friedhof herübersieht, beschließe ich Darlans Redefluss nicht mehr zu unterbrechen. Man kann sie sowieso nicht kontrollieren. Und es ist ihre Geschichte; soll sie sie erzählen, wie sie will.

„Ja, das war hier. Ist Ihnen das wirklich egal?“, frage ich jetzt. Beide heben die Schultern und schütteln betroffen den Kopf.

„Nein, nein, egal ist uns das nicht. Auf keinen Fall! Aber wir sind hier schon so oft vorbeigegangen … wir können nicht jedes Mal ein trauriges Gesicht machen. Das Leben geht weiter.“ Die Frau sagt es und lächelt. Der Mann nickt und lächelt ebenfalls. Beide wünschen mir einen schönen Sonntag und setzen ihren Spaziergang fort.

Nachdenklich betrete ich den Friedhof. Das Leben geht weiter, wie oft ich diesen Spruch schon gehört habe. Für manche geht es nicht einfach weiter. Ich frage mich, was Darlan wohl dazu sagen würde?

Vielleicht kann ich es sie mal fragen.

Der Schildescher Friedhof ist sehr gepflegt und man wird offensichtlich in seiner Kreativität nicht groß behindert. Auf einem Grab sehe ich sogar eine kleine Buddha Statue. Auf vielen Friedhöfen ist derlei unerwünscht. Ich muss eine Weile suchen, bis ich das Grab finde, das Darlan für die Entsorgung ihrer ersten Leiche benutzt hat. Ein Geniestreich war das. Bei allem Abscheu muss man das anerkennen. Und trotzdem war es diese perfekte Lösung, die zu ihrer Entdeckung führte. Seltsam, wie das Leben, das ja einfach weitergeht, so spielt.

Das Grab wird inzwischen nicht mehr genutzt. Ich denke, dass keiner diese Stätte kaufen möchte. Zu viele Menschen wissen Bescheid. Es ist jetzt nichts weiter als eine schmale Unterbrechung der Grabreihe, die mit Gras bewachsen ist. In irgendeiner Form markiert ist sie nicht. Man muss schon wissen, wonach man sucht. Ich finde, man sollte einen Stein aufstellen und einen Spruch von Darlan dort eingravieren, der die Erinnerung an ihre Grausamkeiten wach hält. Sprüche hat sie genug auf Lager. „Ihr habt die Gleichgültigkeit zum Gott erhoben“, zum Beispiel. Das sagte sie, als ich sie nach ihrer Religionszugehörigkeit fragte, und sie sagte, heutzutage gäbe es doch nur einen Gott, an den alle gleichermaßen glaubten.

Nachdenklich starre ich eine Weile auf die Lücke, sehe mich verstohlen um, und ziehe meine Digitalkamera hervor. Etwas dumm komme ich mir schon dabei vor, ein Stück Rasen zu fotografieren. Aber vielleicht hilft mir das Bild beim Schreiben. Ich schieße noch mehr Fotos: das Gebüsch hinter mir, in dem Wolfhardt unter den Tannenzweigen lag, die Wege, die anderen Gräber, die Behälter, in denen man die verrottbaren, unverrottbaren und die restlichen Abfälle entsorgen kann. Zum Obersee, wo sich Darlan ja auch ausgetobt hat, will ich ein anderes Mal gehen. Am besten nicht an einem Wochenende und wenn das Wetter schlechter ist. Man kann einfach nicht nachdenken, wenn von allen Seiten Menschenmassen auf einen zukommen. Und der Obersee ist an den Sonntagen brechend voll.

Als ich wieder zu Hause ankomme, liegen ein großer Strauß Rosen und eine Schachtel teurer Pralinen vor meiner Haustür. Auf der Karte, die in den Rosen steckt, steht: Ich war ein Vollidiot, Dich zu verlassen. Können wir nicht noch einmal von vorn anfangen? In Liebe, Dein Ingo. Ich lache mich schier tot. So will Ingo also an meine Darlan Story rankommen? Aber die Pralinen sehen lecker aus. Genau das Richtige für den Fernsehabend.

5

Fakten über Miriam Darlan:

Name: Miriam Lena Darlan, geborene Miaschek

Geboren am: 10.07.1970 in Dortmund

Eltern: Roland und Claudia Miaschek

Geschwister: Michael und Daniela

Verheiratet mit Felix Darlan vom 17.04.1989 bis zum 26.10.2007

Der Name Darlan ist ein ziemlich alter und ehrwürdiger, wie Felix Darlan in seinem Buch „Vom Leben mit dem Monster“ erklärt. Und seine Frau hat ihn ‚besudelt.’ Felix Darlan ist inzwischen in zweiter Ehe verheiratet. Sein Buch, von einem Ghostwriter geschrieben, steht seit über einem Jahr in den Bestsellerlisten. Von den Dingen, die seine Exfrau getan hat, will er nichts gewusst haben. Auch darüber werde ich mit Miriam Darlan sprechen.

6

Bei meinem nächsten Besuch bitte ich darum, sie vorher in ihrer Zelle sehen zu dürfen. Einmal will ich sie sehen, ohne dass sie mich sieht. Und wie sie in ihrer Zelle sitzt, was sie dort macht. Auf diese Weise will ich mich an sie herantasten. Man führt mich zu einer grünen Tür mit vielen Schlössern und einem Guckloch, mit dem man von außen ins Zimmer sehen kann. Darlan hat ihre Zelle so hübsch wie möglich gemacht. Alles ist aufgeräumt und an seinem Platz, das Bett gemacht, ein paar Bücher liegen auf ihrem Schreibtisch. Einige Blumen aus Transparentpapier, wohl ungelenk von einem Kind gebastelt, hängen am Fenster. Ein Foto von einem Mädchen, das einen kleinen Hund im Arm hält, klebt an der Wand neben dem Bett. Der Tisch ist genauso wie das Bett am Boden festgeschraubt. Der Stuhl, auf dem sie sitzt, ist es mit Sicherheit auch. Sie hat drei Stapel vor sich: Einen mit ungeöffneten Briefen in der Mitte, einen mit geöffneten auf der rechten Seite, und einen Haufen Konfetti auf der linken. Sie hat eine Lesebrille auf der Nase und liest konzentriert einen Brief, den sie in beiden Händen hält. Sie zieht die Augenbrauen hoch, lächelt spöttisch und zerreißt den Brief langsam in kleine Fetzen, die sie auf den anderen Haufen Konfetti legt. Dieser Haufen ist um etwa zwei Drittel kleiner als der mit den geöffneten Briefen.

Sie greift gerade zu einem weiteren verschlossenen Umschlag, da ziehe ich mich von dem Guckloch zurück und nicke dem Beamten mit dem Schlüsselbund resigniert zu. Er führt mich in unseren kleinen Raum mit dem wackeligen Holztisch und den scheußlichen Stühlen. Ich baue mein Mikrofon und den Rekorder auf und warte.

Die Vigilantin

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