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ОглавлениеMeine erste Angstattacke überfiel mich mit dreizehn Jahren - so brutal und unverhofft wie der sprichwörtliche Blitz aus heiterem Himmel. Ich stand in der überfüllten Straßenbahn auf dem Nachhauseweg von der Schule. An den Wochentag kann ich mich nicht mehr erinnern, auch nicht an die Jahreszeit. Aber wahrscheinlich war es Frühling. Ich weiß nur, dass es ein Mittag war wie jeder andere auch. Ich alberte mit meinen Klassenkameradinnen herum, vielleicht sprachen wir über Lehrer, Klassenarbeiten und Nachmittagsverabredungen. Vor allem aber wollten wir nach Hause zum Mittagessen.
Und dann war da plötzlich dieses Gefühl: Ich sterbe! Jetzt, sofort, auf der Stelle bin ich tot! Die Bahn hielt gerade an, noch vier Stationen bis nach Hause. Mein einziger Gedanke: Nur weg hier! Wie wild kämpfte ich mich durch den Pulk von Kindern und sprang hinaus auf die Straße. Und dann rannte ich los. Ich rannte, die Hände in die Gurte des schweren Tornisters gekrampft, der auf meinem Rücken auf und nieder hüpfte. Ich rannte vorbei an der Feuerwache, am Friedhof, am Spielplatz, an Häuserfronten. Tatsächlich bin ich lebend zu Hause angekommen. Später, als die große Angst um mein Herz begann, habe ich mir immer klarzumachen versucht: Wenn das die ersten Anzeichen einer schweren Herzerkrankung gewesen wären, hätte ich diesen Lauf nicht überlebt.
Meine Mutter war ratlos, schien aber nicht besonders besorgt. War ich nicht immer schon, verglichen mit meinen Schwestern, ein leicht hysterisches und überängstliches Kind gewesen? Wir sprachen am Nachmittag nicht mehr über den Vorfall. Ich weiß nicht mehr, ob sie oder ich es abends meinem Vater erzählte. Für mich allerdings war von diesem Tag an nichts mehr so wie es war. Am nächsten Morgen wollte ich nicht aufstehen. Der Gedanke, in die Straßenbahn zu steigen, erschien mir unerträglich und nicht zu bewältigen. Ich weinte und bettelte, zu Hause bleiben zu dürfen, auch am nächsten und übernächsten Tag.
Dann befanden meine Eltern, dass etwas unternommen werden müsse. Gutes Zureden, Besänftigungen und schließlich Drohungen fruchteten nichts. Unser Hausarzt kam. Er war ein gutmütiger, vertrauenerweckender, dicker Mann, der stets schnaufend und schwer mit seinem großen braunen Doktorkoffer die Treppen zu unserer Wohnung hinaufstieg. Ich mochte ihn sehr. Bei all unseren Kinderkrankheiten hat er uns betreut. Und immer ging es uns besser, wenn er nach uns geschaut hatte.
Doch diesmal schien auch er ratlos. Er fühlte mir den Puls, er horchte auf der Brust, er klopfte hier und klopfte da. Er konnte nichts Beunruhigendes finden. Was sollte man bloß mit einem Kind machen, das einfach nur schreckliche Angst hatte? Später, in der Praxis, wurde mir Blut abgenommen, ein EKG geschrieben. Nichts. Das Mädchen war also gesund.
Aber ich fühlte mich krank, schwach, hilflos. So konnte ich nicht Straßenbahn fahren, zehn Kilometer zur Schule, zehn Kilometer zurück. So konnte ich keine einzige Schulstunde überstehen. Doch ich musste. Meine Eltern wollten, wie sie es nannten, „dieses Theater“ nicht länger mitmachen. Es reichte ihnen. Die nächsten zwei, drei Wochen wurden zu einer furchtbaren Quälerei. Ich merkte, dass ich so anders war, ich distanzierte mich von meinen Schulfreundinnen, sprach nur noch wenig, mied ihre Gesellschaft. Ich konnte mich kaum auf den Unterricht konzentrieren. Ich wollte nur nach Hause. Vor der Angst sind meine Freundinnen und ich immer gemeinsam an der Endstation der Bahnlinie eingestiegen. Das war ein ziemlicher Umweg, aber es gab dort einen kleinen Kiosk, an dem wir uns Kaugummi oder Süßigkeiten kauften. Jetzt rannte ich allein los, zur nächstgelegenen Haltestelle.
Der einzige Mensch, dem ich mich damals anvertraute, war meine Handarbeitslehrerin. Sie hieß Fräulein Neumann, war mittleren Alters und unverheiratet. Sie mochte mich gern. Und sie konnte mir Verständnis und Mitgefühl zeigen. Vielleicht, weil auch sie Herzrasen, Beklemmungen und Angst kannte. Wann immer es sich ergab, nahm sie mich nach Schulschluss in ihrem VW-Käfer mit und brachte mich nach Hause. Wahrscheinlich lebt sie längst nicht mehr. Aber ich bin ihr bis heute dankbar.
Nebenbei bemerkt: Angst ist eine ausnehmend undankbare Krankheit, auch heute noch, und erst recht war sie es Mitte der 1960er Jahre, als sie mich erwischte und niemand etwas anfangen konnte mit diesem merkwürdigen Phänomen. Bei fast jeder x-beliebigen Krankheit dürfen Betroffene mit Hilfe, Verständnis und Zuwendung rechnen. Als angstkranker Mensch jedoch stößt man oft auf Aggression und Ablehnung.
Ich habe viele Jahre sehr darunter gelitten, ich habe mich gegrämt, war wütend, traurig oder verletzt. Heute bin ich erheblich nachsichtiger mit meinen verständnislosen Mitmenschen. Wie auch soll jemand diese Angst verstehen. Diese Angst ohne konkreten Grund. Man kann Angst vor und um tausend Dinge haben. Aber doch nicht einfach so, scheinbar grundlos. Diese Angst ist nicht zu vermitteln. Lange Zeit wäre ich dankbar für eine anständige Krankheit gewesen, die man ohne Scham und weitere Erklärung jedermann mitteilen kann. Natürlich nichts wirklich Ernsthaftes. Aber eine Schilddrüsenüberfunktion, die hätte ich gerne genommen. So eine Krankheit ist mit den richtigen Medikamenten gut in den Griff zu bekommen und sie erklärt viele Symptome, mit denen sich auch Angstkranke quälen. Ich hätte also freudig rufen können: „Hey, all Ihr Leute, ich bin nicht meschugge, ich kann überhaupt nichts dafür, ich habe lediglich eine Schilddrüsenüberfunktion!“
Doch meine Schilddrüse funktioniert so normal, wie es normaler nicht geht.