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3.

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Der Rest des Schuljahrs war ein dauerndes Auf und Ab und ich habe erfahren, wie anstrengend, kräftezehrend und zerstörerisch Angst ist. Mal ging ich in die Schule, dann wieder nicht. All die unbeschwerten Selbstverständlichkeiten wie Freundinnen treffen, ins Schwimmbad gehen, einen Einkaufsbummel zu machen – nichts ging mehr. Die Angst hätte mich überall packen können. Ich hatte Angst vor der Angst.

Am Sonntag konnte ich nicht mehr zur Kirche gehen, Familienausflüge fanden ohne mich statt. Ich wurde derweil bei Verwandten abgesetzt. Schon längst blieb ich nicht mehr allein zu Hause. Ich erinnere mich, dass meine Mutter eines Vormittags zum Einkaufen ging und mich allein zurückließ. Die Panik kam umgehend, ich geriet förmlich außer mir, meine Angst zog alle Register mit Zittern, Herzrasen, Atemnot. Ich wusste genau, gleich würde ich umfallen. Zum Glück hatten wir schon ein Telefon und irgendwie schaffte ich es, eine Nachbarin im Nebenhaus anzurufen. Sie kam sofort und blieb bei so lange mir, bis meine Mutter zurück war. Ich war damals sicher, dass sie mir das Leben gerettet hat.

Mittlerweile bekam ich Calcium-Spritzen und ab und zu ein Beruhigungsmittel. Beides änderte nichts. Meist saß ich auf der Küchenfensterbank und beobachtete die Leute auf unserer Straße. Wie erstaunlich gesund und normal sie alle waren. Schon damals fragte ich mich, warum bloß sie keine Angst hatten, ins Auto zu steigen, zur Arbeit zu fahren, Einkäufe zu erledigen, den Hund auszuführen, womöglich in eine Straßenbahn zu steigen, in Kaufhäuser zu gehen, in Aufzüge zu steigen, die doch so leicht steckenbleiben konnten. Kaufhäuser sind mir auch heute noch ein Graus. Nur an guten Tagen schaffe ich es in die oberen Etagen, mit viel Disziplin und nur in Begleitung.

Meine Schwestern nahmen von meinen „Zuständen“ wenig Notiz. Sie hatten mich schon immer als Unruhestifterin in dieser Familie empfunden. Ich glaube, meine Angst sahen sie als eine Art neuer Variante an, mich in den Mittelpunkt allen Familiengeschehens zu stellen.

Auch später konnte ich nicht auf ihre Hilfe oder ihr Verständnis zählen. „Reiß dich zusammen! Mach dich nicht lächerlich! Denk an die Kinder und an deinen Mann!“ Das sind die Standardsätze, die ich immer wieder zu hören bekam. Sie sind alle so klug und aufgeklärt, sie haben ihr Leben voll im Griff. Ich bin in ihren Augen die Einzige, die nichts zuwege gebracht hat. Wie man sich nur von etwas so Banalem wie Angst ausbremsen lassen könne, sagen sie. Schließlich lebten wir hier in Mitteleuropa, in einem Land mit optimaler medizinischer Versorgung. Es gebe Therapien, es gebe Tabletten. Wenn die eine nicht helfe, probiere man halt eine andere aus. Und dann funktioniere man wieder perfekt. So einfach ist das für sie. Heute haben sie den Kontakt zu mir ganz abgebrochen.

Die Sommerferien in jenem Jahr sind mir in schrecklicher Erinnerung. Wie immer fuhren wir zu den Großeltern nach Österreich, meine Mutter, ich und meine Schwestern. Mein Vater blieb stets zu Hause. Die einfachen ländlichen Verhältnisse mit Plumpsklosett und Wasser aus dem Brunnen konnte er nicht ertragen. Früher hatte ich mich immer auf diese Wochen gefreut. Schon die lange Zugfahrt mit der dampfenden Lokomotive war ein großartiges Abenteuer. Jedes Mal erwartete uns der Großvater mit dem Handkarren auf dem kleinen Bahnhof, verlud das Gepäck, und dann ging es durch Felder und Wiesen zum kleinen Haus der Großeltern, ganz nah am Waldrand. Ich konnte es kaum erwarten, die Ziegen, Hasen und Gänse zu sehen und in den kleinen Konsum unten im Dorf zu laufen, wo wir uns für ein paar Schilling jeden Tag Schokolade und Almdudler kaufen durften.

Diesmal fand ich alles bedrückend. Der Wald erschien mir viel zu schwarz, in unserem einsamen Dorf gab es kein Auto, kein Telefon und natürlich auch keinen Arzt. Wie sollte ich Hilfe bekommen, wenn mich die Angst packte und mein Herz schrecklich zu rasen begann?

Seit einiger Zeit schon spürte ich oft einen Kloß im Hals, der mich irgendwie zu ersticken drohte. Ich wollte nach Hause, in die Sicherheit der Großstadt, wo es Ärzte und Krankenhäuser gab. Ich wollte nichts unternehmen, nirgendwohin gehen. Nicht einmal mit meinem Großvater in den Wald zum Pilze suchen, nach dem Regen, wenn die Dunstschwaden aus dem Boden aufstiegen und die Schwammerl besonders gut schossen. Noch heute ist mir der Duft der in frischer Butter geschwenkten Pfifferlinge gegenwärtig. Dazu gab es kleine Kartoffeln und Gurkensalat. Ich glaube, ich habe nie mehr etwas so Köstliches gegessen.

Aber in diesen Wochen hatte ich keinen Hunger. Ich war blass. „Das Madl schaut aber gar nicht gut aus“, befand die Schneiderin, die uns jedes Jahr ein neues Dirndlkleid anfertigte. Das zu hören erschreckte mich zutiefst. Man konnte mir also ansehen, dass ich krank war. Auch heute noch vertrage ich Sätze wie „Du siehst ein bisschen abgespannt aus“ oder „Hast zu abgenommen?“ nicht. Sie treffen mich tief und ich fühle mich sofort sehr schlecht. Auch Mitgefühlsäußerungen wie „Ach, du armes kleines Ding, du bist ja wirklich nicht zu beneiden“ waren und sind mir schlicht zuwider.

Auch während der Ferien in jenem Jahr gab es wieder einen Ausflug über den großen See. Ich weigerte mich, das Schiff zu betreten. Der Kapitän wurde gerufen. Gemeinsam mit meiner Mutter beförderte er mich an Bord. Dort saß ich dann auf einer Holzbank, weinend und verkrampft. Besorgte Mitreisende fragten nach, was denn das Madl habe. „Nur Angst“, zischte meine Mutter. Sie war sehr wütend auf mich.

Der Einzige, der viel Zeit mit mir verbrachte, war ihr Vater, mein Großvater. In seiner Gegenwart fühlte ich mich wohl und sicher. Oft saßen wir zusammen auf der kleinen Holzbank vor dem Haus. Er konnte Geschichten erzählen, die mich faszinierten, von langen Wintern beispielsweise, in denen der Schnee so hoch lag, dass man die Haustür nicht mehr öffnen konnte, von meiner Mutter, als sie ein kleines Mädchen war und jeden Tag zehn Kilometer in die nächste Dorfschule laufen musste. Oder von den Geheimnissen des großen Waldes, in dem es so viele Tiere und Pflanzen gab, von denen ich noch nie gehört hatte. Und wenn ich dann wieder das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen, weil der Kloß so drückte, nahm er mich in den Arm und sagte: „Schau her, um uns herum ist so viel Luft. Das ist für dich mehr als genug.“

Meine Großmutter hingegen war sehr schroff und ungehalten mit mir. Ich habe sie immer als streng und wenig liebevoll empfunden. Schon ihre Statur flößte mir Respekt ein. Sie war eine schlanke, großgewachsene Frau. Ihr dunkles Haar war in der Mitte gescheitelt und im Nacken zu einem straffen Knoten gedreht. Sie trug stets dunkle lange Kleider. In diesem Sommer ließ sie mich gänzlich links liegen. Und immer, wenn irgendwelche Unternehmungen anstanden, sagte sie: „Das Dirndl bleibt dahoam.“

Ich besitze noch einige wenige Fotos aus jener Zeit. Zum Fotografieren fuhren wir in die nächste Kreisstadt, frisch gebadet, in unseren schönsten Kleidern, mit großen Schleifen im Haar. Manchmal betrachte ich heute das Gesicht meiner Großmutter und suche nach Ähnlichkeiten mit mir. Es gibt sie. Die ausgeprägten Wangenknochen etwa, oder die kleinen Fältchen über der Oberlippe.

Angstkind

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